Der folgende Text ist einer großen Sammlung von Familienbriefen entnommen, die das Wachsen der Familie Lindenthal in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts schildern:

Hier soll auch ein Brief wiedergegeben werden, der zwar unsere kleine Familie nicht so sehr, die Familie Lindenthal und die Deutschen insgesamt sehr ernst angeht. Onkel Hartwig Lindenthal, Halbbruder unserer Großmutter Ernesta Potuczek-Lindenthal, schreibt am 1. Januar 1947 einiges auf, was ihm im Herzen brennt. Die Urschriften der Briefe liegen vor.

Albshausen, den 1. Januar 1947

Mein lieber guter Neffe Ernest!

Deinen lieben Brief vom 13. 12. 1946 mit Dank erhalten.

Soeben kam auch eine Postkarte Deiner lieben Mutti.

Wegen meinem Ansuchen, um Rückführung von Facharbeitern aus der C.S.R, habe ich an Igi geschrieben, er möge sich näher erkundigen und zugleich was er unternehmen könnte der Rückführung von Gerhart. [Mit „Rückführung" meint er allerdings nicht die Rückkehr in die Heimat, sondern die Entlassung seiner Verwandten aus tschechischer Haft und Fron zurück in die Familie.]

Laut einem Pressebericht sind mit einem USA-General Verhandlungen in der CSR bezüglich der noch zurückgehaltenen 300000 deutschen Facharbeitern.

Von einem Schreiben, mit Anschrift von Lenchens Heimat kann ich mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich dürften damals schon verworrene Verhältnisse gewesen sein. Ich habe damals Marie, Rembrandt und 3 Kinder mit 2 Paar Gespannen mit einem Militärtroß von Muschau abgeschickt, und bei Mährisch Budweis sind wir von den Russen gefangen genommen worden, sind aber zum Glück wieder losgekommen. Es waren damals, alles nach russischem Muster, alles bereits in Kolonnen geteilt worden, getrennt nach Geschlechtern. Damals glaubte ich, nun wenn wir getrennt werden, sehen wir uns nimmer, doch in letzter Minute hieß es: alles fährt heim.

Nun ging die Fahrt fast unbehelligt bis nach Muschau. Der Hof war allerdings total ausgeplündert, obwohl Großmutter und Schwager auf dem Hofe verblieben war, es war 3 Wochen Front hier, ringsum lauter Schanzen und Gräben.

Wir dachten nun wieder für unsere Kinder den Hof in Gang zu bringen, doch sagte der damalige Bürgermeister, von jenen, die vor der Front geflohen waren, sind die Besitze beschlagnahmt. Maschinen, Geräte, Möbeln führte ich zum Zecher Josef nach Muschau und da ging erst recht der Hexentanz los. Nun nahmen uns die Tschechen ins Examen und bald waren alle unsere Habe beim Teufel.

Ich mußte nun im Großhof in der Mühle bei Brot und Wasser Säcke schleppen u.s.w., später bei Errichtung der Auffanglager in Pohrlitz für die Brünner Deutschen bin ich mit einigen Männern dorthin befohlen worden.

1200 Menschen waren in 4 Hallen untergebracht, auf dem Beton lagen Gesunde, Kranke, halbverhungerte Ruhrkranke, und Tote, alles ein furchtbares Durcheinander.

Bis zu 70 Toten täglich schleppten wir in zwei Schichten Tag und Nacht aus den Hallen.

Viele bekannte Brünner trug ich tot zum Abtrauergrab ///???///, auch meine Schwester Ricki, die alte Frau Kosteletzky, die reiche Frau Melion ///???///, Ob.Landesgerichtsrat Dr. Honsig und alle die Namen konnte ich mir nicht merken. Eines steht für immer fest: bereits 2000 sind in Pohrlitz verhungert, erschlagen oder durch andere Mißhandlungen elend, bei lebendigem Leibe von den Maden gefressen worden, bevor Menschen, eines ganz fürchterlichen und schrecklichen Tode starben. Viele Adelige, aus Holland, Italien, Slowakei u.s.w. Von einer holländischen Gräfin hatte ich eine Anschrift, doch in diesen Wirbeln ist selbe mir verloren gegangen.

Man könnte da Bände schreiben über die Zustände damaliger Austreibung von Deutschen aus der C.S.R. Ich hatte in den Hauptlagern über all freien Zutritt, zu Arzt, Krankenschwestern, habe so auch Medikamente für Schwester Heinrike und Grethe erhalten, die viele Tausende nicht erhalten konnten bekommen. Auch zu den Notküchen, die später errichtet wurden, hatte ich Essen herbeigebracht, doch konnten weder Ricki noch Grethe selbe vertragen, obwohl ich genügend Opium geben konnte u.s.w.

Also eine traurige und schaurige Zeit, bei der trotz allem Elend immer noch hart geblieben und auch bleiben mußte, denn sonst hätte man, wenn man in diesem Menschenjammer, und Gewimmer, und Todesgestöne arbeiten mußte, selbst zu Grunde gehen können. Es ist Gott zu danken, daß ich mich damals noch gesund erhalten konnte, denn vielen Menschen mußte Beistand geleistet werden und man ist tatsächlich zu einem Faktor in diesem Lager geworden, denn Drum und Dran und bei so viel tausend Menschen (hier sind viele Wörter unleserlich!) notwendig war, half kein Arzt, der Schwestern, und Menschen die Hilfe in ihrer Nothupten///???unleserlich/// Lindenthal! durch alle Hallen geschallt, und da hatte man recht müde Beine bekommen, bis der Abend kam.

Das Lager wurde nach ca 7 Wochen aufgelöst, und die Gesunden kamen auf die Dörfer verteilt, kranke kamen nach Frischau und Ginsburg bei Znaim und etliche 60 blieben bis zu ihrer Gesundung im Pohrlitzer Krankenhaus und ganz schwere Fälle blieben noch in einer Holzbaracke bis sie starben und mit der Auflösung des Krankenhauses hatte ich somit meinen Dienst als beendet gesehen und bin dann kurzerhand mit einem Korb und einer Haue quer feld ein durch dick und dünn durch Sumpf und Wasser über alle Berge nach Österreich, wo ich Tante [Marie, seine Frau] und 3 Kinder angetroffen hatte. Nun ging es so durch 3 Monate Sucharbeit, bis wir alle in einem Bauernhause Arbeit und Brot fanden, und uns wieder sattessen konnten.

Unser Hof in Muschau, wie so viele hundert tausend deutscher Bauerngüter gehen dem fälligen Ruin, dem gänzlichen Verfall, daher Untergang entgegen. Auf den Äckern die Millionen KG Lebensgüter, für die Menschen und Tiere erbrachten, sind zu einer Unkenntlichkeit, zu einer öden Wüste geworden.

Es freut mich, daß Ihr nun von Friedrich auch schon Nachricht habet, denn es gibt dem Lebensinhalt eines Menschen neue Lebendigkeit und stärkt das mit Mühsal so schwer tragbare Leben von neuem. Ich wünsche der Augusta, Deiner lieben Schwester, daß er auch bald wieder käme, denn wo Menschen sich innig vereinten, und einer unerschütterlichen Treue begleiten lassen, das heißt, wo Krisenfestigkeit herrscht, dann geht es wieder einem höheren Ziele entgegen und trotz Not und Elend, doch wieder auch dann Freuden kommen, und diese wir nur einzig und allein in unseren Kindern erblicken.

Deine Bildchen, die zum Teil zur Ansicht nur sandtest, haben uns alle innige Freude bereitet, und sollten wir einmal Gelegenheit haben, von uns Bilder zu senden, werden wir es tun.

Die Bildchen zeigen, daß Ihr alle gesund und wohl seid, wir wünschen es Euch von Herzen.

Du schreibst auch wiederholte Male, was uns am meisten fehlt. Es ist ja so, daß uns allen Flüchtlingen bzw. Ausgewiesenen zum Allgemeinen alles eigentlich fehlt, und daher es so nimmt, wie es gerade ist, was man nicht hat, ist einfach nicht da, und findet sich mit seinem Schicksal ab, und dann ist es so, daß man lernt, Geduld haben, und von einem Tag auf den andern lebt.

Du schreibst wegen Schuhen, ja wie ist denn dies möglich bei heutiger Zeit und Du selbst die Sachen mit Deinen Lieben zu tragen hast, noch im Stande bist für andere zu sorgen, dies klingt wie ein Märchen. Es dürfte dies wohl keine Belastung noch Entblößung Deines Wenigen sein, denn ich müßte mir nachher bittere Vorwürfe machen.

Es ist nur so, daß man alles bezahlen kann, denn soviel verdienen wir immer.

Schuhgrößen 28 bis 30 d. ist Herwig

Tante Marie 40-42, vielleicht Männerschuhe 43-45, aber nur, wenn wir selbe bezahlen können.

Schluß fehlt.