Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland:
Mittwoch. 30. Mai 1990. Nr. 124 / Seite 3
(Dieses Thema gab später dem Buch von Ota Filip den Titel:
"Die stillen Toten unterm Klee".
Verlag Langen Müller München 1992. ISBN 3-7844-2417-1)

Die stillen Toten unterm Klee bei Pohrlitz.
Auf den Spuren des Brünner Todesmarsches
Text und Fotos von Ota Filip

Einige hundert der totgeschwiegenen Toten aus Brünn bekommen ihre vergessene Geschichte zurück. In der letzten Ausgabe der Brünner Untergrundzeitschrift "Mitteleuropa" vor der sanften tschechoslowakischen Revolution im Herbst 1989 berichtet Josef Podsenik, im Mai 1945 ein führendes Mitglied des Brünner Nationalausschusses, von 1946 bis 1948 Oberbürgermeister von Brünn, über die Vorgeschichte der wilden Vertreibung der Deutschen aus der mährischen Landeshauptstadt am 30. Mai 1945 [Fronleichnamstag].

Fünfundvierzig Jahre später bin ich nach Brünn gefahren, um mit dem ehemaligen Brünner Oberbürgermeister darüber zu sprechen. Erst dort habe ich erfahren, daß Josef Podsednik seit einem halben Jahr tot ist. Ich war also, was die Vorgeschichte des Brünner Todesmarsches nach Pohrlitz angeht, auf seine "Chronik meines Lebens" und auf Aussagen von drei ehemaligen Mitgliedern des Brünner Nationalausschusses aus dem Jahr 1945 angewiesen. Gesprächig waren sie nicht. Kein Wunder: alle drei waren am 30. Mai 1945 auf der Landstraße Nr. 52 zwischen Brünn und Pohrlitz als junge "Revolutionäre Gardisten" und "Partisanen" dabei, als Frauen, die nicht mehr weitergehen konnten, nach einem Genickschuß im Straßengraben starben, als erschöpfte alte Männer zu Tode getrampelt wurden.

Im Jahr 1944 lebten in Brünn 60 000 Deutsche. Als im März 1945 die Front näherkam, verließen 40 000 Deutsche die Stadt: 20 000 oder 25 000 alte Männer, Frauen, Kinder und Antinazis blieben dort, auch nachdem die Rote Armee nach schweren Kämpfen am 26. April 1945 Brünn erobert und besetzt hatte. Den ersten verhängnisvollen Fehler beging der Nationalausschuß Anfang Mai 1945, als er die Überwachung von dreihundert gefangenen Nazis, die vor Gericht gestellt werden sollten, ehemaligen politischen Häftlingen übertrug, die erst einige Tage zuvor aus deutschen Konzentrationslagern und aus Gefängnissen der Gestapo nach Brünn zurückgekehrt waren. Mitte Mai erreichten den Brünner Nationalausschuß Berichte über schreckliche Zustände in den Brünner Internierungslagern. Josef Podsednik inspizierte mit einem Mitglied des Nationalausschusses, Dr. Lekavy, alle Lager, in denen sich gefangene Deutsche befanden. Überall wurden die beiden Mitglieder des Brünner Nationalausschusses von den ehemaligen politischen Häftlingen, die sich "Revolutionäre Gardisten" nannten, bedroht und als Verräter an der tschechischen Sache beschimpft.

Aufgrund des Berichtes von Josef Podsednik über die katastrophalen Zustände in den Internierungslagern für Deutsche beschloß der Brünner Nationalausschuß Mitte Mai 1945, die Wachmannschaften auszuwechseln und die Lager unter das Kommando von Polizeibeamten zu stellen. Diese zu spät getroffene Entscheidung hatte verhängnisvolle Folgen. Die aus ihrem freiwilligen Dienst entlassenen politischen Häftlinge sahen sich um den Lohn ihrer revolutionären Verdienste gebracht und begannen umso heftiger die Vertreibung aller Deutschen aus der Stadt zu fordern. Verbündete fanden sie in den Arbeitern des Brünner Rüstungswerken Zbrojovka. Aus heutiger Sicht war es ein absurdes Bündnis: Die politischen Häftlinge, die unter den Nazis in Konzentrationslagern oder in Gestapo-Gefängnissen gelitten haben, konnten damals nicht wissen. daß die Arbeiter des Rüstungswerkes Zbrojovka noch Anfang April 1945, zwei Wochen, bevor die Rote Armee die Stadt eroberte, für die Nazis am Fließband Waffen hergestellt hatten.

"Am 20. Mai 1945 war der Nationalausschuß in der deutschen Frage unter starken Druck der Öffentlichkeit geraten. Wir haben also beschlossen, das Problem der Deutschen in der Stadt in einer Sondersitzung zu lösen", schreibt Josef Podsednik in seinen Memoiren. Er irrt nur im Datum: Der Nationalausschuß behandelte die Frage der Deutschen erst am 29. Mai 1945. Alles andere stimmt: Den Vorsitz führte Josef Podsednik, denn der Vorsitzende des Nationalausschusses, Matula, war mit einem führenden Polizeibeamten und Offizieren der Armee zu einer mehrtägigen Besprechung nach Prag gereist. Auch dies wurde den Deutschen zum Verhängnis. Als sich am 30. Mai 1945 der Brünner Todesmarsch in Richtung österreichische Grenze in Bewegung setzte, waren leitende Polizeibeamte und führende Offiziere der tschechoslowakischen Armee, die den Marsch hätten aufhalten können, nicht in der Stadt.

Ein Abgeordneter der tschechischen national-patriotischen Partei schlug dem Nationalausschuß vor, alle 20 000 oder 25 000 Brünner Deutsche (die genaue Zahl wußte keiner zu nennen), die noch in ihren Wohnungen lebten, in Schulen zu internieren, sie zu verhören und zu überprüfen. Bevor es aber zu einer Aussprache über den Vorschlag kam, meldete sich der kommunistische Abgeordnete Frantisek Chlup zu Wort und teilte dem Nationalausschuß mit:

"Es hat keinen Sinn mehr, sich mit der Frage der Deutschen zu beschäftigen, denn eben habe ich diese Nachricht bekommen: Der Vorsitzende des Nationalausschusses, Matula, ist aus Prag nach Brünn zurückgekommen und verhandelt im Gebäude des Polizeipräsidiums mit den Arbeitern des Rüstungswerkes Zbrojovka über die Abschiebung aller Deutschen aus der Stadt". Eine Stunde später erschien im Sitzungssaal des Rathauses der Vorsitzende Matula und teilte den Abgeordneten mit: "Der Polizeipräsident von Brünn, Dr. Babak, hat die Forderung der Arbeiter des Rüstungswerkes Zbrojovka nach einer wilden Abschiebung der Deutschen aus Brünn zurückgewiesen, er hat sie auch ausdrücklich verboten."

Der Nationalausschuß nahm diese Mitteilung mit sichtlicher Erleichterung an: die für die Ordnung in Brünn Zuständigen fuhren schnell nach Prag zurück. Das Problem der Deutschen schien für diesen Tag und für die nächsten Tage erledigt. Nach etwa zwei Stunden ließ aber der Vertreter der Arbeiter des Rüstungswerkes Zbrojovka, der Abgeordnete Kapoun, den Nationalausschuß wissen: Wir, die Arbeiter des Rüstungswerkes Zbrojovka, nehmen die Abschiebung aller Deutschen aus Brünn selbst in die Hand. Alle Deutschen haben sich morgen, am 21. Mai 1945 – Josef Josef Podsednik irrt, aber auch diesmal nur im Datum, denn die Abschiebung der Brünner Deutschen und der Todesmarsch begannen am 30. Mai 1945 – um sechs Uhr morgens mit Handgepäck im Altbrünner Klostergarten bei der Revolutionären Garde zu melden.

Am Fest Fronleichnam
Am 30. Mai 1945 um acht Uhr setzte sich der Zug von 20 000 oder 25 000 Deutschen, vorwiegend alte Männer, Frauen und Kinder, aus dem Garten des Augustinerklosters in Richtung Österreich in Bewegung. Die Zahl der bewaffneten "Revolutionären Gardisten", "Partisanen" und Arbeiter des Rüstungswerkes Zbrojovka, die den Zug bewachten, schätzen Zeugen auf 150 bis 200 Personen.

Der einzige Deutsche, der in Brünn zurückbleiben konnte, war der Naturwissenschaftler Gregor Johann Mendel. Vom Sockel seiner Statue im Klostergarten, in dem er seine weltberühmten Kreuzungsversuche mit Pflanzen machte, sah er seine Landsleute Brünn durch die Kreuzgasse in Richtung Süden verlassen. Um neun Uhr läuteten in Brünn die Glocken zum Fest Fronleichnam. Die Spitze des Zuges der mit Gewalt vorangetriebenen Deutschen, der sich zehn Kilometer hinter Brünn in einen Todesmarsch verwandeln sollte, erreichte den Brünner Zentralfriedhof. Die Hitze wurde unerträglich.

Am nächsten Tag, am Montag dem 31. Mai 1945, kam in das Brünner Rathaus eine Schreckensnachricht nach der anderen: In den Straßengräben entlang der Landstraße von Brünn nach Pohrlitz lägen erschöpfte oder tote Menschen. Josef Podsednik setzte sich mit seinem Stellvertreter Dr. Lekavy ins Auto und fuhr in Richtung Pohorlitz los. Er schreibt in seinen Memoiren: "Entlang der Landstraße nach Pohrlitz sahen wir keine Deutschen, nur ab und zu lagen im Straßengraben zurückgelassene Koffer oder Rucksäcke. Erst am Nordrand von Pohrlitz sahen wir einige Deutsche von bewaffneten Arbeitern der Zbrojovkawerke bewacht liegen. Wir konnten jedoch nichts tun, denn wir hatten keine Vollmacht, und außerdem wußten wir zu gut, daß wir uns gegen die sogenannten "Revolutionären Gardisten" nicht durchgesetzt hätten.

Josef Kratochvil, 1945 Offizier der tschechoslowakischen Armee, und sein Bruder Dr. Antonin Kratochvil, beide aus Brünn, fuhren am 30. Mai 1945 nachmittags mit einem Motorrad auf der Landstraße Richtung Pohrlitz und sahen, was Josef Podsednik am 31. Mai vormittags entweder nicht gesehen hatte oder nicht hatte sehen wollen: tote alte Männer, Frauen und Kinder im Straßengraben, vergewaltigte Frauen. Josef Kratochvil, in der Uniform eines Offiziers der tschechoslowakischen Exilarmee aus England, konnte einige der "Revolutionären Gardisten" an Grausamkeiten hindern, aber er konnte nicht überall sein. Am Abend gab er auf, kehrte mit seinem Bruder nach Brünn zurück und erstattete seinem Kommandanten Meldung. Der Major der tschechoslowakischen Exilarmee aus England zuckte mit den Schultern: "Verlangen Sie von mir, gegen die verrückten Gardisten und Partisanen auf der Landstraße nach Pohrlitz einen privaten Krieg zu führen?"

"Über 1700 alte Männer, Frauen und Kinder sind an Fronleichnam 1945 auf dem Todesmarsch zwischen Brünn und Pohrlitz ums Leben gekommen" sagte mir ein Mann, der nicht genannt werden will, 1945 Mitglied des revolutionären Nationalausschusses. Nach diesen Worten wurde er verlegen, kratzte sich am kahlen Kopf und fügte etwas verärgert hinzu: Es ist einmal geschehen. Tote soll man ruhen lassen."

Fünfundvierzig Jahre später, Mitte Mai 1990, fuhr ich mit dem Auto die Landstraße von Brünn nach Pohrlitz. Ich suchte Zeugen des Todesmarsches. Im Dorf Laatz [Ledce] begegnete ich einer alten Frau. Im Straßengraben mähte sie für ihre Kaninchen Gras, Löwenzahn und Brennessel.

"Ob ich mich an die Deutschen im Mai 1945 erinnere? Das kann kann man nicht vergessen", sagte sie. "Als sie die Landstraße von Brünn her wie Vieh, ja wie Vieh, getrieben wurden, kochte ich gerade für unser Schwein Kartoffeln. Den ganzen Kessel hab ich an die hungrigen Menschen verteilt. Und meine Freundin, die Anna, sie lebt in Nummer 22, hat frisches Wasser gebracht. Aber diese jungen Kerle mit Gewehren haben uns ins Haus gejagt. Die ganze Nacht hörten wir in der alten Scheune neben der Landstraße die, die nicht mehr gehen konnten – es müssen an die hundert gewesen sein – weinen und um Hilfe schreien. Ab und zu fiel ein Schuß. Und in der Morgendämmerung fuhren sie mit zwei Lastern die Toten aus der Scheune weg. Wohin? Naja, heute kann ich es Ihnen ja sagen: Wenn Sie in Richtung Pohrlitz fahren, dann steht rechts im Feld ein Kreuz. Ein gewisser Jacob Haschka ließ es vor fast 200 Jahren errichten. Und rund um das Kreuz, da liegen sie. Fragen Sie mich nicht wie viele. Man hat sie damals nicht gezählt, und heute will von diesen Toten auch keiner wissen.

Unter diesem Kreuz an der Landstraße 52 sollen hundert Deutsche aus Brünn ruhen.pohrlitz03-1.jpg (4539 Byte)   Das Kreuz ist nicht zu übersehen. Es steht zehn Meter vom Straßenrand entfernt. In diesem Jahr wächst auf dem Feld um das Kreuz Mais. Der das Feld beackerte und den Mais säte, gab sich Mühe und machte um das Kreuz links und rechts einen großen Bogen. Ich scheuchte links vom Kreuz ein Fasanenweibchen auf: sie saß hier in ihrem Nest auf drei Eiern. Der große braune Vogel umflatterte meinen Kopf, er schrie, er stellte sich verletzt und wollte mich von seinem Nest fortlocken. Ein Mann auf einem roten Moped blieb am Straßenrand stehen und schrie mich an: "Hej, was suchen Sie? Hier ist überhaupt nichts mehr zu finden, vielleicht nur ein paar Knochen. Alles wurde schon vor Jahren ausgegraben und weggeschafft" – "Wohin?" – "Weiß ich nicht, es ist mir auch egal", antwortete er, gab Gas und fuhr in Richtung Brünn weiter.

In Pohrlitz, wo am 1. Juni 1945 in der Lagerhalle rechts von der Landstraße Nr. 54 nach Znaim das große Sterben begann, sprach ich mit Herrn Janousek, dem Fotografen, der bis zu seiner Pensionierung Stadtchronist gewesen war. "1949 mußten wir die alte Chronik der Polizei übergeben und eine neue schreiben", sagte er mir. "Wenn Sie mich nach den Deutschen aus Brünn fragen, die unterwegs nicht gestorben sind und es geschafft haben, bis nach Pohrlitz zu kommen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Die sind hier wie die Fliegen gestorben, ohne ärztliche Hilfe, ohne Pfarrer."

Herr Janousek schickte mich zum Pfarrer Karel Mostek. Pfarrer Mostek, der zwanzig Jahre Berufsverbot hatte, hat in einer Predigt im April 1990 die 800 toten Deutschen erwähnt, die in der Stadt an Hunger, Erschöpfung und an Ruhr starben. Er predigte Versöhnung mit den Deutschen und sprach den Leuten, wie man in Mähren sagt, ins Gewissen. In den nächsten Tagen bekam Pfarrer Mostek anonyme Drohbriefe; alle waren in Pohorelice aufgegeben. "Die Leute hier sind noch nicht reif für die volle Wahrheit über die grausame Vertreibung der Deutschen, sie wollen davon nichts wissen, sie verdrängen immer noch ihre Geschichte", sagte er mir. "Bitte verstehen Sie mich: Meine Kirche wäre fast zusammengestürzt, so kümmere ich mich darum, daß sie repariert wird. Das soll nicht bedeuten, daß mir die toten Deutschen egal sind. Aber dennoch: Mehr als die Toten hinter der Stadt brauchen mich Menschen, die in der Stadt leben."

Die von der Pfarrei geführte Sterbematrikel wurde 1949 von der Geheimpolizei beschlagnahmt: wo sie sich heute befindet, wußte der Pfarrer nicht. Aber er gab mir einen guten Rat: "Herr Horky wohnte damals 1945 in Pohrlitz, und er weiß über die Deutschen alles."

Herr Alois Horky verkauft vormittags Gas: ich konnte ihn erst nachmittags sprechen. "Sie haben ein Auto, wir werden also ein wenig spazierenfahren", sagte er, und wir fuhren auf der Landstraße Nr. 52 in Richtung Nikolsburg [Mikulov] los. Erst nach einer Weile fragte er mich: "Sie wollen also wissen, wo die 800 Deutschen begraben liegen, die in der Lagerhalle gestorben sind?" Zweihundert Meter hinter dem letzten Gebäude des landwirtschaftlichen Forschunginstituts, sagte Herr Alois Horky: "Bleiben Sie stehen. Hier ist es."

Hinter einer Akazie am Straßenrand liegen achthundert Opfer des Todesmarsches.pohrlitz03-2.jpg (4366 Byte) Ich blieb stehen, wir stiegen aus dem Auto: am Straßenrand sah ich einen sterbenden Akazienbaum und dahinter ein Kleefeld. "Fällt Ihnen nichts auf?" fragte Herr Horky. Nein, es war mir nichts aufgefallen. Nur die Stille war stiller als sonst, aber kein Wunder, es war Samstagnachmittag. "Schauen Sie sich das Kleefeld genau an." Ich schaute mir das Feld genauer an und erkannte im hellen Grün ein dunkelgrünes Rechteck. Da liegen sie", sagte Herr Horky. Die Akazienbäume links und rechts hatten schon Blätter und blühten, nur der Baum vor dem dunkelgrünen Rechteck war fast kahl.

"Es gibt ein Verzeichnis der Toten. Die Tochter des Totengräbers hat es", sagte Herr Horky leise und erzählte mir noch leiser die Geschichte des Totengräbers von Pohrlitz: Herr Julius Hofman, er ist vor einem Jahr gestorben, war ein frommer Christ. Als ihm am 3. Juni 1945 die Revolutionären Gardisten befahlen, die ersten Toten aus der Lagerhalle in der Nacht zu holen und für alle Fälle ein Massengrab am südöstlichen Stadtrand zu schaufeln, tat Herr Hofman scheinbar wie befohlen. Aber er, der gute Christ, schaufelte kein Massengrab. Herr Hofman machte sich die Mühe und grub für jeden Toten ein Einzelgrab, wie es sich gehört.

Eine Seite aus dem Totenbuch, das der Totengräber von Pohrlitz, Julius Hofman, im Juni 1945 schrieb
pohrlitz03-3.jpg (14569 Byte) Zwei Stunden später hielt ich das Verzeichnis von 439 Toten, in Schönschrift vom Totengräber Julius Hofman im Monat Juni 1945 geschrieben, in den Händen. In der ersten Nacht begrub Herr Julius Hofman in der Gräbergruppe 1, erste Reihe, die ersten acht Toten: Leopold Wolf aus Brünn, Franz Vorel aus Brünn, einen unbekannten Mann, Clementine Woland aus Brünn, eine unbekannte Frau, gestorben am 1. Juni, einen unbekannten Mann und noch eine unbekannte Frau. Falls irgendwann die Gräber am Südostrand von Pohrlitz Namen bekommen, wird man die meisten Toten nach dem Verzeichnis des Totengräbers Julius Hofman identifizieren können. Er führte sein Buch genau: Ein jeder von den 439 Toten bekam in den Gräbergruppen I bis IV sein Einzelgrab und seine Nummer. Im Totenbuch ist, soweit Julius Hofman es erfahren konnte, der Name des Toten, sein Geburtsdatum, die Anschrift und der Tag seines Todes vermerkt. Alle Toten waren alte Männer, Frauen oder Kinder. Kein einziger Mann war im wehrtüchtigen Alter oder auch nur, im Frühling 1945, für den Volkssturm zu gebrauchen.

Zwölf Blätter fehlen
Mein Vater hätte es nicht geschafft, allein so viele Gräber zu schaufeln", erzählte mir 45 Jahre später seine Tochter; "ein Verwandter half ihm dabei. Er steckte sich bei den toten Deutschen mit Ruhr an und starb. Aber es hat sich immer jemand gefunden, der meinem Vater half".

Im Totenbuch des Totengräbers Julius Hofman fehlen zwölf Blätter. Auf jeder Seite hat Herr Hofman acht Tote vermerkt. Man kann also annehmen, daß in seinem Totenbuch 96 Tote fehlen. Haben die 12 Seiten Julius Hofmans Enkelkinder herausgerissen, die auf der ersten und letzten Seite mit Bleistift eine Blume, einen Schneemann und den Zug nach Branowitz [Vranovice] gemalt haben? Achthundert Deutsche sollen auf dem Todesmarsch aus Brünn in Pohrlitz gestorben sein. 439 Tote, darunter viele unbekannte, hat der Totengräber in seinem Totenbuch verzeichnet, mindestens 96 Namen hätten auf den 12 herausgerissenen Seiten stehen können. Herr Julius Hofman konnte also in seinem geheim geschriebenen Totenbuch 535 Deutsche aufgeschrieben haben. Wenn am südöstlichen Stadtrand von Pohrlitz tatsächlich – und ich habe keinen Grund, Herrn Alois Horky nicht zu glauben – an die 800 Deutsche aus Brünn begraben liegen, dann mußte ich mich fragen: Wo ist das Verzeichnis der restlichen 300 Toten? Gibt es außer dem Totenbuch von Julius Hofman in Pohrlitz noch eine weitere Sterbematrikel aus dem Jahr 1945? Es gibt sie.

Ich habe die offiziell im Jahr 1981 auf Weisung des Prager Innenministers angefertigte Sterbematrikel der Toten aus dem Internierungslager im Büro des Nationalausschusses in Pohrlitz gelesen: ich habe 303 Tote gezählt. Alle starben im Juni 1945 an Herzschlag, verbunden entweder mit Altersschwäche oder mit Ruhr. Keiner von den 303 soll an Hunger, Erschöpfung oder – Gott bewahre – durch einen Genickschuß, durch Selbstmord aus Verzweiflung oder, wie mindestens sieben deutsche Frauen, nach mehrfacher Vergewaltigung ums Leben gekommen sein. Sogar bei einem unbekannten zweijährigen Kind steht als Todesursache: Altersschwäche.

Die absurde Geschichte dieses offiziellen Totenbuches erzählte mir die pensionierte Archivarin der Stadt Pohrlitz. Frau Anna Peterkova. Im Jahr 1958 tauchten im Archiv des Nationalausschusses plötzlich 303 Totenscheine von Brünner Deutschen aus dem Jahr 1945 auf. Frau Peterkova ordnete sie und wollte für die Toten aus dem Internierungslager in Pohrlitz eine Sterbematrikel anlegen. Die Geheimpolizei war jedoch schneller. Sie beschlagnahmte alle Unterlagen, die sie wohl selbst produziert und der Archivarin untergeschoben hatte. Frau Peterkova wurde streng verboten, die 303 toten Deutschen und die verdächtigen Totenscheine auch nur zu erwähnen. Erst im Jahr 1981 kamen die 1958 in Pohrlitz beschlagnahmten Totenscheine mit der Anordnung des Prager Innenministers zurück, die Sterbematrikel unverzüglich zu schreiben und auch Westdeutschen. falls sie eine schriftliche Bewilligung des Innenministers vorlegten, Einsicht in das Buch zu gewähren. Seit 1981 aber hat die von Frau Peterkova sorgfältig angelegte Sterbematrikel von 303 Deutschen aus Brünn niemand sehen wollen, weder ein Deutscher aus der Bundesrepublik noch sonst jemand.

Mir wurde klar: Herr Julius Hofman hat im Juni 1945 ohne Zweifel 439, wahrscheinlich 535 an Hunger, Erschöpfung, an Folter und an Ruhr gestorbene Deutsche begraben und in seinem Totenbuch sorgfältig, sorgfältiger ging es in der damaligen Zeit wohl nicht, vermerkt. Nach seinem unvollständig erhaltenen Totenbuch hat Herr Julius Hofman den letzten Toten am 29. Juni 1945 begraben, wahrscheinlich jedoch, da in seiner geheim geführten Sterbematrikel 12 Seiten fehlen, fünf oder sechs Tage später. Die Sterbematrikel, die heute auch ohne Bewilligung im Büro des Nationalausschusses in Pohrlitz jeder sehen kann, ist wahrscheinlich eine Fortsetzung, bestimmt jedoch eine Ergänzung des Totenbuches von Herrn Julius Hofman.

Die achthundert vergessenen Toten aus dem Jahr 1945 unterm Klee des Jahres 1990 sind still. Frau Vera Zabkova, die heute im Nationalausschuß von Pohrlitz die Sterbematrikel von 303 Deutschen betreut, fällt es schwer, über den grausamen Todesmarsch von 20 000 oder mehr Deutschen aus Brünn und über das große Sterben in Pohrlitz zu reden.

Als die Deutschen auf der Landstraße von Brünn und in den Pohrlitzer Lagerhallen starben oder ermordet wurden, war Frau Zabkova noch nicht geboren. Als in den vergangenen Jahren westdeutsche Touristen immer wieder nachts heimlich auf dem Feld hinter dem landwirtschaftlichen Forschungsinstitut und an den Außenwänden der Lagerhallen Kerzen anzündeten und Kränze mit deutschen Aufschriften niederlegten, schämte sie sich.

Frau Teresa Maliskova, die im Kiosk auf der Hauptstraße Zeitungen und Zigaretten verkauft, war im Mai und im Juni 1945 als junges Mädchen in Pohrlitz. "Es war schrecklich", sagte sie mir "es war so schrecklich, daß ich davon überhaupt nicht reden will. Ich will es ganz einfach vergessen."

"Kann man achthundert unschuldig zu Tode gequälte, ermordete Menschen vergessen?" Frau Teresa Maliskova sah mich böse an und sagte mit heiserer Stimme: "Sie sind ganz einfach gestorben, an Ruhr sind sie draufgegangen. Fünfundvierzig Jahre danach habe ich schließlich ein Recht, endlich meine Ruhe zu finden."

Die Ruhe der achthundert toten Deutschen unter dem blühenden Klee ist nach fünfundvierzig Jahren gefährdet: Die neue vierspurige Schnellstraße, die Pohrlitz von der Plage des Durchgangsverkehrs nach Wien und aus Wien nach Brünn befreien wird, soll über die Gräber führen.

Eine gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung der Vertreibung der Brünner Deutschen und ihres Leidensweges erschien im Jahre 1998 unter dem Titel
"Nemci ven!  Die Deutschen raus!"

Im Zeitungsbeitrag war immer nur "Pohorelice" geschrieben, mit einem Hatschek über dem r. Aber Pohrlitz war in der schrecklichen Zeit überall auch unter seinem deutschen Namen bekannt, denn etwa ein Drittel der rund 3600 Einwohner waren Deutsche. ML 2001-05-26

Ergänzung aus der Familie Lindenthal:
Bauer Hartwig Lindenthal berichtete: Er war mit der Familie von seinem Hof an der Thaya nahe Nikolsburg vertrieben worden und mußte im Überschwemmungsgebiet von Muschau in einer zusammengeholten Kolonne mit seinem l5jährigen Sohn für 7 gesprengte Straßenbrücken Ersatzdämme aufschütten. Von dort wurde er später durch schwerbewaffnete Tschechen nach Pohrlitz verschleppt in die Zuckerfabrik, die mittlerweile Todeslager am Rande des Brünner Todesmarsches geworden war. Dort lagen und starben auf dem nackten Betonfußboden hunderte Ruhrkranke. Er mußte die Toten, die steif wie Holzknüppel waren, auf einem Leiterwagen zu einem Panzergraben bringen, der ihr Massengrab wurde. Er beförderte täglich 60 bis 70 Tote. Schwärme von Schmeißfliegen schwirrten über den Leichen, und ihre Maden krochen in den Wunden der Sterbenden. Unter den Sterbenden fand er auch seine aus Brünn vertriebenen, vollkommen erschöpften Schwestern. Er fütterte sie mit seinem Brot, das er den Kraftlosen vorkaute; doch er konnte sie nicht retten. Er meint, daß in Pohrlitz an die zweitausend elend umgekommen sind.
Sein Bericht als Brief an seinen Neffen, meinen Vater, ist im vollen Wortlaut vorhanden.

Sein 15jähriger Sohn berichtete aus Muschau: Eines Mittags, Anfang Juni, kamen dann die Brünner, Frauen, Kinder, alte Männer, in Sechserreihen, von tschechischen Partisanen beidseitig brutal eskortiert, die Dorfstraße entlang. Hilfreiche Menschen, die Wasser und Brot reichen wollten, schlug und trat man wie Tiere. Die Zahl der Erschöpften war so groß, daß die Partisanen nicht alle erschlagen konnten. So wurden etliche in Häuser einquartiert, wo die Ansässigen für sie zu sorgen hatten. Auch verpflichtete man die noch verbliebenen Fuhrwerke zum Transport der kaum Gehfähigen. Ich fuhr damals das Gespann von Onkel Joseph, einen Ackerwagen, überfüllt mit klagenden, elenden Menschen. Gegen Mitternacht erreichte ich bei Nikolsburg die Grenze. Man filzte die Leute bis aufs Hemd und trieb sie dann dem österreichischen Schlagbaum zu. Ich wendete und jagte die stockdunkle Kaiserstraße zurück nach Muschau, panische Angst verfolgte mich, denn nicht jeder kam an.
Zwei, drei Wochen später mußten auch wir diesen Weg gehen, mit dem, was man gerade am Leibe trug.