17. Januar 2004, 02:26, Neue Zürcher Zeitung
Schattendasein der Feindeskinder

Die Nachkommen der Wehrmachtssoldaten in den ehemals besetzten Ländern
Heute leben Hunderttausende, vielleicht über eine Million Wehrmachtskinder als Bürger zahlreicher Staaten in Europa. Ihr leiblicher Vater war zwischen 1939 und 1945 als Wehrmachtssoldat – als Feind – in ihr Heimatland gekommen und hatte dort mit einer einheimischen Frau ein Kind gezeugt. Solche Frauen versuchten zu vertuschen, wer der Vater ihres Kindes war.
Über das Schicksal dieser Kinder ist bis heute wenig bekannt.

Von Ebba D. Drolshagen, Frankfurt am Main und Oslo*
Im Sommer 1944 notiert Gertrude Stein in ihr Tagebuch: „Heute ist das Dorf aufgeregt, schrecklich aufgeregt weil man die Köpfe der Mädchen schert, die es während der Besatzung mit den Deutschen gehalten hatten.“ Was dann geschah, zeigt eine Fotoserie des Amerikaners Robert Capa. Eines der Bilder trägt den Titel „A Frenchwoman with her baby fathered by a German soldier, punished by having her head shaved after the liberation of the town, Chartres, August 18, 1944“. Das Bild zeigt eine Menschenmenge, die eine Geschorene durch die Straßen der Stadt treibt. Alle schauen auf diese junge Frau im hellen Kleid, sie aber scheint sich völlig auf den Säugling in ihren Armen zu konzentrieren. Er ist ein bébé boche, das Kind eines Deutschen, der unwiderlegbare Beweis ihrer Schande. Dieses eine Bild wurde zum Symbol dafür, wie die Bevölkerung der besetzten Länder jene Frauen behandelte, die zwischen 1939 und 1945 ein Verhältnis mit einem Deutschen gehabt hatten oder denen man das zumindest vorwarf. Doch obwohl die Foto unzählige Male abgedruckt wurde, richtete sich das Augenmerk nie auf das Kind. Es ist, als existiere es gar nicht.

Das vertuschte Wissen
Wie mit diesem Baby, dessen bloße Existenz verdrängt wird, so verfuhr man in der Regel mit den vielen Hunderttausenden, vielleicht Millionen von Kindern, die deutsche Soldaten während des Zweiten Weltkriegs außerhalb von Deutschland zeugten. In den damals besetzten Ländern weiß man sehr wohl um sie, spricht aber nicht über sie. Im Nachkriegsdeutschland tauchen diese aus verpönten Verbindungen entsprungenen Kinder bis etwa 1950 in Zeitungsartikeln auf, um dann mit vielen anderen Themen unter dem Teppich des Schweigens zu verschwinden. In der Täter-Opfer-Perspektive der europäischen Historiker haben sie keinen Platz. Am erstaunlichsten aber ist, daß sie im Bewußtsein der „deutschen“ Nachkommen der Wehrmachtssoldaten überhaupt nicht existieren – es sei denn, als Opfer von Vergewaltigungen. Daß die Eltern dieser Kinder sich geliebt haben könnten, dieser Gedanke bleibt ausgerechnet jenen, die sich mit dem Slogan „Make love not war“ von der Elterngeneration absetzen wollten, offenbar bis heute völlig fremd. Und doch konnten ihre Väter Soldat sein, ohne Frauen zu nötigen und zu vergewaltigen, konnten als junge, attraktive Männer lieben und geliebt werden. Die aufgeklärten Achtundsechziger reagieren in aller Regel geradezu verblüfft auf die Eröffnung, daß sie in der Ukraine, in Brüssel oder Narvik Halbgeschwister haben könnten – daß sie mit ganz Europa buchstäblich „blutsverwandt“ sind.

Der unerwartete Halbbruder
So war Winfred S. gänzlich unvorbereitet, als vor zwei Jahren sein Telefon klingelte und eine Männerstimme am anderen Ende in ungelenkem Deutsch erklärte, er heiße Arne T., rufe aus Narvik an und sei sein Halbbruder. Winfred S. bezweifelte das, der kurz zuvor verstorbene Vater hatte einen norwegischen Sohn nie erwähnt. Doch Arne schickte nicht nur eine Kopie der Vaterschaftsanerkennung, sondern auch eine Atelierfoto, die Winfreds Vater zusammen mit einer lachenden Frau und einem Säugling – Arne – zeigte. Nachdem Winfred S. den Schock überwunden hatte, lud er seinen Halbbruder ein und fuhr später selbst nach Narvik. Als jedoch bei einem dieser Treffen eine Verwandte scherzte, der Vater könne während seiner Zeit in Rußland durchaus weitere Kinder gezeugt haben, verursachte das betretenes Schweigen. Daran mochten weder sein deutscher noch sein norwegischer Sohn denken. Soldaten und Sexualität – das ist ein Thema voller Ambivalenz. Vergewaltigungen und Soldatenromanzen gehören von jeher zum Krieg, aber amouröse Abenteuer passen nicht in das Bild von Leid und Entbehrung. Zwischen 1939 und 1945 waren etwa achtzehn Millionen deutsche Männer als Soldaten in nahezu allen europäischen Ländern sowie in Libyen und Ägypten. Selbstverständlich kam es überall zu Vergewaltigungen, aber wie die Angehörigen jeder Armee, die auf fremdes Territorium vordringt, versuchten auch die Deutschen, mit den einheimischen Frauen anzubandeln. Und selbst wenn es manchem heute unverständlich scheint: Bemerkenswert viele Frauen fanden Gefallen am „Feind“ und wandten sich ihm aus freien Stücken zu. Selbst in den besetzten Gebieten im Osten, wo den Deutschen der „Geschlechtsverkehr mit Andersrassigen“ verboten war, entstanden Liebesbeziehungen. Manche Verbindungen dauerten nur kurze Zeit, andere waren so ernsthaft, daß man von Heirat sprach.

Arische Richtlinien
Das weitere Schicksal dieser Kriegslieben wurde durch viele Faktoren bestimmt. Sehr wichtig waren die rassischen Interessen, die die Nationalsozialisten – allen voran Heinrich Himmler, Reichsführer SS – in dem jeweiligen Land verfolgten. Gern gesehen waren intime Verbindungen mit den als arisch gepriesenen Frauen Nord- und Nordwesteuropas, allen voran den Frauen des „arischen norwegischen Brudervolks“. Dabei ging es ausschließlich um die Geburt möglichst vieler „Kinder guten Blutes“. Die SS-Organisation Lebensborn erfaßte in Norwegen etwa 8000 Kinder, deren Mütter einen Deutschen als Kindsvater angegeben und die Organisation als Schwangere um Hilfe gebeten hatten. Entgegen einem zählebigen Mythos gab es nie „Zuchtanstalten“, in denen ausgewählte Paare zur Zeugung eines Kindes zusammengeführt wurden. Alle „Lebensborn-Kinder“ entstanden auf altbewährte Weise. Der Lebensborn war dazu da, werdende Mütter zum Austragen der Schwangerschaft zu ermutigen, sie zu unterstützen. Die Deutschen waren bestrebt, solche Kinder zu registrieren, um nach Kriegsende Zugriff auf sie zu haben. Die eiskalte Bürokratie, mit der Säuglinge als „gutes Rassematerial“ erfaßt wurden, erweist sich heute für Suchende als Segen. Die norwegischen Lebensborn-Akten befinden sich noch immer in Oslo. Aus ihnen erfuhr Arne den Heimatort seines Vaters, dort fand er auch die Vaterschaftsanerkennung.

Wenig verläßliche Zahlen
Diese Dokumente verzeichnen 8000 norwegische Wehrmachtskinder. Doch es gibt deren vermutlich mindestens 12 000, da viele Schwangere aus den unterschiedlichsten Gründen nicht erfaßt wurden. In anderen Ländern gab es nie vergleichbare Akten, die meisten Schätzungen, von denen wir heute ausgehen, stammen dennoch aus Quellen des Deutschen Reiches: 6000 Wehrmachtskinder sollen in Dänemark, 40 000 in Belgien, 50 000 in Holland, 800 auf Jersey geboren worden sein. Diese Zahlen müssen als absolutes Minimum gelten. Wie wenig zuverlässig sie sind, zeigt sich an Frankreich: Während die Nationalsozialisten von 80 000 deutsch-französischen Kindern ausgingen, veranschlagt der französische Historiker Fabrice Virgili in einer neuen Forschungsarbeit ihre Zahl auf bis zu 200 000. Davon ausgehend schätzt der Journalist Jean-Paul Picaper, daß mindestens eine Million Franzosen – die Wehrmachtskinder mit ihren Kindern und Enkeln – einen deutschen Vorfahren haben, der als Wehrmachtssoldat in Frankreich stationiert war.[1] Während die nord- und westeuropäischen Wehrmachtskinder bei den Nationalsozialisten mehr oder weniger erwünscht waren, galten die deutsch-russischen Kinder zunächst dezidiert als „rassisch unerwünscht“. 1942, nachdem sicher schon zahlreiche Kinder aus gemischten Verbindungen geboren worden waren, begann ein Umdenken: Der Oberbefehlshaber der 2. Panzer- Armee ging von jährlich (!) 1,5 Millionen Wehrmachtskindern in Rußland aus. Er schlug vor, sie „als wertvollen Ersatz für die kriegsbedingt ausgefallenen Geburten“ zu erfassen und ihnen, analog zur Praxis mit den Juden, neben ihren russischen Vornamen die Namen „Friedrich“ bzw. „Luise“ zu geben.[2] Himmler korrigierte die Zahlen nach unten, ging aber immer noch von mehreren hunderttausend Wehrmachtskindern in Rußland aus. Eine systematische Erfassung der Geburten wurde ins Auge gefaßt, doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Die Schande der Mütter
Eine „Katalogisierung“ der Wehrmachtskinder funktionierte in Norwegen nur, weil sehr viele Mütter daran mitwirkten, lockte doch Lebensborn die Schwangeren mit substanziellen materiellen Hilfen. In der Sowjetunion hätten die meisten Frauen einer solchen Erfassung vermutlich nicht zugestimmt, denn dort galt ein Verhältnis mit einem Deutschen oder gar ein Kind vom Feind als Kollaboration. Nach dem wenigen zu urteilen, was wir über die diesbezügliche Situation in der Sowjetunion wissen, wurden viele Frauen mitsamt ihrem Kind nach Sibirien geschickt, eine unbekannte Zahl wurde liquidiert. Ein ukrainisches Wehrmachtskind erzählt: „Ich bin am 19. Februar 1945 geboren. Das ist mein tatsächliches Geburtsdatum. Aber in der Geburtsurkunde ist der 15. Mai eingetragen. Das wurde deshalb so arrangiert, um zu verheimlichen, wer mein wirklicher Vater war, damit wir nicht nach Sibirien gehen mußten. Denn wenn ich erst im Mai geboren wurde, hieß dies, daß ich bereits nach dem Abmarsch der Deutschen gezeugt wurde, also kein Sohn eines Deutschen sein kann.“[3] Zu einer Zeit, als uneheliche Schwangerschaften generell geächtet waren, bedeutete ein „Deutschenkind“ meist eine persönliche Katastrophe, denn auch in West- und Nordeuropa bezichtigte man die „Deutschenmädchen“ der Kollaboration mit dem Feind. Viele Frauen verheimlichten den Schwängerer, behaupteten, er sei ein ermordeter Widerstandskämpfer, oder schoben das Kind einem Landsmann unter. Andere versuchten, es „loszuwerden“ – sei es durch Abtreibung, sei es, indem sie es aussetzten oder zur Adoption freigaben. Einige wenige wählten extreme Lösungen – so gab es im dänischen Jütland ein „Kinderheim“, von dem bekannt war, daß die Kinder dort verhungerten.

Aufwachsen mit einer schweren Hypothek
Aber die meisten Kinder überlebten und wuchsen bei ihren Müttern oder anderen Verwandten auf. Wie erging es ihnen während des Krieges, wie bei Kriegsende, wie in den Jahren seither? Diese Fragen sind rasch beantwortet: Wir wissen es nicht. Wer die wenigen veröffentlichten Gespräche mit Wehrmachtskindern aus verschiedenen Ländern liest, stößt auf immer dieselben Sätze: Man hat mich als Kind eines Deutschen beschimpft. Ich wurde schikaniert, weil mein Vater ein Deutscher ist. Als wir in der Schule den Krieg durchnahmen, habe ich mich geschämt. Es scheint, als habe man überall die Geringschätzung der „Deutschenmädchen“ und den Haß auf den deutschen Besatzer-Vater an den Kindern ausgelassen.

Wiedergutmachung gefordert
Das war in Norwegen nicht anders, dort aber beschuldigen einige Nachkommen deutscher Soldaten – die sich dort Kriegskinder nennen – den norwegischen Staat, sie vor den haßrfüllten Übergriffen ihrer Landsleute nicht geschützt zu haben. Sie klagen auf die Zahlung von Wiedergutmachung und sind entschlossen, vor den Europäischen Gerichtshof in Straßburg zu ziehen. In einer ersten Reaktion hat der norwegische Ministerpräsident Bondevik bereits vor einigen Jahren die Betroffenen um Entschuldigung gebeten. In einem zweiten Schritt beauftragte die norwegische Regierung einige Wissenschafter damit, Kindheit und Jugend der norwegischen Wehrmachtskinder zu erforschen. Somit versucht Norwegen als einziges Land in Europa, möglicherweise der Welt, das Schicksal der „Feindeskinder“ im eigenen Land zu klären. Ein im Rahmen dieses Forschungsprojekts veranstaltetes Seminar versammelte Ende letzten Jahres in Oslo die kleine Schar jener Forscher, die in Europa zum Thema „Kinder von Besatzungssoldaten“ arbeiten. Es sind keine zwei Dutzend, über „Wehrmachtskinder“ forscht außerhalb von Norwegen ein halbes Dutzend. Auffallend ist, daß keine Deutschen darunter sind.

„Liebe“ und Liebe
Viele frühere Soldaten wissen nicht, daß sie während des Krieges ein Kind gezeugt haben. Von denen, die es wußten, entschieden sich die meisten, es zu „vergessen“. Doch es gibt Ausnahmen. Manche Väter kümmerten sich um ihr uneheliches Kind; andere, die das nicht taten, verschwiegen es wenigstens ihrer Familie nicht. Eine Dänin fand beispielsweise den Namen ihres Vaters auf einer Telefon-CD. Sie rief an, es meldete sich eine ältere Frau. Kaum hatte die Dänin gefragt, ob Herr F. im Krieg in Dänemark gewesen sei, rief die Frau am anderen Ende in den Raum hinein: „Komm mal her, hier ist deine Tochter aus Dänemark.“ Diese Tochter lebte mit ihrer Mutter noch immer am selben Ort bei Kopenhagen, der Vater hätte sie also finden können, wenn er gewollt hätte. Nun aber lud er sie zu einem Besuch ein. Als sie sich zum ersten Mal gegenüberstanden, begrüßte er sie gerührt mit den Worten: „Du bist das Kind meiner Liebe.“ Sie sagte bitter: „Von dieser Liebe habe ich nichts gespürt.“

* Ebba D. Drolshagen ist freiberufliche Autorin und Übersetzerin. Ihr Buch „Nicht ungeschoren davonkommen. Die Geliebten der Wehrmachtssoldaten im besetzten Europa“, Hamburg 1998, befaßt sich mit den nichtdeutschen Partnerinnen der Wehrmachtssoldaten.

1 Jean-Paul Picaper: „Besatzungskinder“. In: Airbag. www.glacis.org/Num0102-D/Num3D/S12-N3/s12-n3.html URL 10. Oktober 2003.

2 Rolf-Dieter Müller: Liebe im Vernichtungskrieg. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des Einsatzes deutscher Soldaten im Rußlandkrieg 1941-1944. In: Politische Gewalt in der Moderne. Hg. von F. Becker u. a., Münster 2003.

3 Manuskript der Fernsehdokumentation „Liebe im Vernichtungskrieg. Die Frauen im Osten und die deutschen Besatzungssoldaten“ von Hartmut Kaminski, zitiert in Müller, a. a. O.

Weiterführende Beiträge der NZZ:
*Lebensborn – lebenslang
*Schattendasein der Feindeskinder

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Verein dänischer Kriegskinder will Entschuldigung

ML 2004-01-18