17. Januar 2004, 02:26, Neue Zürcher Zeitung
Von Ebba D. Drolshagen, Frankfurt am Main und Oslo*
Das vertuschte Wissen
Wie mit diesem Baby, dessen bloße Existenz verdrängt wird, so verfuhr man in der Regel
mit den vielen Hunderttausenden, vielleicht Millionen von Kindern, die deutsche Soldaten
während des Zweiten Weltkriegs außerhalb von Deutschland zeugten. In den damals
besetzten Ländern weiß man sehr wohl um sie, spricht aber nicht über sie. Im
Nachkriegsdeutschland tauchen diese aus verpönten Verbindungen entsprungenen Kinder bis
etwa 1950 in Zeitungsartikeln auf, um dann mit vielen anderen Themen unter dem Teppich des
Schweigens zu verschwinden. In der Täter-Opfer-Perspektive der europäischen Historiker
haben sie keinen Platz. Am erstaunlichsten aber ist, daß sie im Bewußtsein der
deutschen Nachkommen der Wehrmachtssoldaten überhaupt nicht existieren
es sei denn, als Opfer von Vergewaltigungen. Daß die Eltern dieser Kinder sich geliebt
haben könnten, dieser Gedanke bleibt ausgerechnet jenen, die sich mit dem Slogan
Make love not war von der Elterngeneration absetzen wollten, offenbar bis
heute völlig fremd. Und doch konnten ihre Väter Soldat sein, ohne Frauen zu nötigen und
zu vergewaltigen, konnten als junge, attraktive Männer lieben und geliebt werden. Die
aufgeklärten Achtundsechziger reagieren in aller Regel geradezu verblüfft auf die
Eröffnung, daß sie in der Ukraine, in Brüssel oder Narvik Halbgeschwister haben
könnten daß sie mit ganz Europa buchstäblich blutsverwandt sind.
Der unerwartete Halbbruder
So war Winfred S. gänzlich unvorbereitet, als vor zwei Jahren sein Telefon klingelte und
eine Männerstimme am anderen Ende in ungelenkem Deutsch erklärte, er heiße Arne T.,
rufe aus Narvik an und sei sein Halbbruder. Winfred S. bezweifelte das, der kurz zuvor
verstorbene Vater hatte einen norwegischen Sohn nie erwähnt. Doch Arne schickte nicht nur
eine Kopie der Vaterschaftsanerkennung, sondern auch eine Atelierfoto, die Winfreds Vater
zusammen mit einer lachenden Frau und einem Säugling Arne zeigte. Nachdem
Winfred S. den Schock überwunden hatte, lud er seinen Halbbruder ein und fuhr später
selbst nach Narvik. Als jedoch bei einem dieser Treffen eine Verwandte scherzte, der Vater
könne während seiner Zeit in Rußland durchaus weitere Kinder gezeugt haben, verursachte
das betretenes Schweigen. Daran mochten weder sein deutscher noch sein norwegischer Sohn
denken. Soldaten und Sexualität das ist ein Thema voller Ambivalenz.
Vergewaltigungen und Soldatenromanzen gehören von jeher zum Krieg, aber amouröse
Abenteuer passen nicht in das Bild von Leid und Entbehrung. Zwischen 1939 und 1945 waren
etwa achtzehn Millionen deutsche Männer als Soldaten in nahezu allen europäischen
Ländern sowie in Libyen und Ägypten. Selbstverständlich kam es überall zu
Vergewaltigungen, aber wie die Angehörigen jeder Armee, die auf fremdes Territorium
vordringt, versuchten auch die Deutschen, mit den einheimischen Frauen anzubandeln. Und
selbst wenn es manchem heute unverständlich scheint: Bemerkenswert viele Frauen fanden
Gefallen am Feind und wandten sich ihm aus freien Stücken zu. Selbst in den
besetzten Gebieten im Osten, wo den Deutschen der Geschlechtsverkehr mit
Andersrassigen verboten war, entstanden Liebesbeziehungen. Manche Verbindungen
dauerten nur kurze Zeit, andere waren so ernsthaft, daß man von Heirat sprach.
Arische Richtlinien
Das weitere Schicksal dieser Kriegslieben wurde durch viele Faktoren bestimmt. Sehr
wichtig waren die rassischen Interessen, die die Nationalsozialisten allen voran
Heinrich Himmler, Reichsführer SS in dem jeweiligen Land verfolgten. Gern gesehen
waren intime Verbindungen mit den als arisch gepriesenen Frauen Nord- und Nordwesteuropas,
allen voran den Frauen des arischen norwegischen Brudervolks. Dabei ging es
ausschließlich um die Geburt möglichst vieler Kinder guten Blutes. Die
SS-Organisation Lebensborn erfaßte in Norwegen etwa 8000 Kinder, deren Mütter einen
Deutschen als Kindsvater angegeben und die Organisation als Schwangere um Hilfe gebeten
hatten. Entgegen einem zählebigen Mythos gab es nie Zuchtanstalten, in denen
ausgewählte Paare zur Zeugung eines Kindes zusammengeführt wurden. Alle
Lebensborn-Kinder entstanden auf altbewährte Weise. Der Lebensborn war dazu
da, werdende Mütter zum Austragen der Schwangerschaft zu ermutigen, sie zu unterstützen.
Die Deutschen waren bestrebt, solche Kinder zu registrieren, um nach Kriegsende Zugriff
auf sie zu haben. Die eiskalte Bürokratie, mit der Säuglinge als gutes
Rassematerial erfaßt wurden, erweist sich heute für Suchende als Segen. Die
norwegischen Lebensborn-Akten befinden sich noch immer in Oslo. Aus ihnen erfuhr Arne den
Heimatort seines Vaters, dort fand er auch die Vaterschaftsanerkennung.
Wenig verläßliche Zahlen
Diese Dokumente verzeichnen 8000 norwegische Wehrmachtskinder. Doch es gibt deren
vermutlich mindestens 12 000, da viele Schwangere aus den unterschiedlichsten
Gründen nicht erfaßt wurden. In anderen Ländern gab es nie vergleichbare Akten, die
meisten Schätzungen, von denen wir heute ausgehen, stammen dennoch aus Quellen des
Deutschen Reiches: 6000 Wehrmachtskinder sollen in Dänemark, 40 000 in Belgien,
50 000 in Holland, 800 auf Jersey geboren worden sein. Diese Zahlen müssen als
absolutes Minimum gelten. Wie wenig zuverlässig sie sind, zeigt sich an Frankreich:
Während die Nationalsozialisten von 80 000 deutsch-französischen Kindern ausgingen,
veranschlagt der französische Historiker Fabrice Virgili in einer neuen Forschungsarbeit
ihre Zahl auf bis zu 200 000. Davon ausgehend schätzt der Journalist Jean-Paul
Picaper, daß mindestens eine Million Franzosen die Wehrmachtskinder mit ihren
Kindern und Enkeln einen deutschen Vorfahren haben, der als Wehrmachtssoldat in
Frankreich stationiert war.[1] Während die nord- und westeuropäischen Wehrmachtskinder
bei den Nationalsozialisten mehr oder weniger erwünscht waren, galten die
deutsch-russischen Kinder zunächst dezidiert als rassisch unerwünscht. 1942,
nachdem sicher schon zahlreiche Kinder aus gemischten Verbindungen geboren worden waren,
begann ein Umdenken: Der Oberbefehlshaber der 2. Panzer- Armee ging von jährlich (!)
1,5 Millionen Wehrmachtskindern in Rußland aus. Er schlug vor, sie als wertvollen
Ersatz für die kriegsbedingt ausgefallenen Geburten zu erfassen und ihnen, analog
zur Praxis mit den Juden, neben ihren russischen Vornamen die Namen Friedrich
bzw. Luise zu geben.[2] Himmler korrigierte die Zahlen nach unten, ging aber
immer noch von mehreren hunderttausend Wehrmachtskindern in Rußland aus. Eine
systematische Erfassung der Geburten wurde ins Auge gefaßt, doch dazu sollte es nicht
mehr kommen.
Die Schande der Mütter
Eine Katalogisierung der Wehrmachtskinder funktionierte in Norwegen nur, weil
sehr viele Mütter daran mitwirkten, lockte doch Lebensborn die Schwangeren mit
substanziellen materiellen Hilfen. In der Sowjetunion hätten die meisten Frauen einer
solchen Erfassung vermutlich nicht zugestimmt, denn dort galt ein Verhältnis mit einem
Deutschen oder gar ein Kind vom Feind als Kollaboration. Nach dem wenigen zu urteilen, was
wir über die diesbezügliche Situation in der Sowjetunion wissen, wurden viele Frauen
mitsamt ihrem Kind nach Sibirien geschickt, eine unbekannte Zahl wurde liquidiert. Ein
ukrainisches Wehrmachtskind erzählt: Ich bin am 19. Februar 1945 geboren. Das
ist mein tatsächliches Geburtsdatum. Aber in der Geburtsurkunde ist der 15. Mai
eingetragen. Das wurde deshalb so arrangiert, um zu verheimlichen, wer mein wirklicher
Vater war, damit wir nicht nach Sibirien gehen mußten. Denn wenn ich erst im Mai geboren
wurde, hieß dies, daß ich bereits nach dem Abmarsch der Deutschen gezeugt wurde, also
kein Sohn eines Deutschen sein kann.[3] Zu einer Zeit, als uneheliche
Schwangerschaften generell geächtet waren, bedeutete ein Deutschenkind meist
eine persönliche Katastrophe, denn auch in West- und Nordeuropa bezichtigte man die
Deutschenmädchen der Kollaboration mit dem Feind. Viele Frauen verheimlichten
den Schwängerer, behaupteten, er sei ein ermordeter Widerstandskämpfer, oder schoben das
Kind einem Landsmann unter. Andere versuchten, es loszuwerden sei es
durch Abtreibung, sei es, indem sie es aussetzten oder zur Adoption freigaben. Einige
wenige wählten extreme Lösungen so gab es im dänischen Jütland ein
Kinderheim, von dem bekannt war, daß die Kinder dort verhungerten.
Aufwachsen mit einer schweren Hypothek
Aber die meisten Kinder überlebten und wuchsen bei ihren Müttern oder anderen Verwandten
auf. Wie erging es ihnen während des Krieges, wie bei Kriegsende, wie in den Jahren
seither? Diese Fragen sind rasch beantwortet: Wir wissen es nicht. Wer die wenigen
veröffentlichten Gespräche mit Wehrmachtskindern aus verschiedenen Ländern liest,
stößt auf immer dieselben Sätze: Man hat mich als Kind eines Deutschen beschimpft. Ich
wurde schikaniert, weil mein Vater ein Deutscher ist. Als wir in der Schule den Krieg
durchnahmen, habe ich mich geschämt. Es scheint, als habe man überall die
Geringschätzung der Deutschenmädchen und den Haß auf den deutschen
Besatzer-Vater an den Kindern ausgelassen.
Wiedergutmachung gefordert
Das war in Norwegen nicht anders, dort aber beschuldigen einige Nachkommen deutscher
Soldaten die sich dort Kriegskinder nennen den norwegischen Staat, sie vor
den haßrfüllten Übergriffen ihrer Landsleute nicht geschützt zu haben. Sie klagen auf
die Zahlung von Wiedergutmachung und sind entschlossen, vor den Europäischen Gerichtshof
in Straßburg zu ziehen. In einer ersten Reaktion hat der norwegische Ministerpräsident
Bondevik bereits vor einigen Jahren die Betroffenen um Entschuldigung gebeten. In einem
zweiten Schritt beauftragte die norwegische Regierung einige Wissenschafter damit,
Kindheit und Jugend der norwegischen Wehrmachtskinder zu erforschen. Somit versucht
Norwegen als einziges Land in Europa, möglicherweise der Welt, das Schicksal der
Feindeskinder im eigenen Land zu klären. Ein im Rahmen dieses
Forschungsprojekts veranstaltetes Seminar versammelte Ende letzten Jahres in Oslo die
kleine Schar jener Forscher, die in Europa zum Thema Kinder von
Besatzungssoldaten arbeiten. Es sind keine zwei Dutzend, über
Wehrmachtskinder forscht außerhalb von Norwegen ein halbes Dutzend.
Auffallend ist, daß keine Deutschen darunter sind.
Liebe und Liebe
Viele frühere Soldaten wissen nicht, daß sie während des Krieges ein Kind gezeugt
haben. Von denen, die es wußten, entschieden sich die meisten, es zu
vergessen. Doch es gibt Ausnahmen. Manche Väter kümmerten sich um ihr
uneheliches Kind; andere, die das nicht taten, verschwiegen es wenigstens ihrer Familie
nicht. Eine Dänin fand beispielsweise den Namen ihres Vaters auf einer Telefon-CD. Sie
rief an, es meldete sich eine ältere Frau. Kaum hatte die Dänin gefragt, ob Herr F. im
Krieg in Dänemark gewesen sei, rief die Frau am anderen Ende in den Raum hinein:
Komm mal her, hier ist deine Tochter aus Dänemark. Diese Tochter lebte mit
ihrer Mutter noch immer am selben Ort bei Kopenhagen, der Vater hätte sie also finden
können, wenn er gewollt hätte. Nun aber lud er sie zu einem Besuch ein. Als sie sich zum
ersten Mal gegenüberstanden, begrüßte er sie gerührt mit den Worten: Du bist das
Kind meiner Liebe. Sie sagte bitter: Von dieser Liebe habe ich nichts
gespürt.
* Ebba D. Drolshagen ist freiberufliche Autorin und Übersetzerin. Ihr Buch Nicht ungeschoren davonkommen. Die Geliebten der Wehrmachtssoldaten im besetzten Europa, Hamburg 1998, befaßt sich mit den nichtdeutschen Partnerinnen der Wehrmachtssoldaten.
1 Jean-Paul Picaper: Besatzungskinder. In: Airbag. www.glacis.org/Num0102-D/Num3D/S12-N3/s12-n3.html URL 10. Oktober 2003.
2 Rolf-Dieter Müller: Liebe im Vernichtungskrieg. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des Einsatzes deutscher Soldaten im Rußlandkrieg 1941-1944. In: Politische Gewalt in der Moderne. Hg. von F. Becker u. a., Münster 2003.
3 Manuskript der Fernsehdokumentation Liebe im Vernichtungskrieg. Die Frauen im Osten und die deutschen Besatzungssoldaten von Hartmut Kaminski, zitiert in Müller, a. a. O.
Weiterführende Beiträge der NZZ:
*Lebensborn
lebenslang
*Schattendasein der
Feindeskinder
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ML 2004-01-18