Stimmen zum Tschechisch-Deutschen Zwist im Mai 2002 (Fortsetzung des Themas)

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Verheugen: Unrecht ist Unrecht, wann immer es geschehen ist
BRÜSSEL. EU-Kommissär Günter Verheugen sagte im OÖN-Interview zum Streit um die Beneš-Dekrete, im Europa von heute könne man keine Entschuldigung finden für Vertreibung und Entrechtung.
Verheugen, der wegen seiner in Österreich als einseitig pro-tschechisch wahrgenommenen Äußerungen heftige Kritik einstecken mußte, fühlt sich mißverstanden. Die Dekrete zur Enteignung und zur Staatsbürgerschaft würden keine rechtliche Wirkung mehr entfalten, aber wegen des nach 1945 geschehenen Unrechts bestehe ein politisch-moralisches Problem, das zwischen den beiden Ländern gelöst werden müsse. Er habe in der Prager Karl-Universität klar gesagt: „Wir müssen mit der Frage so umgehen, daß Unrecht Unrecht genannt wird, wann immer es geschehen ist um wem immer es zugefügt wurde.“ Eine Entschuldigung für Vertreibung, Ermordung und Entrechtung könne man im Europa von heute nicht finden.
Als Beispiel einer möglichen Lösung nannte Verheugen die deutsch-tschechische Erklärung, mit der die bilateralen Probleme beseitigt wurden und das gegenseitig zugefügte Unrecht bedauert wurde.

Verheugen: „Unrecht muß Unrecht genannt werden“. Auch aus Brüsseler Sicht ist Tschechien bei den Beneš-Dekreten noch nicht aus dem Schneider. Die EU überprüft nach wie vor einige der Bestimmungen. Erweiterungskommissär Verheugen macht sich außerdem für eine Aussöhnung zwischen Prag und Wien stark, ohne aber als Vermittler auftreten zu wollen.
OÖN: In Österreich wirft man ihnen Wankelmütigkeit bei den Beneš-Dekreten vor. Zuerst hieß es, die Dekrete sind obsolet. Dann tauchten die Restitutionsgesetze auf. Jetzt ist von der Prüfung des Amnestiegesetzes die Rede.
Verheugen: In dieser Frage ist die Wahrnehmung etwas selektiv. Ich habe mich im März ausführlich im EU-Parlament dazu geäußert und damals bereits präzise die drei Problemkreise definiert. Erstens haben wir es mit den Beneš -Dekreten als solchen zu tun. Nach übereinstimmender Rechtsauffassung sind die Dekrete zur Enteignung und zur Staatsbürgerschaft obsolet, weil sie keine neue rechtliche Wirkung mehr entfalten. Sie haben in den Beitrittsverhandlungen nichts zu suchen. Zweitens haben wir ein politisch-moralisches Problem, nämlich wegen des Unrechts, das nach 1945 geschehen ist. Diese Belastung aus der Vergangenheit sollte überwunden werden, damit sie nicht auch noch die gemeinsame europäische Zukunft überschattet. Das ist eine Aufgabe der Länder unter sich, und hier kann die Kommission nicht helfen. Drittens müssen wir klären, ob die aus den neunziger Jahren stammende Gesetzgebung und Rechtspraxis bei der Rückübertragung von Eigentum dem EU-Recht widerspricht .
OÖN: Dann waren Sie in Prag...
Verheugen: ... und da bin ich noch einen Schritt weitergegangen und habe in der Karl-Universität gesagt, was bisher noch kein Europäer in Prag gesagt hat: Wir müssen mit der Frage so umgehen, daß Unrecht Unrecht genannt wird, wann immer es geschehen ist und wem immer es zugefügt wurde. Im Europa von heute kann man keine Entschuldigung finden für Vertreibung, Ermordung, Enteignung und Entrechtung. Ich habe die deutsch-tschechische Erklärung als Beispiel dafür genannt, wie benachbarte Länder mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit umgehen können.
OÖN: Aber wie steht es um die anderen Beneš-Dekrete, etwa um das Amnestiegesetz? Haben Sie sich bereits ein vollständiges Bild verschaffen können?
Verheugen: Nein. Die rechtliche Prüfung der Tatbestände ist noch nicht abgeschlossen. Renommierte Völkerrechtler haben Zweifel angemeldet. Wir prüfen also, ob diese Bestimmung noch gültig ist und ob sie noch neue Wirkung entfalten kann.
OÖN: Um es klar zu stellen: In welchen Punkten muß Prag jetzt noch handeln?
Verheugen: Das kann erst am Ende des Prozesses beantwortet werden. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Weder bei uns in der Kommission noch im EU-Parlament noch in der tschechischen Republik.
OÖN: Die UN-Menschenrechtskommission hat sich einiger Fälle angenommen, wo die Rückerstattung von Eigentum problematisch verlaufen ist.
Verheugen: Die Fälle sind uns bekannt. Sie sind Teil der Prüfung.
OÖN: Letzte Woche hat das Prager Parlament eine einstimmige Erklärung zu Beneš abgegeben. War diese hilfreich?
Verheugen: Damit sollte das Thema für den tschechischen Wahlkampf neutralisiert werden. Keiner konnte ja glücklich darüber sein, daß die Debatte so emotional und so kontrovers geworden ist. Es ist auch nicht so, daß die Kommission die Frage vernachlässigt hätte. Bestimmte Vorwürfe von FPÖ-Politikern kann ich nur mit Unwissenheit erklären. Ich arbeite seit einer Reihe von Jahren daran, diese noch offene Wunde in Mitteleuropa heilen zu helfen. Die Aussichten waren schon einmal besser. Die jetzige Situation ist herbeigeführt worden durch den Versuch von Herrn Haider, bei Temelin noch zusätzliche Unterstützung zu finden, indem die Frage mit Beneš vermischt wird. Daß sich Tschechiens Premier Zeman dadurch auch hat provozieren lassen, wissen wir. Jetzt müssen wir erst einmal die tschechischen Wahlen abwarten.
OÖN: Können Sie sich vorstellen, so wie bei Temelin auch diesmal als Vermittler zwischen Wien und Prag aufzutreten?
Verheugen: Das kann ich nicht. Nur stille Diplomatie von allen Seiten kann noch helfen.
OÖN: Warum?
Verheugen: Die Fronten sind leider sehr verhärtet. In Wahrnehmung meiner Verantwortung bemühe ich mich schon lange, dieses politische Hindernis auszuräumen. Mir braucht doch niemand erzählen, was für ein heißes Thema das ist. Ich war Vorsitzender des deutsch-tschechischen Forums, mein bayrischer Wahlkreis lag nahe dem Sudetenland. Es hat Fortschritte gegeben, aber diese sind im Augenblick verschüttet.
OÖN: Also Prag und Wien müssen sich selbst zusammenraufen.
Verheugen: Nicht nur. Es gibt einen überall gültigen, grundsätzlichen Aspekt, den die Kommission ganz genau beachten muß. Die Rechtsordnung in einem künftigen Mitgliedsland darf nicht im Widerspruch stehen zum Gemeinschaftsrecht.
OÖN: Eins verstehe ich nicht. Warum prüfen Sie noch immer, wo doch das „screening“ (Prüfung des Rechtsbestandes in den Kandidatenländern) vor zwei Jahren abgeschlossen wurde?
Verheugen: Das „screening“ bezieht sich auf die unmittelbare Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht. Hier haben wir es eher mit politischen Kriterien zu tun, mit der Erfüllung der allgemeinen Beitrittskriterien. Außerdem haben die Grundrechtscharta und der neue EU-Vertrag mit der Nichtdiskriminierungs-Klausel neue Elemente hinzugefügt.
OÖN: Wann soll die Prüfung abgeschlossen werden?
Verheugen: So schnell es geht. Es handelt sich um eine sehr komplizierte Prüfung. Wir haben es teilweise auch mit Rechtstexten zu tun, für die keine Übersetzung vorliegt.
OÖN: Herr Kommissär, in Österreich sind Sie wegen Temelin und Beneš schon fast zum Feindbild geworden.
VERHEUGEN: Wohl nur in einer bestimmten Ecke, und ich habe dazu nichts beigetragen. Im Falle Temelin ist für Österreich die bestmögliche Lösung herausgekommen. Über die Frage der Beneš-Dekrete sollte man erst urteilen, wenn alle Gespräche beendet sind. Warum sollte ich also gekränkt sein? Ich kann ja analysieren. In Österreich gibt es eine Partei, die eine Agenda in Vorbereitung auf die nächsten Wahlen verfolgt. Die Themen, die wir behandelt haben, spielen dabei eine zentrale Rolle.
OÖN: Die Querschüsse werden bis zum letzten Tag der Beitrittsverhandlungen anhalten.
Verheugen: Seit der Mitgliedschaft der FPÖ in der Regierung war mir klar, daß die Unterzeichnung und Ratifizierung des Beitrittsvertrags in Österreich innenpolitisch schwierig werden könnte. Ich habe aber keinen Zweifel daran, daß die anderen politischen Kräfte, die SPÖ, die ÖVP und die Grünen, die europäischen und österreichischen Interessen richtig einschätzen können.
OÖN: Dann platzt die Koalition...
Verheugen: ... das hat es bei Temelin auch geheißen, und nichts ist passiert.
OÖN: Schwindet im Sog von Le Pen und aus anderen Gründen womöglich der politische Wille der Fünfzehn zur Osterweiterung?
Verheugen: Die politischen Verpflichtungen, die die 15 Regierungen, einschließlich Österreich, auf sich genommen haben, sind so stark, daß ein Abrücken alles gefährden würde, was wir schon erreicht haben: Stabilität zwischen Ostsee und Schwarzen Meer. Vergleichen Sie einmal die Kosten der Osterweiterung mit den Kosten des Kriegs am Balkan: Die Herstellung von Stabilität kommt dem Steuerzahler ungleich günstiger als die Bekämpfung von Instabilität.
( von Michael Jungwirth )
Quelle: Oberösterreichische Nachrichten vom 02.05.2002
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Experten sollen Beneš-Debatte „versachlichen“
Franz Schausberger ist nicht nur Landeshauptmann von Salzburg, sondern auch Historiker. Als solcher lehrt er – wegen seiner politischen Tätigkeit unentgeltlich – an der Universität Salzburg.

Bandbreite
In dieser Kombination von Politik und Wissenschaft nimmt sich Schausberger nun der Beneš-Dekrete an. Vor kurzem referierte er darüber in seiner Lehrveranstaltung, im KURIER-Interview macht er einen Vorschlag, wie man politisch aus der Sackgasse kommen könnte. Schausberger: „Die Bandbreite von Standpunkten in dieser Frage ist erschreckend. Da ist Vaclav Klaus mit seiner Forderung, daß die Beneš-Dekrete im Zuge des tschechischen EU-Beitritts nochmals bestätigt werden sollen und am anderen Ende die Forderung, daß Tschechien wegen der Beneš-Dekrete nicht beitreten darf.“
Schausberger will „Sachlichkeit“ in die Debatte bringen und schlägt zu diesem Zweck eine internationale Kommission aus Historikern und Juristen vor. Die EU-Kommission solle sich dieser Sache annehmen, Schausberger wird EU-Kommissionspräsident Romano Prodi sein Konzept unterbreiten. Als Koordinationsstelle würde sich laut Schausberger das österreichische Institut für Menschenrechtsfragen in Salzburg anbieten, das auf eine Initiative des Europarats entstanden ist.
Der VP-Politiker Schausberger hält nichts davon, die Frage der Beneš-Dekrete bilateral zwischen Österreich und Tschechien zu lösen. „Da ist die EU gefordert, weil es darum geht, ob der Rechtsbestand eines Mitgliedslandes den Menschenrechten entspricht.“
Unrecht
Schausbergers Ansicht nach sind in den 26 Beneš-Dekreten zwei Punkte enthalten, die nicht menschenrechtskonform sind: die Kollektivschuld von Deutschen und Ungarn, sowie jene Passage, die die Straffreiheit für alle Gräueltaten gegen Deutsche und Ungarn festschreibt. Man müsse diese Bestimmungen nicht rückwirkend tilgen, aber künftig, in einer als Friedensprojekt verstandenen EU, seien diese nicht aufrecht zu erhalten: „Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn es aus Unrecht hervorgeht.“ Eine Verknüpfung von Wiedergutmachung für Vertriebene und EU-Beitritt lehnt der Landeshauptmann ab.
Quelle: Kurier (Wien) vom 03.05.2002
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Kontroverse Spidla-Klaus
Die Forderung des Präsidenten des tschechischen Abgeordnetenhauses Vaclav Klaus nach einer „EU-Garantie“ für die Beneš-Dekrete sei „gefährlich, unverantwortlich“ und führe statt in die EU in die Erfolglosigkeit. Das meinte Tschechiens stellvertretender Ministerpräsident, der Sozialdemokrat Vladimir Spidla, laut Zeitungsberichten.
Quelle: Wiener Zeitung vom 03.05.2002
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Leichte Entkrampfungstendenzen
Wie eine Debatte über die Beneš-Dekrete auch ablaufen kann
Josef Kirchengast
Waidhofen/Thaya – Tendenzen einer Entkrampfung und Versachlichung des Themas zeigten sich bei einem „Kulturstammtisch“ der Waldviertel Akademie zu den so genannten Beneš-Dekreten am Donnerstagabend im Gymnasium Waidhofen an der Thaya. Weitgehend einig war man sich darin, daß mit der jüngsten Erklärung des tschechischen Abgeordnetenhauses zu den Dekreten (“unantastbar, unveränderlich“, aber „keine neuen Rechtsverhältnisse“ auf ihrer Basis) nicht das letzte Wort gesprochen sein könne und diese Erklärung vor allem innenpolitisch motiviert sei, um das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten.
Niklas Perzi von der Waldviertel Akademie lieferte mit einem historischen Abriß ein differenziertes Bild des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš, das er auch als Beitrag zur „Entdämonisierung“ verstanden wissen wollte. Perzi zitierte dazu auch aus dem jüngsten Essay von Václav Havel. Das tschechischen Staatsoberhaupt setzt sich darin mit Beneš' verhängnisvollem Hang auseinander, in entscheidenden Augenblicken (München 1938, Kapitulation vor den Kommunisten 1948) Pragmatismus vor Moral zu stellen, und fragt: „Wie kam es, daß er das machen konnte und daß es so wenig Widerstand hervorgerufen hat?“
Moralischer Ansatz
Angesichts der für Tschechien „unantastbaren“ Dekrete, was die Eigentumsverhältnisse betrifft, ging es in der Diskussion vor allem um Lösungsansätze unter dem moralischen Aspekt. Zu dem von Bundeskanzler Schüssel angeregten Entschädigungsfonds für Vertriebene meinte Jan Sechter, Referatsleiter in der Zentraleuropa-Abteilung des tschechischen Außenministeriums, grundsätzlich könne man sich so etwas vorstellen. Es müsse sich dabei aber um eine „umfassende Lösung“ handeln.
Sechter verwies auf das Beispiel des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, der auch die Entschädigung von NS-Opfern beinhalte. An diesem Fonds ist Tschechien entsprechend seiner Bevölkerungszahl zu einem Achtel beteiligt.
Botschafter Hans Winkler, Leiter des Völkerrechtsbüros im Wiener Außenministerium, meinte, eine Ungültigkeitserklärung der Dekrete „ex nunc“ (ab jetzt) würde die tschechische Rechts- und Staatsordnung keineswegs ins Wanken bringen, wie dies seitens Prags immer wieder behauptet werde. Vermutlich am wichtigsten für die Opfer sei aber das Eingeständnis von Unrecht.
Aus Sicht der EU ist laut Winkler das tschechoslowakische Amnestiegesetz von 1946 eines der größten Probleme. Es stellt unter anderem Verbrechen straffrei, die bis sechs Monate nach Kriegsende als „gerechte Vergeltung für die Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer“ verübt wurden. Sowohl in der Kommission als auch im Europaparlament herrsche die Meinung vor, daß dieses Gesetz „eindeutig gegen Artikel 6 des EU-Vertrags“ (Menschenrechtsparagraf) verstoße.
Quelle: Der Standard (Wien) vom 04.05.2002
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Das Interview: „Nicht jeder kann Mitglied der EU sein“
Nach der nächsten Erweiterungsrunde wird die Europäische Union kaum noch neue Mitglieder aufnehmen können. Denn die vergrößerte EU muß darauf achten, ihre Integrationskräfte nicht zu überfordern, warnt Günter Verheugen
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DIE WELT: Was handelt sich die EU konkret mit der Aufnahme neuer Mitglieder ein?
Verheugen: Das Entscheidende für die EU ist, daß wir politische Stabilität im gesamten Raum zwischen Ostsee und Bosporus erreichen. Das wird zunehmend auch von Rußland als Vorteil anerkannt. Rein wirtschaftlich ausgedrückt: Die Kosten für Instabilität in diesem Raum wären für die EU wesentlich höher als die für die Herstellung von Stabilität. Der wirtschaftliche Vorteil des Prozesses ist nicht von der Hand zu weisen, weil wir mit einer enormen Dynamik in den Ländern rechnen können. Und insgesamt wird die Rolle Europas durch die Erweiterung gestärkt. Europa kann stärker als bisher eine gestalterische Rolle in der Welt spielen.
DIE WELT: Das mag aus strategisch-politischen Gründen stimmen, aber droht in den Beitrittsländern ein Aufflackern von Nationalismen, die in der EU überwunden scheinen? Die Diskussion um die Beneš-Dekrete in Tschechien zeigt dies doch deutlich?
Verheugen: Auch ich bin überrascht von der Intensität der Emotion im ganzen Land. Wir haben in dieser Frage ein Dialogproblem. Schlesier, Pommern oder Ostpreußen haben irgendwann einmal ihren Frieden gemacht mit dem heutigen Polen. Das gibt es im Verhältnis zwischen Sudetendeutschen und Tschechen durchaus, aber es gibt eben auch noch viel Sprachschwierigkeit und gegenseitiges Mißtrauen. Die Debatte über die Beneš-Dekrete leidet an einem Mangel an Rationalität und Sachlichkeit. Für die EU stellt sich die Frage, ob innerhalb der heutigen tschechischen Rechtsordnung Elemente sind, die den Anforderungen des EU-Vertrages widersprechen. Ein Großteil dieser Dekrete entfaltet heute keine neue rechtliche Wirkung mehr. Niemand kann mehr gestützt auf die Beneš-Dekrete willkürlich enteignet werden. Die Regierung in Prag hat sich verpflichtet, eventuell vorhandene Diskriminierung von EU-Bürgen in ihrer Rechtsordnung zu beseitigen.
DIE WELT: Also spielen die Beneš-Dekrete bei der Erweiterung keine Rolle?
Verheugen: Sie spielen eine Rolle, weil ja die gesamte tschechische Rechtsordnung mit dem Gemeinschaftsrecht kompatibel sein muß. Es kann aber nicht Aufgabe der EU sein, die Altlasten in den Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Österreichern und Tschechen im Rahmen der Erweiterungsverhandlungen zu lösen. Dabei geht es um historisch-moralische Fragen. Ich habe bei meinem Besuch in Prag klipp und klar gesagt, daß man Unrecht Unrecht nennen muß, gleichgültig, wo es passiert und wem es passiert ist. Die deutsch-tschechische Erklärung weist in diesem Zusammenhang den richtigen Weg. Meine Sorge ist, daß sich die Diskussion jetzt hochschaukelt. In Tschechien herrscht Wahlkampf, und jede Äußerung über die Beneš-Dekrete dort wird Auswirkungen haben in Deutschland und Österreich, und damit im Europaparlament. Ich kann nur sagen: Leute, bleibt auf dem Teppich. Wir brauchen Zeit, um diese Wunde zu schließen. Aber welche Dämonen der Vergangenheit sind sonst noch lebendig? Ich sehe keine.
...
Das Gespräch führten Andreas Middel und Katja Ridderbusch.
Quelle: Die Welt vom 04.05.2002
===========Radio Prag 2002-05-04==================
Ex-Präsident Beneš nicht für Staatspreis vorgeschlagen
Das Abgeordnetenhaus hat dem tschechischen Präsidenten Vaclav Havel insgesamt 34 Persönlichkeiten für die Verleihung eines Staatspreises vorgeschlagen. Unter den Kandidaten befindet sich nicht der ehemalige tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš, den der stellvertretende Vorsitzende der ODS, Jan Zahradil, mit dem T.G.Masaryk-Orden auszeichnen wollte. Wie Zahradil dazu am Freitag der Nachrichtenagentur CTK erklärte, stünde die Auszeichnung des Expräsidenten Edvard Beneš als ein Beleg dafür, daß Beneš ein Bestandteil der tschechischen Staatlichkeit und der tschechischen nationalen Tradition ist.
============mitgeteilt von Walter Mogk:===================
Von Hitler verfolgt, durch Beneš enteignet
Zum Schicksal tschechoslowakischer Juden nach 1945
Das Eigentum tschechoslowakischer Juden wurde in manchen Fällen erst 1945 durch die Beneš-Dekrete im Grundbuch amtlich enteignet. Man erklärte Shoah-Überlebende schlicht zu Kollaborateuren der Deutschen, inhaftierte sie und schob sie bisweilen auch ab. Bis heute kämpfen einige um ihre Rehabilitierung und um ihren Besitz.
Amalia Fürthová überlebte das Vernichtungslager Auschwitz. Mit ihrer halbseitig gelähmten Mutter – sie erlitt im Lager einen Schlaganfall – trat sie die mehrere Monate währende Heimkehr in die Tschechoslowakei an. Hier angekommen, erfährt sie, daß sie ab nun, ab Juli 1945, als «Deutsche» gilt. Sie wurde 1929 geboren, ihre Eltern votierten bei der Volkszählung 1930 für Deutsch. Das heißt, die damals Einjährige war tschechoslowakische Staatsbürgerin deutscher Nation. Nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze floh die Familie in die Slowakei, von wo sie dann 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Zurückgekehrt, hatte Amalia F. keine Rechte – sie war «Deutsche». An die Restitution der elterlichen Fabrik war gar nicht zu denken. Erst einmal sollte die schwer kranke Mutter die nötige Pflege erhalten, und vor allem mußte der Anspruch auf eine Wohnung erkämpft werden. Erst 1947 – nach Erlangung tschechoslowakischer Papiere – war dem Wanderdasein ein Ende gesetzt. Die Fabrik haben sie bis heute nicht zurückbekommen.
Die weiße Binde mit dem aufgedruckten «N» für Nemec – Deutscher –, die mußten die beiden nicht statt des erst kurz zuvor abgelegten «gelben Fleckes» tragen. Andere KZ-Überlebende mußten. Als etwa die Teplitzer jüdische Gemeinde gegen diese Praxis tschechoslowakischer Beamter protestierte, antwortete am 13. Oktober 1945 die zuständige Sekretärin des Nationalausschusses, Maria Vobecká, die Juden kämen nicht «der Treue der demokratisch-republikanischen Staatsidee der Tschechoslowakischen Republik» nach, und: «dem Ausschuß ist das Benehmen vieler jüdischer Angehöriger bekannt, die oft nicht nur nazistische Umtriebe in ihren Unternehmen duldeten, sondern diese auch häufig unterstützten, obwohl sie um ihr Eigentum besorgt waren. Zu Antinazis wurden sie nicht aus Treue zur Republik und ihrer republikanisch-demokratischen Form, sondern wegen der Verfolgung der Juden. Beweis dafür sind vor allem Mischlinge, die schon zur Zeit der Republik Mitglieder der Sudetendeutschen Partei waren und es so lange blieben, bis sie wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit herausgeworfen wurden.»
Zweierlei Verfolgungen
Die Behörden schreckten auch nicht davor zurück, Shoah-Überlebende gemeinsam mit «Sudetendeutschen» abzuschieben. Einer, der sowohl als Jude die Nazilager überlebte als auch die Vertreibung 1945, möchte diese beiden Verfolgungen klar getrennt wissen: «Das eine führte ins Gas, das andere in den Wohlstand.»
Der Arzt E. Spiegel, der nach dem Mai 1945 acht Monate auf der kleinen Festung in Theresienstadt als Deutscher von den Tschechoslowaken interniert war, will sich sogar in dem von Wilhelm Turnwald herausgegebenen Band «Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen» an einen slowakischen Juden namens Müller erinnern, der gerade eine fünfjährige Haft in Nazikonzentrationslagern überlebt hatte und dann im ehemaligen NS-Lager Theresienstadt von tschechoslowakischen Aufsehern zu Tode geprügelt wurde. Spiegel nennt noch weitere «jüdische» Gefangene, die hier nun von tschechischen Wärtern mißhandelt werden: Er nennt die Namen Schück, Gläßner, Spieker, Herbert und Geitler.
Der tschechoslowakische Staatsbürger Richard Fischmann bekennt sich 1930 mit seiner Familie zur jüdischen Nationalität. Sie werden 1942 nach Theresienstadt deportiert, von dort weiter nach Auschwitz. Richard und seine Frau werden ermordet, Sohn Viteslav und Tochter Eliska überleben. Letztere kämpft noch heute, denn die Tschechoslowakei beziehungsweise die Tschechische Republik prolongieren das durch die Nazis begangene Unrecht: Das Vermögen der Fischmanns, ein 270 Hektaren großes Gut in Puklice, wird 1939 unter Zwangsverwaltung gestellt, um 1945 auf Grund des Dekrets 12, erlassen am 21. Juni 1945 von Präsident Edvard Bene¨, «über die Konfiskation und beschleunigte Verteilung des Landbodens von Deutschen, Ungarn wie von Verrätern und Feinden des tschechischen und slowakischen Volkes» nun auch im Grundbuch amtlich enteignet zu werden. Zwei Tage zuvor hat derselbe Präsident das Dekret Nr. 5 erlassen, nach welchem die Zwangsverwaltung aufgehoben werden soll: «Welche Eigentumsübertragungen auch immer und welche eigentumsrechtlichen Handlungen auch immer, ob sie bewegliches oder unbewegliches, öffentliches oder privates Eigentum betreffen, sind ungültig, sofern sie nach dem 29. September 1938 unter dem Druck der Okkupation oder der nationalen, rassischen oder politischen Verfolgung vorgenommen wurden.» Der Staat aber setzte sich sogar über die eigenen Präsidentendekrete hinweg.
Man würde annehmen, daß spätestens nach 1989 dieser «Formalfehler» aufgehoben sein müßte. Doch: Bis August 2001 wird der in Auschwitz ermordete Richard Fischmann von den Gerichten als Deutscher, als Kollaborateur, als Feind des tschechischen Volkes betrachtet. Präsident Havel, Premierminister Klaus, die Historikerkommission – alle erklärten sich für unzuständig, niemand wollte der alten Dame zu ihrem Recht verhelfen. Ein Jahrzehnt brauchte die junge Demokratie, bis Eliska Fischmannová bestätigt bekam, daß ihr Vater kein Kollaborateur der Nazis war: daß alles nur zum Vorwande genommen wurde, um ihr das Gut nicht zurückzugeben. Bis heute bekam sie es nicht restituiert.
Kein Einzelfall
Dies ist kein Einzelfall. Es war die Politik der Nachkriegs-Tschechoslowakei. Zwar wurde auch ein Restitutionsgesetz im Jahre 1946 verabschiedet, das angesichts der zwei Jahre später erfolgten kommunistischen Machtübernahme, auch angesichts der Stimmung im Lande aber fast nichts bewegen konnte. Innenminister Nosek bestätigte am 20. Februar 1946, warum Juden ihr Eigentum nicht zurückerhalten sollten: «Wir müssen daher die einzigartige Möglichkeit nutzen, um unsere Rechnungen zu begleichen nicht nur mit den Feinden, die Schaden und Zerstörung unserer Nation in Kollaboration mit Hitler zufügten, aber wir sollten auch mit jenen abrechnen, die unsere nationale Existenz durch Germanisierungsversuche gestört haben, gleichgültig ob sie mit den Nazis kollaboriert haben. Einige von ihnen waren wegen ihrer jüdischen Herkunft eingekerkert und litten auch etwas [sic!] unter dem Naziterror. Aber jetzt ist es die Pflicht, herauszufinden, wie diese Personen sich in der Vorkriegszeit verhalten haben, ob sie die Germanisierung förderten, ob sie deutsche Schulen unterstützten – das Eigentum dieser Personen gehört dem Staat und muß konfisziert werden.» Selbst tschechischsprachige Juden, die tschechische Schulen besucht hatten, machte man zu «Deutschen». So den 70-jährigen Emil Beer. Seine am 4. März 1947 restituierte Fabrik im nordböhmischen Varnsdorf wurde ihm wenige Tage später nach Protesten der Gewerkschaft unter Hinweis auf seine «deutschnationale» Einstellung wieder entzogen.
Die 1939 Enteigneten sind auch von den «samtenen Revolutionären» äußerst unsanft behandelt worden. Das 1991 erlassene Restitutionsgesetz setzte sich über die Nazikonfiskationen hinweg und berücksichtigte lediglich die Enteignungen durch den kommunistischen Staat. Eine drei Jahre später erfolgte Novellierung konnte nicht mehr viel bewegen – die junge Demokratie hatte bereits das seinerzeit «arisierte», nicht restituierte Vermögen im Rahmen der Privatisierung vergoldet. Außerdem überschrieb Finanzminister Vaclav Klaus die im Staatsbesitz befindlichen ehemaligen Synagogen den Kommunen, die nicht rückstellungspflichtig sind.
Geschädigten wird nicht einmal Einblick in die von den Nazis erstellten «Vermögensverzeichnisse von Juden» gewährt. Dort sind Immobilienbesitz, Schmuck, Versicherungspolicen, Kunstbesitz und andere konfiszierte Werte angeführt. Für die heutige Enkelgeneration oft der einzige Nachweis für einen Anspruch. Doch wie formulierte Edvard Bene¨ bereits 1944 in London die künftigen Ansprüche? Einem Repräsentanten einer tschechoslowakisch-jüdischen Organisation erklärte er: «Nach all dem können wir doch nicht die gesamte Hauptstraße Mährisch-Ostraus restituieren.»
Stephan Templ
Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 6. Mai 2002
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Kollektive Unschuld
DEUTSCHE ALS OPFER
Anmerkungen zu Funktion und Intention der neuen Debatte um Flucht und Vertreibung
Von Samuel Salzborn
Der Spiegel hat nicht unbedingt immer recht. Gewiß aber in diesem Fall: „... die Zeiten, in denen es schlicht als ungebührlich galt, nicht allein das vom NS-Terror der Welt zugefügte, sondern auch das selbst erlittene Leid zu diskutieren, gehen nun offenkundig zu Ende.“ Endlich, so war in den vergangenen Wochen nahezu unisono in der bundesdeutschen Presse zu lesen, sei das Tabu gebrochen, endlich könne über „die Deutschen als Opfer“ geschrieben, gesprochen und getrauert werden. Im neuen deutschen Opferdiskurs ist nach einigen Irrungen und Wirrungen sowie Umwegen der Projektion in den letzten Jahren damit der Gegenstand unzweideutig benannt: die Flucht und Vertreibung der Deutschen.
Freilich wolle man nicht den Nationalsozialismus verschweigen und gewiß auch ganz offen und ohne Vorbehalte über die Geschichte befinden. Nur müsse Schluß sein mit Rechthaberei und Denkverboten, schließlich wolle man doch endlich unbefangen mit seiner Geschichte umgehen. Und auch nicht von gar zu faktenverliebter Seite ständig vorgehalten bekommen, Täternation zu sein, während man doch so gern endlich auch Teil der internationalen Opfergemeinschaft sein möchte. Wichtig an der Debatte sei, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler, daß sie „befreiend“ wirkt.
Das Ziel der neuerlichen Debatte um Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen infolge des Nationalsozialismus ist dabei vor allem eines nicht: eine Auseinandersetzung mit den individuellen Schicksalen und Traumatisierungen der Menschen, die es – das hat der Sozialpsychologe Alfred Krovoza jüngst überzeugend gezeigt – unabhängig von einer Kategorisierung des Opfer-Täter-Verhältnisses gab. Denn die Traumatisierung bezieht sich gleichermaßen auf erlittene wie ausgeübte Gewalt und beinhaltet als Ergebnis von Gewalterfahrungen zunächst keine politische oder moralische Wertung oder Schuldzuweisung. So konnten sich auch die Deutschen als eine „derart in ihren Wahnzielen bloßgestellte, der grausamsten Verbrechen überführte Population“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit um nichts anderes kümmern, „als um sich selbst“, wie Alexander und Margarete Mitscherlich es in Die Unfähigkeit zu trauern so treffend formuliert haben. 
Die in der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu attestierende Schuldabwehr und Vergangenheitsverleugnung ging einher mit einer geradezu rituellen Kultivierung der eigenen Unschuld und des eigenen Opferstatus. Daß dies zwar wissenschaftlich, politisch und literarisch bis in die Gegenwart zu einem nicht mehr überschaubaren Berg an Büchern zum Thema Flucht und Vertreibung geführt hat, es aber zugleich keine kritische Reflexion über die verdrängten Ursachen gab, erklärt die absurde Behauptung, es habe ein gesellschaftliches Tabu gegeben, über das Thema zu sprechen. Man müßte nicht extra Marcel Reich-Ranicki als prominente Autorität und glaubwürdigen Zeugen aufbieten, der gegenüber der FAZ auf die Inexistenz eines solchen Tabus hingewiesen hat; es genügte bereits ein offener Blick auf die Vergangenheit, um zu wissen, daß es innergesellschaftlich mindestens ein Thema gab, das in der Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt mit einem Sprechverdikt belegt gewesen ist: die Flucht und Vertreibung der Deutschen.
Die jüngsten Fernsehserien von ARD (Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer) und ZDF (Die große Flucht), die derzeit etwas ruhiger gewordenen Diskussionen über das von den Vertriebenenverbänden geforderte „Zentrum gegen Vertreibungen“, ja auch der mediale Rummel um die Novelle Im Krebsgang aus der Feder von Günter Graß zeigten vielmehr, daß hier ein Thema mühsam aus seinem geschichtlichen Kontext herausgebrochen werden soll, der zwar zum sicher besterforschten, aber zugleich auch am wenigsten kritisch reflektierten Abschnitt der deutschen Geschichte gehört: Man will über „deutsche Opfer“ reden, ohne tatsächlich über den Nationalsozialismus zu sprechen. Der historische Kontext soll verschwinden, die ursächlichen Zusammenhänge von deutscher Volkstums- und Vernichtungspolitik auf der einen und Umsiedlung der Deutschen in Konsequenz auf diese Politik auf der anderen Seite sollen aus dem Gedächtnis herausredigiert werden, ohne daß sie jemals ernsthaft im gesellschaftlichen Diskurs reflektiert worden wären.
Dem stets halluzinierten Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld, den es tatsächlich von alliierter und assoziierter Seite nicht gegeben hat, wird mit einer Geschichtsinterpretation begegnet, die geradewegs auf die Schaffung eines Mythos deutscher Kollektivunschuld zusteuert. Dazu muß freilich der Nationalsozialismus historisch entsorgt werden, was keinesfalls die Leugnung der Geschichte bedeutet. Dazu muß in der Gegenwart auch von schier unüberbietbaren Grausamkeiten in aller Welt berichtet werden, womit die Singularität von Auschwitz zu exportieren versucht wird – etwa nach Jugoslawien. Und dazu muß vor allem eine Kollektivierung individueller Schicksale von deutschen Flüchtlingen vorgenommen werden, die den Blick frei gibt auf eine ausschließlich moralisierende und damit entpolitisierte Sicht auf die Geschichte.
Unabhängig von den individuellen, sicher oftmals auch erschütternden Schicksalen der Flüchtlinge stellt die damit forcierte Generalisierung von Flucht und Vertreibung der Deutschen infolge des Zweiten Weltkriegs als Unrecht keine historisch adäquate Interpretation dar. Der Versuch zur Durchsetzung dieses Postulats ist vielmehr die bewußte Entkontextualisierung der Vergangenheit. Durch die Vermengung von Individuellem und Kollektivem, von Narrativem und Faktischem, von Interpretation und Wirklichkeit wird die Auflösung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von historischer Kausalität erstrebt. Denn eine fragmentarisierte Geschichtsdarstellung, bei der Ursachen und Akteure, vor allem aber auch Motive und Interessen aus dem Bewußtsein getilgt sind, erlaubt eine sich auf Beliebigkeit gründende Politik in der Gegenwart, die aufgrund ihres Ahistorismus zwar entpolitisiert, aber damit alles andere als unpolitisch ist. 
Problematisch an dem neuen deutschen Opferdiskurs ist dabei nicht, den Gegenstand Flucht und Vertreibung als solchen zu thematisieren und sich um eine adäquate Einordnung und Interpretation zu bemühen. Zu kritisieren ist vielmehr die Art und Weise, in der diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geschieht. Denn es geht in dem neuen deutschen Opferdiskurs gerade nicht um die Auseinandersetzung mit dem individuellen Schicksal und Leid der betroffenen Menschen, sondern um den Versuch einer Interpretation von Flucht und Vertreibung als kollektiv zu sanktionierendes Unrecht. Dabei steht selbstredend nicht die Aufklärung über die Vergangenheit im Zentrum, sondern das Bestreben nach Schaffung und Formung einer kollektiven Opferidentität.
Der Charme des Opferstatus ist dabei so verlockend, daß schon fast als Vaterlandsverräter und Nestbeschmutzer geziehen wird, wer es wagt, auf die Inkorrektheit der Klassifizierung von Flucht und Vertreibung als Unrecht hinzuweisen. Nicht nur, daß die Umsiedlung der Deutschen in Konsequenz auf den Nationalsozialismus und in Konsequenz auf die Massenvernichtung der europäischen Juden erfolgte. Sie wurde in dem bis heute gültigen Potsdamer Abkommen (Artikel XIII) völkerrechtlich verbindlich festgelegt. Daß mit einer Anerkennung von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung als Unrecht auch materielle Konsequenzen verbunden sein würden, ist aufgrund des Rechtscharakters des Begriffs evident. Wie diese Konsequenzen im einzelnen aussehen könnten, darauf gibt der aktuelle Kampf gegen die Beneš?-Dekrete – von denen nur einige wenige überhaupt die Behandlung der deutschen Minderheit zum Gegenstand hatten, während sie im Kern die Staatlichkeit und Souveränität der Tschechoslowakei und in deren Folge die der heutigen Tschechischen Republik garantier(t)en – einen Vorgeschmack. Unabhängig von der noch nicht abschließend geklärten normativen Bedeutung dieser Diskussion in Bezug auf den EU-Beitritt der Tschechischen Republik verdeutlicht ein Großteil der aktuellen politischen Erklärungen den besonders bei konservativen Kräften bestehenden Unwillen, die geschichtliche Realität anzuerkennen und sich mit den historischen Reaktionen auf die nationalsozialistische Volkstums- und Vernichtungspolitik abzufinden. Und das hieße anzuerkennen, daß trotz allen individuellen Leids und aller individueller Ungerechtigkeit die Umsiedlung der Deutschen die notwendige Konsequenz auf eine NS-Politik war, in der eben jene deutschen Minderheiten soziale und politische Konflikte geschürt haben, die eine wesentliche Voraussetzung für die Zerschlagung der osteuropäischen Nationalstaaten darstellten.
Die versuchte Konstruktion einer kollektiven deutschen Opferidentität stellt somit auch nicht weniger in Frage als die Gültigkeit des zentralen rechtlichen Fundaments der europäischen Nachkriegsordnung: des Potsdamer Abkommens, in dem die Umsiedlung der Deutschen wie bereits erwähnt völkerrechtlich verbindlich festgelegt wurde. Denn die Klassifizierung von Flucht und Vertreibung als Unrecht würde einen Teil des Potsdamer Abkommens für nichtig erklären und damit grundsätzlich dessen rechtliche Verbindlichkeit in Abrede stellen. Nicht zufällig haben der britische Premierminister Tony Blair und der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich auch entsprechenden Revisionsbestrebungen deutlich widersprochen, denn diesmal wird dieses Fundament nicht nur – wie noch vor der osteuropäischen Transformation 1989/90 – symbolisch in Frage gestellt. In dieser Hinsicht wäre die „befreiende“ Wirkung der aktuellen Debatte durchaus wert, problematisiert zu werden.
Samuel Salzborn ist Diplom-Sozialwissenschafter und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft in Gießen [Link zum Autor: www.salzborn.de; WM]. Kürzlich erschien von ihm Heimatrecht und Volkstumskampf. Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische Umsetzung (Offizin Verlag)
Quelle: FREITAG vom 26.04.2002
Anmerkung Walter Mogk: Das sogenannte „Potsdamer Abkommen“ – besser: „Potsdamer Protokoll“ – ist kein völkerrechtlicher Vertrag und wird von der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht als rechtsverbindlich anerkannt. Im übrigen begannen die Vertreibungen bereits lange vor der Potsdamer Konferenz, die Planungen dazu auf tschechischer und polnischer Seite gehen sogar bis in die 20er/30er Jahre zurück. Das „Potsdamer Protokoll“ bestätigt demzufolge nur die bereits vollzogenen und noch im Vollzug befindlichen Vertreibungen und ordnet sie keinesfalls an, wie es immer wieder von polnischer und tschechischer Seite behauptet wird.
Der anerkannte Völkerrechtler Prof. Blumenwitz dazu: „Das Potsdamer Abkommen ist kein Umsiedlungsvertrag. Es fehlt nicht nur die Einwilligung des betreffenden Staates, sondern auch die Zustimmung der umzusiedelnden Bevölkerungsteile. Seinem Wortlaut nach nimmt Art. XIII des ,,Abschlußberichts der Dreimächtekonferenz“ von der Tatsache der Massenausweisung nur Kenntnis und fordert deren humane Durchführung.“
(http://www.sudeten.de/bas/content/a10_4_2.htm)
Im übrigen verbieten sowohl das Kriegs- wie auch das Friedensvölkerrecht die Vertreibung und zwangsweise Umsiedlung – siehe z.B. Art. 43 der Haager Landkriegsordnung von 1907.
Die Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat eine „Notwendige Konsequenz der NS-Politik“? Das ist Denken in den Kategorien von Blutrache und Kollektivschuld, das im heutigen Europa eigentlich keinen Platz mehr haben sollte. Dazu unser Bundeskanzler: „Vertreibung, das hat die zivilisierte Völkergemeinschaft inzwischen mehrfach betont, läßt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Festakt zum 50jährigen Bestehen der Charta der deutschen Heimatvertriebenen 2000 in Berlin)
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Denn die Klassifizierung von Flucht und Vertreibung als Unrecht würde einen Teil des Potsdamer Protokolls für nichtig erklären und damit grundsätzlich dessen rechtliche Verbindlichkeit in Abrede stellen.
Dessen bedarf es gar nicht, da das sogenannte „Potsdamer Protokoll“ für die Bundesrepublik Deutschland nach Aussage dieser und aller früheren Bundesregierungen keine rechtliche Verbindlichkeit besitzt. Herr Salzborn sollte sich mal entsprechend kundig machen ...

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„Es ist verhältnismäßig schlimm“  
Der Politologe Bohumil Dolezal zu den nationalistischen Erscheinungen in Tschechien
Prag, 2.5.2002, RADIO PRAG, deutsch, Martina Schneibergova
Im Zusammenhang mit dem Resultat der ersten Runde der Präsidentenwahlen in Frankreich wurde auch in anderen europäischen Ländern plötzlich allgemein konstatiert, daß es offensichtlich zu einem Ruck nach rechts gekommen ist. In Tschechien kann von einem Rechtsruck nicht die Rede sein. Allerdings wird eine seiner Begleiterscheinungen auch hierzulande beobachtet.
Würde man nach einigen Erklärungen der Politiker aus der letzten Zeit urteilen, könnte man den Eindruck gewinnen, die böhmischen Länder erleben soeben eine Art verspäteter nationaler Wiedergeburt. „Nationale Interessen“ bzw. deren Verteidigung vor einem äußeren Feind scheint eine der beliebtesten Zauberformeln im Vokabular der Politiker zu sein. Ist diese nationalistische Rhetorik Bestandteil einer ganz Europa beherrschenden nationalistischen Welle oder ist sie mit Rücksicht auf die im Juni stattfindenden Parlamentswahlen eine rein tschechische Angelegenheit? Der Politologe und Publizist Bohumil Dolezal meinte hierzu:
„Bei uns gibt es Nationalismus seit jeher. Der tschechische Nationalismus ist ein maskierter Nationalismus. Die Hauptthese des tschechischen Nationalismus heißt: Wir sind in Mitteleuropa die einzigen, die keine Nationalisten sind. Alle unsere Nachbarn – Deutsche, Österreicher, Ungarn, Slowaken, Polen – sind mehr nationalistisch, die Tschechen sind die einzigen echten Demokraten und die Demokratie ist die Grundlage unseres nationalen Wesens. Auf der anderen Seite würde ich sagen, der Nationalismus ist bei uns im Aufmarsch und es ist verhältnismäßig schlimm. Aber für eine noch wichtigere Angelegenheit halte ich die Tatsache, daß sich bei uns ein aggressiver politischer Stil durchsetzt, der mit solchen Leuten wie Le Pen oder Haider irgendwie zusammenhängt. Bereits die Kampagne der CSSD in den letzten Wahlen war darauf orientiert, daß es der Regierung um den Hals gehen muß. Dieser politische Stil ist typisch für extreme Parteien und es ist praktisch egal, ob sie sich als links oder als rechts deklarieren. Es bedeutet eine primitive politische Manier, die in einem zivilisierten Land nicht benutzt werden soll.“
Ein Teil der Bevölkerung hört jedoch auf diesen populistischen Stil. Bohumil Dolezal dazu:
„Ich habe den Eindruck, daß die Leute bei uns immer einen mächtigen Menschen, eine starke Persönlichkeit erwarten, die Ordnung machen wird. Es hängt damit zusammen, daß sie sich selber nicht vertrauen, daß sie nicht glauben, daß sie etwas ein wenig verbessern können und stattdessen warten sie auf einen Menschen, einen Heiland, der alles verwirklichen wird, was er ihnen verspricht.“
Wie aus den Ergebnissen der Meinungsforscher hervorgeht, die vor kurzem vom Zentrum für empirische Forschungen (STEM) zum Thema Tschechen und Nationalismus durchgeführt wurden, sind 75 Prozent der Befragten der Meinung, daß die Tschechische Republik ihre nationalen Interessen auch um den Preis verteidigen soll, falls dadurch Streitigkeiten mit anderen Staaten entstehen. Werden die nationalistischen Proklamationen eher in den Grenzregionen oder eher in den Großstädten akzeptiert? Bohumil Dolezal antwortete hierauf:
„Das ist schwer zu sagen. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob die Kampagne so erfolgreich war wie es sich die Parteien von ihr versprechen, denn im letzten Monat sind die Präferenzen der ODS (Demokratische Bürgerpartei – MD) eher gesunken, und das war eben die Zeit, als die nationalistische Kampagne ihren Höhepunkt erreichte. Daher glaube ich, daß es sich herausgestellt hat, daß es nicht so erfolgreich ist, wie es sich die Spitzenpolitiker der ODS versprochen haben. Man kann nicht ausschließen, daß sich die Situation jetzt ein wenig beruhigt, aber selbstverständlich latent wird der Nationalismus weiter existieren, denn er wurde nicht überwunden, er wurde nur aus pragmatischen Gründen – sagen wir – für einen Augenblick beiseite gelassen.“ (fp)
Quelle: Radio Prag vom 02.05.2002 (Übersetzung: Deutsche Welle)
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Kommentar der „Prager Zeitung“ zur Deklaration des Prager Parlaments über die Beneš-Dekrete
Prag, 30.4.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch, Uwe Müller
Die vor einer Woche im Prager Abgeordnetenhaus verabschiedete Resolution über die Unveränderbarkeit der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs bleibt eine tschechische Spezifikum. Weder in Polen noch in der Slowakei haben die Politiker einen ähnlichen Schritt vor. Dabei mußte man auch dort beunruhigt sein. Denn Tschechiens Politiker – übrigens in bislang nie da gewesener Geschlossenheit – sahen sich zu der Resolution veranlaßt, weil „einige Kreise, insbesondere im Ausland, neuerlich die tragischen Probleme der Geschichte offnen und damit die internationalen Beziehungen belasten“ mochten. So Parlamentspräsident Vaclav Klaus. In seiner Partei weiß man auch, wer sich dahinter verbirgt: Die Achse des Bösen, die von Budapest über Wien bis nach München reicht. Von der Existenz dieser Achse hat wohl weder Warschau noch Bratislava etwas gehört. Die Achse hat in Prag jedenfalls jene zusammengeführt, die sich bislang aus dem Weg gingen. Die demokratischen Parlamentsparteien haben in den Kommunisten einen Bündnisgenossen gefunden, wenn es um die „nationale Sache“ geht. Schade, daß sich auch Präsident Vaclav Havel dieser Neuauflage einer Nationalen Front angeschlossen hat. Zumal die Resolution nichts Neues bringt. Sie schreibt langst Bestätigtes fest. Ist eher eine verpaßte Chance. Denn tatsachlich erfüllt sie nicht einmal die Idee der deutsch-tschechischen Deklaration, auf die sie sich beruft. Mit keinem Wort wird die Vertreibung von über drei Millionen Menschen erwähnt und das daraus folgende Leid. Die tschechischen Politiker räumen nicht mit einer Silbe ein, daß damals gegen Recht und Menschlichkeit verstoßen wurde. Eine einzige Erklärung bietet sich: Die Resolution richtet sich an jene in Tschechien, die seit Jahren zum Umdenken aufrufen. Ihr Ruf findet inzwischen ein Echo in den Medien des Landes. Die Politiker tapsen unbeholfen dieser Entwicklung hinterher. (fp)
Quelle: Prager Zeitung vom 02.05.2002 (Übersetzung: Deutsche Welle)
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Umsetzung von Beneš-Dekret angeordnet
PRAG (dpa).
57 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat das Kreisgericht der nordböhmischen Stadt Decin (Tetschen) in einem Streit um ein Mietshaus die Verwirklichung eines umstrittenen Beneš-Dekrets angeordnet. Das Gebäude sei 1946 einem früheren Wehrmachtssoldaten weggenommen, die Entscheidung sei aber wegen Verwaltungsfehlern nie wirksam geworden, berichtete das Prager Magazin „Respekt“. Über einen Rückgabeantrag der Nachkommen des Soldaten könnten die Behörden aber erst entschieden, wenn das Haus ursprünglich korrekt konfisziert worden sei.
Richterin Marcela Januskova habe daher die Wiederholung des Enteignungsprozesses von 1946 auf Grund der Dekrete angeordnet, berichtete „Respekt“ über den „landesweit einmaligen Fall“. Er ist besonders heikel, weil die tschechische Regierung stets betont hatte, die Dekrete des Präsidenten Edvard Beneš (1884 – 1948) seien nicht mehr anwendbar.
Quelle: Thüringer Allgemeine vom 07.05.2002
=============Radio Prag 2002-05-09====================
Restitutionen des jüdischen Besitzes bis 2006
Juden und deren Verwandte können um die Kunstwerke, die während des Zweiten Weltkrieges beschlaggenommen worden waren, bis zum Ende des Jahres 2006 ersuchen. Das Abgeordnetenhaus billigte am Donnerstag mit überwiegender Mehrheit eine entsprechende Gesetzesnovelle, und zwar auch mit Änderungsvorschlägen des Senats.
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Frowein, der Mann fürs Heikle: Nach Weisenbericht nun Beneš-Dekrete
Der Verfassungsjurist aus Heidelberg wird für das Europaparlament eine Studie über die tschechische Nachkriegs-Rechtspraxis erstellen.
von unserem Korrespondenten
BRÜSSEL
(wb). Immer wenn die EU vor einem scheinbar unlösbaren Problem steht, wird er geholt: Jochen Frowein. Nach seiner Mitwirkung am Weisenbericht zur politischen Lage in Österreich, der im Herbst 2000 zur Aufhebung der Sanktionen der EU-14 geführt hatte, übernahm der deutsche Jurist nun vom Europaparlament die Prüfung der Beneš-Dekrete. Der profilierte Menschenrechtsgelehrte wird bis Juni dem Präsidenten des EU-Parlaments Pat Cox einen Bericht abliefern. Seine Bewertung wird eine Vorentscheidung bringen, ob Tschechien gedrängt wird, vor dem Beitritt Anpassungen in seinem Rechtssystem vorzunehmen.
Frowein, der das Institut für ausländisches öffentliches Recht am Max-Planck-Institut in Heidelberg leitet, gilt als Kenner der Minderheitenrechte, die er auch im Falle von Österreich genau unter die Lupe genommen hatte. Diese Erfahrungen dürften ihm helfen, auch die aktuelle rechtliche Situation in Tschechien zu bewerten. Bei seiner Analyse sollen, wie es in Brüssel heißt, nämlich nicht die umstrittenen Beneš-Dekrete selbst beurteilt werden, sondern die heutige Rechtspraxis und ihr Zusammenhang mit den Dekreten.
Tschechiens Außenminister Jan Kavan hatte erst vergangene Woche erklärt, sein Land könne weder bestimmte Teile der Beneš-Dekrete aufheben noch die Gültigkeit der Vorschriften über Eigentumsverhältnisse in Frage stellen. „Dies wäre eine grobe Verletzung der Rechtssicherheit der Eigentumsverhältnisse sowie der Prinzipien des Rechtsstaats.“ Auch der österreichischen Europaabgeordneten Ursula Stenzel (VP), die eine Prüfung der Dekrete im EU-Parlament angeregt hatte, geht es nicht um eine Rückgabe des Eigentums, sondern um eine Anwendung von tschechischen Gesetzen, die heute weder Tschechen noch andere EU-Bürger diskriminieren dürften.
In diplomatischen Kreisen wird Froweins Prüfbericht mit Spannung erwartet. Denn ein Bericht, der eine Diskriminierung feststellt, könne auch von der EU-Kommission nicht ignoriert werden. „Frowein weiß als Deutscher aber auch, auf welches heikle, historische Terrain er sich begibt“, so ein hoher Diplomat. „Vielleicht wird er deshalb besonders vorsichtig sein.“
Frowein hatte allerdings bereits in seinem gemeinsam mit Finnlands Ex-Präsident Martti Ahtisaari und Ex-Kommissar Marcelino Oreja verfaßten Weisenbericht zur Menschenrechtssituation in Österreich klare Worte gefunden. Die drei hatten die FPÖ als „rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen“ eingestuft, waren aber insgesamt zum Schluß gekommen, daß die Sanktionen „kontraproduktiv“ gewesen seien.
Quelle: „Die Presse“(Wien) 2002-05-07
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Tschechisches Gericht reaktiviert Beneš-Dekrete
Die Prager Politik gerät durch einen Richterspruch in eine äußerst peinliche Lage.

Von unserem Korrespondenten HANS-JÖRG SCHMIDT

PRAG. Der 72jährige Helmut Weigel kämpft seit der politischen Wende 1989 um die Rückgabe eines Mietshauses im nordböhmischen Decín (Tetschen), das seinen Eltern gehörte. Da sein Vater ein Sudetendeutscher war, der als Wehrmachtssoldat fiel, wurde das Haus 1946 auf der Grundlage der Beneš-Dekrete konfisziert. Helmut, seinem Bruder und seiner Mutter blieb immerhin die Vertreibung erspart, konnte seine Mutter doch auch tschechische Vorfahren nachweisen.

Der Restitutionsprozeß schien Erfolg zu versprechen. Die Behörden nach dem Krieg hatten den Weigels nämlich keine Urkunde ausgestellt, die die Konfiskation belegen würde. Nach dem Gesetz waren sie somit noch die rechtmäßigen Eigentümer. Eigentlich hätte es daher gar keines Prozesses bedurft, sagt heute der Prager Jurist Stanislav Devaty: „Das Haus wurde nie konfisziert, es muß zurückgegeben werden.“ Im Prozeß selbst stand Weigel aber auf verlorenem Posten. Später erfuhr er auch, weshalb: Der Nachwende-Richter war genau der Mensch, der 1946 fehlerhaft die Enteignung angeordnet hatte.

Jetzt bekommt der Fall noch skurrilere Züge: Anfang April entschied die Richterin Marcela Janusková, Weigel könne erst dann auf Rückgabe klagen, wenn die Behörden mit dem Abstand von 56 Jahren die Konfiskation rechtswirksam machten. Mit anderen Worten: Zunächst müßten in dem konkreten Fall die Beneš-Dekrete umgesetzt werden.

Mit diesem Spruch hat die Richterin der tschechischen politischen Klasse ein böses Kuckucksei ins Nest gelegt. Premier Milos Zeman hatte gegenüber dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder ja versichert, die Dekrete seien „in ihrer Wirkung längst erloschen“ und würden nicht mehr angewandt. Für die deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission sind die Beneš-Dekrete für den angestrebten tschechischen EU-Beitritt daher kein Hindernis mehr.

Der Fall Weigel dürfte jetzt aber vor allem das Europa-Parlament interessieren, wo man vor dem EU-Beitritt Prags alle Zweifel in Bezug auf die Beneš-Dekrete ausgeräumt wissen will.
Quelle: „Die Presse“ (Wien) 2002-05-08
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Rychetsky: Sudetendeutsches Eigentum war Teil der Kriegsreparationen
Bei den Enteignungen der Sudetendeutschen durch die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg habe es sich nicht um Raub, sondern um die Umsetzung der Beschlüsse der Pariser Konferenz über Kriegsreparationen gehandelt, erklärte der tschechische Vizepremier Pavel Rychetsky in einem Interview mit der tschechischen Tageszeitung „Pravo“ (Freitagausgabe).
Prag (APA) – Rychetsky reagierte damit auf eine jüngst geäußerte Behauptung der österreichischen Sudetendeutschen Landsmannschaft (SLÖ).
“Der Wert des Eigentums, das in der Tschechoslowakei auf diese Weise beschlagnahmt wurde, ist im Vergleich zu unseren Reparationsforderungen gering. Er liegt zwischen einem und drei Prozent der Schäden, die uns entstanden sind, und noch im Jahre 1959 haben wir auf einer internationalen Konferenz eindeutig erklärt, daß wir damit (mit der Beschlagnahme des sudetendeutschen Eigentums) nicht auf weitere Ansprüche verzichten“, betonte Rychetsky.
Auf die in der aktuellen Ausgabe des Wochenblattes der Sudetendeutschen Landsmannschaften „Sudetendeutsche Zeitung“ veröffentlichte Behauptung der SLÖ, wonach die Beneš-Dekrete Genozid-Dokumente seien, meinte der Vizepremier, diese Auslegung sei „völlig unsinnig“. „Ich weiß natürlich nicht, welche Dekrete sie meinen, weil es insgesamt 143 Dekrete gegeben hat, und keines davon hat das Abschieben der Deutschen betroffen (...) Ein derartiges Dekret oder ein anderer innerstaatlicher Rechtsakt existiert nicht“, erklärte Rychetsky. Zur „Abschiebung“ der Deutschen sei es auf Grund des Artikel 13 der Potsdamer Konferenz gekommen. Dies sei ein internationales Abkommen, das Österreich, Deutschland sowie andere Länder verpflichte, so Rychetsky.
Zur Behauptung der SLÖ, daß das Europaparlament (EP) mehrmals Tschechien auf die Unzulässigkeit der Beneš-Dekrete aufmerksam gemacht habe, sagte Rychetsky, das EP habe bisher nichts Derartiges getan. „Zunächst ist das ein Entwurf eines Teiles des außenpolitischen EP-Ausschusses. Das EP hat bisher keine Resolution beschlossen und wird sie wahrscheinlich auch nie beschließen, weil jene Abgeordneten der Europäischen Volkspartei aus Österreich und Deutschland in einer deutlichen Minderheit sind“, so Rychetsky gegenüber „Pravo“.
Nach einer Umfrage des Prager Meinungsforschungsinstitutes CVVM sind zwei Drittel der Tschechen für die Aufrechterhaltung der Beneš-Dekrete auch in Zukunft. Nur fünf Prozent wären mit der Aufhebung dieser Dokumente einverstanden. 28 Prozent der Befragten konnten diese Frage nicht beurteilen. Etwa 60 Prozent betrachten die „Abschiebung“ der Sudetendeutschen als gerecht. 20 Prozent meinen, sie sei ungerecht gewesen, allerdings müsse man einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen. Nur fünf Prozent sind überzeugt, daß die „Abschiebung“ ungerecht war und man sich dafür entschuldigen sollte.
Quelle: Tiroler Tageszeitung vom 10.05.2002
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Tschechen gegen Entschuldigung für Vertreibung
dpa Prag. Nur etwa fünf Prozent der Tschechen sind laut einer Umfrage der Ansicht, daß sich Tschechien für die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg entschuldigen müßte. Dagegen seien rund 60 Prozent der Meinung, die Vertreibung sei richtig gewesen, teilte die Agentur CVVM in Prag mit. Einige der unter dem Präsidenten Edvard Beneš (1884-1948) erlassenen Dekrete bildeten die Grundlage für die entschädigungslose Enteignung und Entrechtung der sudetendeutschen und ungarischen Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei.
Quelle: Nordwest-Zeitung vom 10.05.2002
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Die Beneš-Dekrete sind Geschichte   
Von Wladyslaw Bartoszewski
   Die Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten Eduard Beneš, der 1945 die Deutschen und Ungarn in seinem Land entrechtete und – im Einklang mit den Potsdamer Beschlüssen der drei Siegermächte – ihre Vertreibung organisierte, sehen viele als Stolperstein in der politischen Landschaft Europas. Ausschüsse des Bundestages und des Europäischen Parlaments befassen sich mit ihnen, Politiker in mehreren Nachbarländern fordern ihre „Aufhebung“ und verknüpfen das Thema mehr oder weniger direkt mit Tschechiens EU-Beitritt. Vergessen geglaubte Schatten der Vergangenheit drohen die Zukunft unserer Völker zu belasten; wir in Ostmitteleuropa sehen das mit großer Sorge. Der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski sagte, wenn die fast 60 Jahre zurückliegenden Entscheidungen Hitlers, Benešs, Roosevelts, Churchills und Stalins „den Weg unserer Staaten in die Europäische Union blockieren sollten, befänden wir uns in einer schizophrenen Welt“. Der tschechische Präsident Havel warnt die Politiker und Journalisten Europas, nicht „die Geister des Nationalismus und alter historischer Streitigkeiten aus ihren Flaschen zu lassen“.
  Warum sind fast alle tschechischen Politiker heute gegen eine Aufhebung der Dekrete? Zum einen war der bis 1948 amtierende Beneš ihr demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt. [Das glaubt Bartoszewski, und viele Tschechen auch. Nur die Beweislage ist genau das Gegenteil: dem Beneš fehlte JEDE demokratische Legitimation! ML] Als die polnischen Kommunisten mich bereits ins Gefängnis gesteckt hatten – das war 1946 -, genossen Tschechen und Slowaken immer noch demokratische Freiheiten. Uns Polen fällt es leichter, uns von der Vertreibung der Deutschen zu distanzieren, weil es in unserem Falle eine aus Moskau eingeflogene, oktroyierte Clique war, die sie organisierte. [Anmerkung WM: Damit macht es sich Herr Bartoszewski aber sehr einfach!!]  In der Tschechoslowakei dagegen handelte ein demokratisch gewählter Präsident.
  Zweitens fürchten die Tschechen, da in der Beneš-Debatte immer wieder auf die Enteignungen und die erhoffte Rückübertragung von Eigentum hingewiesen wird, daß die Eigentumsverhältnisse umgestürzt werden, sollten die Beneš-Dekrete aufgehoben werden. Diese Furcht würde überall zu einer Verhärtung der Fronten führen. Man muß kein Populist sein, um zu erkennen, daß dieser Mechanismus in jedem Land funktioniert: Sollte jemand die Eigentumsverhältnisse im Elsaß in Frage stellen, würde das zu einer Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen führen! Es würde als Bedrohung der nationalen Substanz empfunden. Warum ist Israels Premier Ariel Scharon, der bei seinem Amtsantritt auf viel Kritik gestoßen war, heute so populär? Wenn ein Volk, zu Recht oder zu Unrecht, eine Bedrohung seiner Substanz fürchtet, solidarisiert es sich mit einer harten Haltung.
  In der Gedenkfeier zum 8. Mai 1995 habe ich vor Bundestag und Bundesrat in Bonn als Außenminister mein Bedauern über das Leid vieler unschuldiger Deutscher ausgesprochen. In Tschechien hat es bisher keine vergleichbare Äußerung gegeben. Nach meiner Rede haben mich tschechische Politiker gefragt, wie meine Worte zu verstehen seien. Ich habe geantwortet, ich halte es mit Vaclav Havels Postulat, „in der Wahrheit zu leben“. Wir in Polen – die Bischöfe, unter ihnen Karol Wojtyla, schon in den sechziger Jahren – haben große Bereitschaft bekundet, die Schattenseiten auch unserer Vergangenheit zu erforschen, obwohl wir unter dem NS-Terror stärker zu leiden hatten als die Tschechen. Der spätere Premier Tadeusz Mazowiecki wurde als Kind mit seiner Familie von den Deutschen aus Plock ins Generalgouvernement vertrieben, sein Bruder kam im KZ ums Leben; Mazowiecki hat später nie darüber gesprochen und ist, seiner Familiengeschichte zum Trotz, zu einem Vorreiter der deutsch-polnischen Aussöhnung geworden.  
  Eine aufrichtige Aussöhnung wünsche ich auch Deutschen und Tschechen. Doch die deutsche Seite begeht einen Fehler, wenn sie dabei historische und moralische mit rechtlichen oder gar finanziellen Fragen zu verknüpfen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte aufgrund möglicher rechtlicher Folgen für die sudetendeutschen Vertriebenen gewaltige Schwierigkeiten, das Münchener Abkommen von 1938 für nichtig oder ungültig zu erklären. Dabei glaubte doch niemand im Ernst, daß sie deswegen an den Rechtspositionen Hitlers festhalte! Die historische und moralische Bewertung muß von rechtlichen Aspekten getrennt behandelt werden.
  Ebenso ist es verfehlt, die Haltung zu den Beneš-Dekreten als Prüfstein für die EU-Reife der Tschechen zu nehmen. Denn dann müßten wir uns Gedanken machen, welche Fehler der letzten 60 Jahren weitere Staaten als nicht salonfähig beziehungsweise prinzipiell rechtsbrüchig und unzuverlässig erscheinen lassen. Und warum nur Fehler der letzten 60, warum nehmen wir nicht 80 Jahre? Es gibt keine Norm, die uns vorschreiben würde, bei 60 Jahren aufzuhören.
  Viele Völker in Europa, deren Regierungen nach dem Ersten Weltkrieg den Vertrag von Versailles unterzeichnet haben, leben heute in guter Nachbarschaft. Was nicht bedeutet, daß alle die Bestimmungen dieses Vertrags für richtig und gerecht halten. Viele Historiker, nicht nur deutsche, sehen im Vertrag von Versailles einen Grund für das Unglück, das später über Europa gekommen ist. Will deshalb jemand den Vertrag von Versailles rückwirkend aufheben? Oder sollten wir bei der rechtlichen Rekonstruktion der Vergangenheit, beim Aufrechnen der Ansprüche ganzer Generationen, bei den Teilungen Polens beginnen? Damit kämen wir sicherlich ins Guiness-Buch der Rekorde: mit einem Rekord an Dummheit.
Aus dem Polnischen von Gerhard Gnauck
Wladyslaw Bartoszewski, Vorsitzender der Behörde zur Pflege der Mahnmale in Polen, war bis 2001 Außenminister
Quelle: Die Welt vom 10.05.2002
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Historiker klagt: Beiden Seiten fehlt der Blick für das gemeinsame Leid
Wahlkampfzeit in Prag. Und wieder müssen die Beneš-Dekrete, mit denen die Vertreibung von rund drei Millionen Sudetendeutschen legitimiert wurde, für nationale Stimmung sorgen.
Prof. Ferdinand Seibt, Kenner der deutsch-tschechischen Vergangenheit, nennt die neu aufgeflammte Debatte „sehr bedauerlich“. Der international angesehene Historiker, der heute seinen 75. Geburtstag feiert, lehrte bis 1992 an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Wissen und sein Engagement stellte er stets auch in den Dienst von Vergangenheitsbewältigung und Verständigung zwischen Tschechen und Deutschen.
Seibt war Mitglied der tschechoslowakisch-deutschen Historikerkommission, die sich mit der gemeinsamen Vergangenheit befaßte. „Bei einer Tagung der Kommission haben wir bereits 1995 festgehalten, daß jede Vertreibung gegen die Menschenrechte verstößt. Das haben auch die tschechischen Kollegen akzeptiert.“ Doch einige Spitzenpolitiker würden immer wieder mit Hilfe der Beneš-Dekrete Stimmung machen, und leider gelinge es ihnen auch.
Die Hoffnungen auf Versöhnung, die sich 1990 mit dem jungen Präsidenten Vaclav Havel verbunden hätten, erfüllten sich nicht: „Havels Politik hat sich nicht durchgesetzt, radikale Positionen wurden stärker“, sagt Seibt. Das Wort „Vertreibung“ sei für tschechische Ohren bis heute ein Tabu, und gleichzeitig ein Schlüsselbegriff fehlender Vergangenheitsbewältigung. Auch auf deutscher Seite. Havels Versöhnungsangebot habe zwar der deutsche Bundespräsident damals freudig begrüßt, sei jedoch auf „trotziges Schweigen“ bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft gestoßen. Auf beiden Seiten fehle der Blick für das gemeinsame Leid, so Seibt.
Derzeit warnen tschechische Politiker wieder vor einer „Umkehrung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs“, sollten die Beneš-Dekrete für nichtig erklärt werden. Für Seibt ist dies Propaganda vor der Parlamentswahl im Juni. Dabei würden die Parteien nicht vor der „völlig absurden Behauptung“ zurückschrecken, die Deutschen wollten zurückkehren und ihren Besitz wiederhaben. Diesseits der Grenze dürfe man aber nicht glauben, so Seibt, daß alle Tschechen die harten Töne unterschreiben würden. Entlang der 1000 Kilometer langen Grenze zu Deutschland und Österreich seien die Kontakte normal und häufig. Die deutsche Politik sei gut beraten, wie bisher mit Zurückhaltung auf dieses Thema zu reagieren. Seibt: „Dies ist ein Stück politischer Weisheit.“
Zwar sei in der jüngsten Vergangenheit erneut viel Porzellan zerschlagen worden, doch hege er die Hoffnung, „daß sich dieser Streit im Zuge der europäischen Einigung langsam auswächst“.
Von Christopher Onkelbach 
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 10.05.2002
===============Radio Prag 2002-05-13===================
Carnogursky: Slowakei lehnt Aufhebung der Beneš-Dekrete ab
Die Slowakische Republik lehnt die Bemühungen um Schritte zur Aufhebung der Beneš-Dekrete ab. Dies erklärte der slowakische Justizminister Ján Carnogurský am Montag nach dem Treffen mit seinem tschechischen Amtskollegen Jaroslav Bures in Prag.
===============mitgeteilt von Walter Mogk:================
Vertreibung und Nationalstaatsgedanke – von Antje Vollmer (NZZ)
Edvard Beneš, ein Kind seiner Zeit
In einem Beitrag in der NZZ hatte der tschechische Präsident Vaclav Havel unlängst zur Diskussion um die sogenannten Beneš-Dekrete Stellung genommen, in deren Rahmen nach dem Zweiten Weltkrieg die Sudetendeutschen aus ihren böhmischen Siedlungsgebieten vertrieben worden waren. Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, zeichnet in ihrem Beitrag über den damaligen Präsidenten Beneš die Hintergründe und Zeitumstände nach, die zu den höchst umstrittenen Beschlüssen führten. Um die verhängnisvolle Kraft eines extremen Nationalismus zu brechen, plädiert sie für die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes für Minderheiten, vor dem Minderheiten ihre anerkannten Rechte einklagen können, vor dem aber auch ein Nationalstaat seine Position gebührend vertreten kann.

Von Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Kürzlich fragte der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel an dieser Stelle (NZZ vom 19. 4. 2002), was die Vertreibungspolitik des einstigen tschechoslowakischen Präsidenten Beneš möglich gemacht habe. Er warnte davor, Beneš zu einem europäischen Sündenbock zu machen. Tatsächlich war Edvard Beneš seit seinem Leben im Exil von einer für seine Zeit typischen Grundüberzeugung getrieben: der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaats. Dieses politische Phantasma, das nach dem Ersten Weltkrieg auf fatale Weise mit dem «Selbstbestimmungsrecht der Völker» verbunden wurde, prägte das Denken und Handeln von Edvard Beneš. Nur weil diese Wahnidee von den meisten westlichen Politikern geteilt wurde, stieß Beneš' Vertreibungspolitik auf so wenig Widerstand, ja geradezu auf Unterstützung in Amerika und Europa.

Spätfolgen der Französischen Revolution
Wo liegen die historischen Ursachen? Nur wer die Gründe des Entstehens falschen Denkens begreift, wird es am Ende besiegen können. Genau genommen handelt es sich bei dem Phänomen Beneš um eine Spätfolge der Französischen Revolution. Durch sie verbreitete sich der Nationalstaatsgedanke in Europa wie ein Lauffeuer. Die Revolution war überfällig und befreiend, weil sie die radikaldemokratischen Gedanken von Freiheit, Gleichheit und Solidarität in die Welt setzte. Zugleich barg der Primat der Volkssouveränität aber neue Gefahren für das friedliche politische Zusammenleben der europäischen Völker. Plötzlich und unvorbereitet wurde das bis dahin politikferne, von feudalen Eliten beherrschte Volk erstmals umfassend politisches Subjekt, organisiert im revolutionär geschaffenen neuen Nationalstaat. Die Folge: Neben dem emanzipatorischen Freiheitsgedanken prägte ein nationalistischer Populismus die Zeit der Französischen Revolution – dies war die dunkle, gefährliche Seite dieser Befreiung. Die Einheit der Nation wurde gegen die zahlreichen inneren Gegner und die äußere Bedrohung durch angeblich rückständige Mächte mit demagogischen Mitteln und oft auch krassen nationalistischen Ressentiments beschworen.

Nationale Selbstbestimmung und Zerfall
Die Nation einen und für sich erhalten! Edvard Beneš war wie fast alle westlichen Politiker von diesem Gebot geprägt. Einschneidend waren für ihn die Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg. Denn die Nation als «imaginierte Gemeinschaft» (Benedict Anderson) wurde nun zur herrschenden Idee in der westlichen Welt; deshalb konnte die Tschechoslowakei überhaupt erst entstehen. 1918 mußte den Tschechoslowaken ihr eigener Nationalstaat wie ein plötzliches Geschenk vorkommen. Masaryk hatte um die Jahrhundertwende nie damit gerechnet.

Ihm erschien damals eine Lösung nach dem ungarischen Modell, also mehr Unabhängigkeit innerhalb des Vielvölkerstaats, als durchaus lohnendes Ziel. Zahlreiche weitere Nationalstaaten entstanden als Nachfolgestaaten der zerfallenen Donaumonarchie oder als neue souveräne Randstaaten Rußlands. Diese entfesselte nationale Dynamik und Energie verdankte sich der neuen völkerrechtlichen Maxime des «Selbstbestimmungsrechts der Völker». Diese Forderung, in Woodrow Wilsons 14-Punkte-Plan ebenso enthalten wie in Lenins Revolutionsprogramm, wurde pathetisch mit dem Nationalstaatsgedanken verbunden: Jede einzelne Volksgruppe und Ethnie konnte sich nunmehr berufen fühlen, einen eigenen Nationalstaat zu fordern oder – wie im Fall der Sudetendeutschen – wieder mit ihrer ursprünglichen Volksgruppe zusammengeschlossen zu werden. Das friedliche Zusammenleben in Vielvölkerstaaten und das innereuropäische Gleichgewicht der Großmächte gingen dabei zwangsläufig zu Bruch. Die Verabsolutierung des Prinzips nationaler Selbstbestimmung führte zum Zerfall Europas in zahlreiche Einzel- und Zwergnationen, die teilweise untereinander in heftigem Bruderstreit lagen.

Edvard Beneš befand sich also in bester Gesellschaft und im Common Sense seiner Zeit; von Wilson bis Roosevelt, von Churchill bis Chamberlain fand diese Idee Unterstützung. Zugleich erhofften sich die Großmächte vom exzessiven «Nation Building» Standortvorteile und Kontrollmöglichkeiten nach dem Motto «Divide et impera!», «Teile und herrsche!».

Lehren aus den Irrtümern
Die nationale Identität eines Staates kann im Extremfall nur durch den Ausschluß anderer ethnischer Gruppen vollendet werden. Extrem nationalistische Bewegungen sind deshalb in der Tendenz immer Vertreibungsbewegungen. Hier liegt die Aktualität der auf den ersten Blick rückwärts gewandten Debatte um Edvard Beneš. Denn die Situation nach dem Ende des Kalten Krieges ähnelt der Situation am Ende der Habsburgermonarchie. Neue Nationalstaaten entstehen – und wie die ethnischen Exzesse in Ex-Jugoslawien zeigten, kann das Phantasma eines ethnisch reinen Nationalstaats auch heute noch problematische Auswirkungen haben. Man denke nur – so unterschiedlich die jeweilige Situation auch ist – an das Kurdenproblem, an Tibet, an die Basken und Tschetschenen. Die Idee der homogenen Nation hat längst ihre Unschuld verloren. Und doch ist sie, ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auch in der jetzigen Etappe eine der wichtigsten Leitideen politischen Handelns. Im Glücksfall bringt sie neue überlebensfähige Staaten hervor, im Unglücksfall Bürgerkriege, Pogrome, Gewalt und Terror. Selbst im Zeitalter der Globalisierung hat extremer Nationalismus seine Verführungskraft als einigendes Band nicht verloren. So bleibt denn auch der europäische Einigungsprozeß nach wie vor von ressentimentgeladenen Kampagnen bedroht. Heute polemisieren Populisten wie Haider, Schill und Le Pen gegen «die da oben» und stellen das eigene Volk über andere. Sie reihen sich damit wie Beneš direkt in eine Ideengeschichte ein, die Europa immer bedroht hat.

Die wichtigste Lehre aus den Fehlern des Präsidenten Beneš muß darum lauten: «Wir dürfen den Nationalstaatsgedanken und die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker nie wieder absolut setzen!» Denn das politische Konzept, in zerfallenden Gebieten immer neue Nationalstaaten und Mini-Nationalstaaten zu gründen, ist begrenzt und oft genug eine Bedrohung für das friedliche Zusammenleben. Ethnisch homogene Staaten sind keineswegs die politisch stabileren Gebilde.

Selbstbestimmung ohne Nationalstaat
Es gibt aber einen Weg, unterdrückten Minderheiten, Volksgruppen und Ethnien eine erstrebenswerte Zukunft zu eröffnen: Man muß eine legale Adresse in der Völkergemeinschaft schaffen, an die sie sich wenden können, um ihr Recht zu suchen. Es muß einen Weg zu «Selbstbestimmung» und kultureller Autonomie unterhalb der Schwelle des eigenen Nationalstaats geben. Mein Vorschlag lautet deshalb, daß wir einen Internationalen Gerichtshof für Minderheiten schaffen. An diese Instanz können sich Minderheiten wenden, die ihre Rechte im Rahmen eines Staates verletzt sehen. Sie können dort Klage erheben und auf Zuerkennung der international für Minderheiten üblichen Rechte plädieren. Der beschuldigte Nationalstaat muß ebenfalls gehört werden; Minderheiten, die selbst zu Gewalt und Terror greifen, haben ihr internationales Schutzrecht verwirkt. Wenn wir solch eine legale Instanz verwirklichen, haben wir die richtigen Lehren aus den Irrtümern von Edvard Beneš und seinen vielen noblen Zeitgenossen gezogen.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 11.05.2002
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MINDERHEITEN / Völkerrecht
„Dekrete widersprechen EU-Werten“
Beneš-Dekrete sind laut Studie des Südtiroler Volksgruppeninstituts noch wirksam
Bozen/Prag (sch) – Es gebe in Tschechien infolge der Beneš-Dekrete „sehr wohl gegenwärtig noch direkte und indirekte Auswirkungen diskriminatorischer Art auf die deutsche Minderheit“, schreiben Univ.-Prof. Christoph Pan und Beate S. Pfeil vom Südtiroler Volksgruppeninstitut (SVI) in einer Studie.Der offiziell in Tschechien vertretene Standpunkt, die Beneš-Dekrete seien in der Zeit nach ihrer Veröffentlichung realisiert worden und auf ihrer Grundlage könnten keine neuen Rechtsbeziehungen entstehen, sei irreführend, schreiben Pan und Pfeil in der Studie.

Daß sie nach wir vor gültig sind, hat die tschechische Abgeordnetenkammer erst am 24. April dieses Jahres einstimmig bekräftigt. Der Standpunkt, daß sie keine Rechtswirksamkeit mehr hätten, sei „bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, allerdings nur mit einer gehörigen Portion Zynismus“, schreiben Pan und Pfeil, ist doch die rund 3,5 Millionen umfassende deutsche Minderheit bereits 1945 enteignet, vertrieben oder ermordet worden. Eine weitere Rechtswirkung entfalle daher mangels Zielgruppe.
Bisher vernachlässigt wurde laut Pan und Pfeil die minderheitenrechtliche Fragestellung: „Entgegen der offiziellen Auffassung in Tschechien sind gegenwärtig sehr wohl noch diskriminatorische Auswirkungen der Beneš-Dekrete auf die deutsche Minderheit festzustellen, welche sowohl gegen völkerrechtliche Normen des Minderheitenschutzes als auch gegen tschechisches Recht verstoßen“. Das Beneš-Dekret Nr. 5 hatte Angehörige der deutschen und ungarischen Nationalität kollektiv zu „staatlich Unzuverlässigen“ abgestempelt. Die heute auf knapp 50.000 Angehörige bezifferte verbliebene deutsche Volksgruppe sei infolgedessen nach wie vor in ihrem Recht auf Identität schwer beeinträchtigt. Sie habe auf den Druck mit einem Verhalten reagiert, wie es für sozial Geächtete typisch sei: „Wohlverhalten um jeden Preis, nirgendwo anecken, außerhalb des familiären Intimkreises nicht als Angehöriger dieser sozial ausgegrenzten Gruppe erkennbar werden“.
Sehr problematisch sei auch das Restitutionsgesetz 87/91. Offiziell sieht es die Rückgabe enteigneten Eigentums vor. Es wurden aber alle nur denkbaren Vorkehrungen getroffen, damit es ausschließlich von jenen in Anspruch genommen werden kann, die nach 1948, also unter dem kommunistischen Regime, enteignet wurden, nicht aber von jenen, deren Enteignung 1945/46 in den Beneš-Dekreten verfügt wurde.
Tschechisches Rechtssystem diskriminiert die deutsche Minderheit
Die Auswirkungen der Beneš-Dekrete seien auch heute noch schwerwiegend für die weit verstreute, kaum überlebensfähige, praktisch ohne politische Vertretung lebende deutsche Minderheit: „Sie wirken sich als Entwicklungshemmer ersten Ranges aus, mit verheerenden Folgen für den sprachlich-kulturellen Fortbestand der deutschen Minderheit in Tschechien. So wird die wirklich effiziente Umsetzung von Minderheitenschutzbestimmungen auf diese Weise zum Teil schon auf der ersten Stufe, nämlich bei der Bedürfnisartikulierung durch die Minderheit selbst, unmöglich gemacht“.
Das Ende der deutschen Minderheit in Tschechien sei absehbar, wenn nicht besondere positive Maßnahmen ergriffen würden. Dazu müßten aber als erster Schritt die Beneš-Dekrete aufgehoben werden.
„Das ausdrückliche Festhalten Tschechiens am kritisierten Teil der Beneš-Dekrete ... führt zu einer bewußten Perpetuierung der kollektiven Entrechtungs-, Enteignungs- und Vertreibungsfolgen“, schreiben Pan und Pfeil weiter.
„Die Tschechische Republik leistet dadurch einen aktiven und entscheidenden Beitrag zum Sterben der deutschen Minderheit, womit sie sich dem Vorwurf aussetzt, als Rechtsstaat einen Ethnozid verursacht zu haben.“

Christoph Pan/Beate S. Pfeil
„Aus minderheitenrechtlicher und minderheitenpolitischer Sicht gibt es zwingende und sehr gute Gründe, die völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Bestimmungen der Beneš-Dekrete formell außer Kraft zu setzen, ohne daß damit die europäische Nachkriegsordnung angetastet wird“, schreiben Pan und Pfeil in ihrer Schlußfolgerung:
„1. ihre fortwährend diskriminatorische Wirkung auf die deutsche Minderheit,
2. der Schaden, den sie dem internationalen Ansehen und der Selbstachtung der tschechischen Nation zufügen,
3. die Belastung, welche sie für die Beziehungen zwischen der tschechischen Titularnation und der deutschen Minderheit bedeuten,
4. die Belastung, welche daraus für die Nachbarschaftsbeziehungen der Tschechischen Republik erwächst,
5. ihre völlige Entbehrlichkeit, wenn sie – wie nach offizieller tschechischer Diktion ständig behauptet wird – ohnehin keine neuen Rechtswirkungen erzeugen (sollen).“

MINDERHEITEN / Völkerrecht (2)
Tschechien und die EU
Die Studie des SVI als Stellungnahme zu einem EU-Gutachten
Bozen (sch) – Die Beneš-Dekrete sind anläßlich des bevorstehenden EU-Beitritts der Tschechischen Republik wieder aktuell geworden. Mit seiner Studie will das Volksgruppeninstitut einen Beitrag zur Debatte im Europäischen Parlament leisten und die spezifisch minderheitenpolitische Sicht einbringen.Zur Frage, ob die Beneš-Dekrete mit den Grundwerten der Europäischen Union vereinbar sind, will der Außenpolitische Ausschuß des EU-Parlaments bis zum Sommer 2002 einen Standpunkt erarbeiten. Grundlage soll ein Gutachten sein, das bei Prof. Jochen Frowein, dem Direktor des Max- Planck-Instituts für Völkerrecht in Heidelberg, in Auftrag gegeben wurde.
Die Studie von Christoph Pan und Beate S. Pfeil „Die Beneš-Dekrete und ihre gegenwärtigen Rechtswirkungen auf die deutsche Minderheit in Tschechien“ ist eine Stellungnahme zu diesem Gutachten.
Einer der Gründe, warum Christoph Pan und Beate S. Pfeil die Studie erstellt haben, ist die lange Tradition und Erfahrung, die Südtirol im Allgemeinen und das Volksgruppeninstitut im Besonderen mit Minderheiten und Minderheitenfragen haben. Auch im Sinne der Solidarität mit einer kleinen Minderheit, der es nicht so gut geht, haben sie sich mit der Frage beschäftigt.
Im selben Sinne hat der Südtiroler Europaparlamentarier Michl Ebner sofort seine Unterstützung zugesichert. Er hat auch die Studie am 3. Mai dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pat Cox, sowie dem Präsidenten des Außenpolitischen Ausschusses des Europäischen Parlaments, Elmar Brok, mit der Bitte zugesandt, sie im Rahmen des offiziellen Begutachtungsverfahrens dem Hauptgutachter Prof. Frowein weiterzuleiten.

Beneš-Dekrete
Bozen – Der Präsident der Tschechischen Republik Edvard Beneš unterzeichnete nach Kriegsende 1945 eine Reihe von Dekreten zur Enteignung und Vertreibung der Angehörigen der deutschen und der ungarischen Volksgruppe in der Tschechoslowakei.
Sämtliche Gewalttaten, die in diesem Zusammenhang an den tschechischen Bürgern deutscher und ungarischer Nationalität begangen wurden, einschließlich Mord und Totschlag, wurden außerdem durch Gesetz nicht nur frei von Strafe gestellt, sondern sogar ausdrücklich für „nicht widerrechtlich“ erklärt, womit „den selbsternannten Roten Garden und Banditen ein Freibrief“ ausgestellt und schwere Verbrechen legalisiert wurden.
Von insgesamt 143 Dekreten betreffen etwa 15 die kollektive Entrechtung, Enteignung und Vertreibung der Bürger deutscher und ungarischer Abstammung. Im Zuge dieser von der Staatsführung der Tschechoslowakei veranlaßten „ethnischen Säuberungsaktion“ wurden rund 3,5 Millionen tschechoslowakische Bürger deutscher Abstammung ihres Eigentums beraubt, ausgebürgert und gewaltsam vertrieben. Schätzungen zufolge kamen 241.000 davon ums Leben, durch Mord, Selbstmord, Erschöpfung und Mißhandlung.

Ethnische Säuberung: 3,5 Mio. Deutsche enteignet und vertrieben, 240.000 kamen ums Leben
Ausgenommen wurden nur jene wenigen, die „sich nachweislich aktiv an der ‚Befreiung der Tschechoslowakei‘ beteiligt, also am Widerstand teilgenommen hatte(n), oder wer bereit war, sich von seiner deutschen (oder ungarischen) Nationalität loszusagen. Unschuld allein, d. h. keine Beteiligung an den Nazi-Aktivitäten, genügte somit nicht. Auch der Wechsel der sprachlich-kulturellen Identität war erforderlich“ (Pan/Pfeil).“Durch die Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden und vor allem durch den Totalentzug der Lebensgrundlagen ist der Tatbestand des Völkermords im Sinne von Art. 2 der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. 12. 1948 gegeben“, schreiben Pan und Pfeil und stützen sich dabei auf ein Gutachten des angesehenen Völkerrechtlers Felix Ermacora aus dem Jahre 1991.
Quelle: Dolomiten vom 11.05.2002
================Radio Prag 2002-05-14=======================
Europa-Parlament wendet sich an Experten wegen den Beneš-Dekreten
Die Vorsitzenden des Europa-Parlaments haben entschieden, sich wegen den sog. Beneš-Dekreten an unabhängige Experten zu wenden. Diese sollen erörtern, ob die Dekrete des ehemaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš aus dem Jahre 1945 mit dem EU-Recht kompatibel sind. Dies gab am Dienstag ein Sprecher des Parlamentsvorsitzenden bekannt. Die Experten werden innerhalb von zwei Wochen bestimmt und sollen bis Mitte Juli die Ergebnisse ihrer Arbeit der Leitung des Europa-Parlaments vorlegen, teilte er mit.
================Radio Prag 2002-05-15=======================
Studie über Dekrete und Vertreibung veröffentlicht
Die tschechische Regierung hat am Mittwoch ihre Studie über die umstrittenen Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Darin betont das sozialdemokratische Kabinett, viele Dekrete seien bereits gestrichen worden. Aus den verbliebenen Normen könnten keine neuen Rechtsbeziehungen mehr entstehen. Sie seien daher keine Hürde für den angestrebten Beitritt zur EU. Die Vertreibung sei von den Siegermächten im August 1945 in Potsdam gebilligt worden, heißt es in der Expertise, die die Zeitung „Pravo“ am Mittwoch abdruckte.
=================Radio Prag 25002-05-16=============================
Kritik an mährischem Bischof wegen Teilnahme an Vertriebenentreffen
Der Erzbischof der nordmährischen Stadt Olomouc /Olmütz, Jan Graubner, ist wegen der geplanten Teilnahme am „Sudetendeutscher Tag“ am Sonntag in Nürnberg in die Kritik geraten. Führende Politiker der Sozialdemokraten sowie der Konservativen in Prag warfen dem Geistlichen vor, „anti-tschechische Interesse zu unterstützen und sich vor den Wagen von Revanchisten spannen zu lassen“. Graubner wies die Kritik zurück. Die Teilnahme an der Pontifikalmesse solle die Versöhnung vorantreiben, sagte er am Donnerstag. Er wäre der erste hohe tschechische Geistliche, der während eines „Sudetendeutschen Tags“ eine Messe zelebriert.
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„Haus der deutsch-tschechischen Verständigung“ in Krnov
In der nordmährischen Stadt Krnov (Jägerndorf) haben am Donnerstag frühere deutsche Bewohner des Ortes mit tschechischen Einwohnern ein „Haus der deutsch-tschechischen Verständigung“eröffnet. Die Einrichtung solle Symbol dafür sein, daß beide Völker bald gemeinsam in der EU sein würden, hieß es bei dem Festakt. Viele aus Krnov Vertriebene leben heute in der bayerischen Stadt Memmingen.
=================Radio Prag 2002-05-17=======================
Sudetendeutsche gegen Beneš-Dekrete
Die sogenannten Beneš-Dekrete seien widerrechtlich und müßten vom Anfang an für ungültig erklärt werden. Vor dem traditionellen sudetendeutschen Treffen am kommenden Wochenende in Nürnberg sagte dies am Freitag auf einer Pressekonferenz der Sprecher der Sudetendeutschen und Vorsitzende des bayrischen Landesparlaments Johann Böhm. Er verwies auf riesige Eigentumsverluste, die die Sudetendeutschen erlitten haben. „Es ist nicht möglich, davon nicht zu sprechen,“ sagte Böhm.
=============Radio Prag 2002-05-18=================
Deutscher Bundesinnenminister Schily forderte zur Rücknahme der Beneš-Dekrete auf
Der deutsche Bundesinnenminister Otto Schily hat auf dem Sudetendeutschen Tag in Nürnberg am Samstag bestätigt, daß der EU-Beitritt Tschechiens mit Forderungen aus der Vergangenheit nicht belastet werden darf. Gleichzeitig forderte er aber die Tschechische Republik auf, die umstrittenen Beneš-Dekrete zur Vertreibung der Sudetendeutschen in der Zukunft aufzuheben, ohne daß daraus neue Besitzansprüche entstehen könnten.
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Vizepremier Spidla für Entschädigung bestimmter Vertriebener
Der tschechische Vizepremier Vladimir Spidla hat sich für eine Entschädigung bestimmter deutscher Vertriebener ausgesprochen. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds sollte über eine solche „humanitäre Geste“ diskutieren, sagte er am Samstag in Prag. Als Beispiel nannte er deutsche Antifaschisten, die zu Unrecht aus der Tschechoslowakei vertrieben worden seien. Für seine Aussage für die Samstag-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, die Vertreibung sei „eine Quelle des Friedens“ nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entscheidung der Alliierten „politisch weitsichtig“ gewesen, war Spidla während des „Sudetendeutschen Tages“ in Nürnberg kritisiert worden. Der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, nannte Spidlas Äußerungen „verkrustetes und verkalktes Denken“. Solcher Ungeist dürfe nicht in die Europäische Union eingeschleppt werden, sagte Posselt.
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Gutachten sieht in Dekreten kein Hinterniß für EU-Beitritt
Die Beneš-Dekrete stellen nach einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages laut „Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung“ kein Hindernis für einen Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union dar. Nicht festlegen wollten sich die Gutachter demnach, inwiefern Prag nach einem EU-Beitritt zu rechtlichen Veränderungen gezwungen sein könnte.
=================Radio Prag 2002-05-19=======================
Stoiber stellt Europatauglichkeit Tschechiens in Frage
Der deutsche Kanzler-Kandidat und bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat die Tschechische Republik aufgefordert, die sog. Beneš-Dekrete aufzuheben. Wie in den vergangenen Jahren, hat er den EU-Beitritt Tschechiens von diesem Schritt nicht abhängig gemacht. Er sagte jedoch am Sonntag auf dem 53. Sudetendeutschen Tag in Nürnberg, wer im Jahr 2002 in Europa Vertreibung und Entrechtung verteidige, die über 57 Jahre zurückliegen, der müsse sich von allen Europäern fragen lassen, wie europatauglich er sei. Der Bundesregierung warf Stoiber Untätigkeit gegenüber den Anliegen der Heimatvertriebenen vor. Tschechische Politiker erklärten in Reaktion auf Stoibers Äußerungen, sie wollten sich nicht mehr mit den Beneš-Dekreten befassen.
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Brüssel: Beneš-Dekrete sind kein Gegenstand des Beitrittsprozesses
Die Beneš-Dekrete zur Vertreibung der Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei haben keine Auswirkungen auf die Entscheidung über eine Aufnahme Tschechiens in die EU. Das machte ein Sprecher des für die Erweiterung zuständigen EU-Kommissars Günter Verheugen am Sonntag deutlich. Es müsse aber gewährleistet sein, daß die heutige tschechische Rechtsordnung und Rechtspraxis im Einklang mit dem europäischen Recht stehe. Dies überprüfe die EU-Kommission sehr genau, und auch Tschechien überprüfe zur Zeit seine Gesetzgebung, sagte Verheugens Sprecher Jean-Christoph Filori.
=================Radio Prag 2002-05-20==============
Tschechisches Außenministerium Deutsches will Gutachten zu Beneš-Dekreten analysieren
Das tschechische Außenministerium müsse das im Auftrag des deutschen Bundestags erstellte und ihm vorliegende Gutachten zu den sogenannten Beneš-Dekreten vorerst eingehend studieren, vertrete aber schon jetzt nach einem ersten Einblick in den Wortlaut des Dokumentes die Meinung, daß dieses nicht der tschechischen Argumentation betreffs der Dekrete widerspreche. Dies sagte am Montag der Sprecher des Außenministeriums Ales Pospisil gegenüber der Nachrichtenagentur CTK, er wollte jedoch auf einen ausführlichen Kommentar vorläufig nicht eingehen.
=================Radio Prag 2002-05-22===================
Europa-Parlamentarier billigten Resolution mit Bemerkung über Beneš-Dekrete
Der Außenpolitische Ausschuß des Europaparlaments hat am Dienstag in Brüssel den Resolutionsentwurf über die EU-Erweiterung gebilligt, der in seinem Teil über die Tschechische Republik einen Absatz bezüglich der Beneš-Dekrete enthält. Darin heißt es: Für den Fall, daß die tschechische Rechtsordnung „zum Beispiel auf Grund dieser Dekrete“ immer noch „diskriminierende Formulierungen“ enthalte, die dem EU-weit geltenden Recht wiedersprächen, müßten diese spätestens bis zum Beitritt Tschechiens zur EU beseitigt werden. Eine endgültige Stellungnahme behalten sich die Parlamentarier vor, bis ein Rechtsgutachten Klarheit schafft. Der tschechische EU-Botschafter Libor Secka äußerte sich zufrieden mit dieser Kompromißlösung. Seinen Worten zufolge handelt es sich um einen Kompromiß, der eigentlich die tschechische Haltung widerspiegelt. Der gebilligte Entwurf erinnere an den Standpunkt des tschechischen Parlaments und des tschechischen Kabinetts, daß aufgrund der Dekrete keine neuen Rechtsverhältnisse entstehen dürfen, hieß es. Premier Milos Zeman ließ gegenüber der Nachrichtenagentur CTK verlauten, er meine, die von dem Ausschuß gebilligte Formulierung sei annehmbar.
=================Radio Prag 2002-05-23====================
EU-Kommission wünscht Entkrampfung der Debatte über Beneš-Dekrete
Der tschechische Premier Milos Zeman ist am Donnerstag in Brüssel mit Roman Prodi, dem italienischen Chef der Europäischen Union, zusammen getroffen. Aus diplomatischen Quellen wurde bekannt, daß beide Gesprächspartner dabei über die Fortschritte der Tschechischen Republik auf deren Weg zum geplanten EU-Beitritt, und dabei u.a. auch über den für Tschechien wichtigen Inhalt des diesjährigen EU-Fortschrittsberichtes gesprochen hätten. Die EU-Kommission hatte sich im Vorfeld dieses Treffens zudem beunruhigt über die wieder heftig entflammte Debatte zu den umstrittenen Beneš-Dekreten geäußert. „Natürlich macht uns das Sorgen“, sagte ein Kommissionssprecher am Donnerstag in Brüssel und forderte eine Entkrampfung der Diskussion. Die EU-Kommission hat wiederholt klargestellt, daß die Dekrete des früheren tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš über Enteignung und den Entzug der Staatsbürgerschaft kein Gegenstand der Beitrittsverhandlungen seien. Diese Dekrete hatten zur gewaltsamen Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geführt. Nach Ansicht der Kommission entfalten sie aber heute keine neuen Auswirkungen mehr.
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Prag nennt erstmals Details zu möglicher Entschädigung Vertriebener
In der Diskussion um eine Entschädigung bestimmter Sudetendeutscher hat die tschechische Regierung erstmals Details der geplanten „humanitären Geste“ veröffentlicht. Grundsätzlich sollte es sich bei den Empfängern um Antifaschisten handeln, die in NS-Gefängnissen oder Konzentrationslagern waren und nach dem Krieg „irrtümlich“ von Prag enteignet und vertrieben worden seien, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Pavel Rychetský in einem Gespräch für die tschechische Tageszeitung „Pravo“, das am Donnerstag veröffentlicht wurde. Als Summe nannte er einen Betrag „nicht niedriger als 50.000 Kronen“ (etwa 1.600 Euro). Die Zahl möglicher Empfänger hatte Regierungschef Milos Zeman am Montag auf „maximal hundert“ geschätzt. Zahlungen an Nachkommen der Opfer lehnte Rychetský ab.
Da bin ich aber erleichtert: Ganze 100 irrtümliche Enteignungen hat es 1945/1946 gegeben – bei 3500000 enteigneten und vertriebenen Sudetendeutschen. Das ist eine Trefferquote von 99,99715 Prozent. Dann macht es sicherlich nichts aus, daß die Tschechen großzügig 160.000 €uro locker machen – oder etwas weniger, da ja die Erben verstorbener „Irrtümer“ leer ausgehen sollen. Oh, welch noble Geste der Gerechtigkeit der Hohen Herren in Prag! ML
=================Radio Prag 2002-05-25====================
Jugendverbände aus Tschechien und Deutschland kritisieren Politiker
Mit der Forderung, die Politiker aus Tschechien und Deutschland sollten sich verantwortungsvoll verhalten und die sog. Beneš-Dekrete nicht für den Wahlkampf mißbrauchen, haben sich am Samstag Vertreter von Jugendorganisationen aus beiden Ländern an die Politiker gewandt.
Sie verlangten des weiteren, die destruktiven Auseinandersetzungen, Beleidigungen und Ultimaten zu beenden und sich endlich der Zukunft zuzuwenden. Die Erklärung erarbeiteten der „Verband für Kinder und Jugendliche in der Tschechsichen Republik“ und der „Deutsche Bundesjugendverband“.
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Prag und Bratislava lehnen österreichischen Teilungsversuch ab
Der tschechische Premier Milos Zeman und der slowakische Außenminister Eduard Kukan lehnen die österreichischen Versuche ab, die beiden Staaten in der Frage der umstrittenen Beneš-Dekrete auseinander zu dividieren. Die Dekrete beträfen die gesamte damalige Tschechoslowakei und den Versuch einer Unterteilung betrachte er daher als naiv, erklärte Zeman am Samstag gegenüber Journalisten.
Die österreichische Außenministerin Ferrero-Waldner hatte am Freitag in Bratislava verkündet, die Ablehnung der Kollektivschuld seitens des slowakischen Nationalrates Anfang der 90er Jahre sei der Hauptgrund für die unterschiedliche Vorgehensweise Österreichs gegenüber der Tschechischen bzw. der Slowakischen Republik.
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„Beneš-Dekrete gehören zum Fundament der Europäischen Union“
Prager Außenministerium: Verhandlungen kommen nicht in Frage
kps. PRAG, 24. Mai.
Die Europäische Union habe ihr Fundament in der europäischen Nachkriegsordnung, zu der auch die „Dekrete des Präsidenten der Republik aus den Jahren 1940-1945“ gehörten. Nicht die Beibehaltung der Beneš-Dekrete als Teil der tschechischen Rechtsordnung, sondern die Forderung nach ihrer Aufhebung stelle daher die „Grundlage der Union und den Gedanken der europäischen Integration selbst in Frage“. Das ist die Kernaussage eines umfangreichen Dokuments des tschechischen Außenministeriums, das in diesen Tagen an Politiker und Diplomaten der EU-Mitgliedstaaten verteilt wird und das dieser Zeitung im Wortlaut vorliegt. Unter Mitarbeit tschechischer Fachleute unterschiedlicher Disziplinen hat das Außenministerium in diesem Dokument die rechtlichen, historischen und politischen Argumente Prags erstmals systematisch und ausführlich zusammengefaßt.
Die Dekrete könnten nicht nur nicht Gegenstand der Beitrittsverhandlungen der Tschechischen Republik mit der EU sein, heißt es darin, sondern auch Verhandlungen mit Deutschland und Österreich kämen nicht in Frage. Für Prag sei es „unannehmbar“, daß aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP, die zum Zeitpunkt der Annahme der deutsch-tschechischen Erklärung 1997 die Regierung stellten, nun gegen die darin getroffene Übereinkunft verstoßen werde, die gegenseitigen „Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten“ zu wollen.
In der rechtlichen Beurteilung der Beneš-Dekrete stützt sich das Außenministerium auf das Urteil des Brünner Verfassungsgerichtshofs vom 8. März 1995 (das sogenannte „Dreithaler-Urteil“). Es übernimmt die Argumentation der Verfassungsrichter, die Beneš-Dekrete enthielten keine kollektive Schuldzuweisung. „Die Konfiskations- und Nationalisierungsdekrete basierten zwar auf der Vermutung der Verantwortung (nicht der Schuld) der Personen deutscher oder ungarischer Nationalität, auf der anderen Seite aber nahmen sie Gegner des Faschismus von diesen Konfiskationen aus.“ Nicht „nationalistische Rache“ habe es gegeben, zitiert das Dokument aus dem „Dreithaler-Urteil“, sondern „lediglich eine angemessene Reaktion auf die Aggression des nazistischen Deutschlands, eine Reaktion, deren politisches und wirtschaftliches Ziel es war, die Folgen der Okkupation zu lindern“. Zwar sei den „Personen deutscher Nationalität kollektiv die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft entzogen worden“, aber auch das sei nicht kollektive Schuldzuweisung gewesen, weil „Personen, die sich der Tschechoslowakei gegenüber loyal verhalten, sich nie an der tschechischen oder slowakischen Nation vergangen und sich entweder aktiv am Kampf um ihre Befreiung beteiligt oder unter dem Nazi- oder Faschistenterror gelitten hatten“, ohnehin die Staatsbürgerschaft behalten hätten. Das Dekret Nr. 108 über die „Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung“ sei, wie der Verfassungsgerichtshof festgestellt habe, „nicht nur ein legaler, sondern auch ein legitimer Akt“ gewesen.
Die von Politikern verwendete Formulierung vom „Erlöschen der Dekrete“ sei nicht juristisch-begrifflicher, sondern politisch-beschreibender Natur. Juristisch korrekt sei die Formulierung der Brünner Verfassungsrichter, „daß dieser normative Akt seinen Zweck bereits erfüllt hat und seit mehr als vierzig Jahren keine Rechtsbeziehungen mehr begründet, somit also in Zukunft keinen konstitutiven Charakter mehr hat“. Das Außenministerium hebt ausdrücklich hervor, daß die Dekrete nicht wegen des Verfassungsgesetzes von 1991 ihre Wirksamkeit verloren hätten, das alle Gesetze für unwirksam erklärt, die der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten widersprechen. Der Verfassungsgerichtshof habe nur festgestellt, „daß die Dekrete zur Schaffung neuer Rechtsbeziehungen nicht mehr anwendbar sind, nicht, daß sie nicht länger wirksam sind“.
„Eine Aufhebung der Gültigkeit und/oder Wirksamkeit der Dekrete des Präsidenten der Republik, ob ex tunc oder ex nunc, kommt nicht in Frage“, heißt es in dem Dokument, weil sie in jedem Fall „die Rechtskontinuität der Tschechoslowakischen Republik und ihre Legislation“ zerbrechen würde. Im Gegensatz zu einer Ungültigkeitserklärung ex tunc (von Anfang an) würde eine Annullierung ex nunc (von nun an) zwar die auf der Basis der Dekrete entstandenen Eigentumsbeziehungen erhalten, aber deren „Ausübung wäre in Frage gestellt. Dies würde zu einem Verlust des Rechtsfriedens führen.“ Länder wie die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Dänemark hätten nach dem Krieg im übrigen ähnliche Konfiskationen beschlossen.
Das tschechische Außenministerium gibt zu, daß die Verwendung gewisser Begriffe in den Dekreten (zum Beispiel „staatlich unzuverlässige Personen“) das „Aufwallen nationalistischer Leidenschaften in der unmittelbaren Nachkriegszeit“ reflektierte und daß die Dekrete „in vielen Fällen“ zweckentfremdet angewandt worden seien. Eine Annullierung würde da jedoch nicht helfen, die individuellen Vorfälle müßten untersucht werden. Wie die Rechtspraxis der Tschechischen Republik zeige, stehe dieser Weg tschechischen Bürgern offen.
An den Dekreten könne also nicht gerüttelt werden. Selbst „eine symbolische Geste ist undenkbar, sie würde die Debatte nicht beenden und würde nur Erwartungen nach größeren Restitutionsschritten wecken, nicht nur in der Tschechischen Republik“. Niemand habe je den Verdacht widerlegt, daß es bei der Forderung nach der Aufhebung der Dekrete in Wirklichkeit nicht um symbolische Akte, sondern um Kompensation gehe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2002-05-25, Nr. 119 / Seite 6
=================Radio Prag 2002-05-27====================
Regierungschef Zeman würdigt Heydrich-Attentat 1942 als „mutige Tat“ und warnt vor falschen Zugeständnissen
Der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman hat am 60. Jahrestag des Attentats auf den „Stellvertretenden Reichsprotektor“ Reinhard Heydrich den Anschlag als „Tat mutiger Männer“ gewürdigt. Zur Eröffnung der ersten umfassenden Ausstellung über das Attentat erinnerte Zeman am Montag im Prager Militärmuseum daran, daß es in der Geschichte des Landes manche „Grauzonen“ gebe, in denen viele Tschechen mit deutschen oder sowjetischen Besatzern kollaboriert hätten. Daher dürfe kein Staat der „Salamitaktik“ eines Aggressors nachgeben, die relativ friedlich beginne und rasante Forderungen mit sich bringe. Die Antwort auf Erpressung, so Zeman, müsse immer Nein lauten. Er wünsche sich, so der Premier weiter, daß sich die Tschechen in der Stunde der Prüfung so mutig verhalten wie die Widerständler von damals.
Zuvor hatte Zeman das Münchner Abkommen von 1938 als „Tat von Duldern“ kritisiert. Gerade in der heutigen Zeit sollte man sich „der Zerbrechlichkeit des Mutes und der Gefahr der Feigheit bewußt sein“, sagte der Premier in Anspielung auf den Streit um die Vertreibung der Sudetendeutschen und die Beneš-Dekrete.
=================HNA-Leserbriefe 2002-05-28 Seite 121================
Sudetendeutsche waren nie wahlberechtigt!
Zahlreiche Leser nahmen kritisch Stellung zum Leserbrief von B. Mihr vom 23. Mai 2002

Als Nicht-Sudetendeutscher, aber ehemaliger Bürger der CSR und Staatsangehöriger deutscher Nationalität, der ich mich sehr für die Aussöhnung einsetze, kann ich den Brief von B. Mihr nicht unwidersprochen stehenlassen. Die Sudetendeutschen waren bis 1938 Ausländer und somit nie wahlberechtigt. Nach 1938 gab es keine Wahlen mehr.   J.M. Gerke, Kassel

Herr Mihr macht es sich in seinem Leserbrief etwas einfach und läßt geschichtliche Fakten außer Acht. Kein Sudetendeutscher half, Hitler an die Macht zu bringen. Die Sudetendeutschen sind auch nicht gefragt worden, als am 28. Oktober 1918 in Prag die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wurde. Die Sudetendeutschen mit 3,5 Millionen Menschen wurden in derTschechoslowakei von Anfang an diskriminiert. Sie durften an der Nationalversammlung von 1918 nicht teilnehmen. Sie waren daher von der Mitgestaltung der Verfassung ausgeschlossen.   Jon A. Sender, Wolfhagen

Wollte man derAuslegung von Herrn Mihr folgen, muß man fragen: Wie viele Mittel- und Westdeutsche haben den Nazis zur Macht verholfen, ohne dafür enteignet und vertrieben worden zu sein? Also Vorsicht, eine solche Interpretation könnte große Folgen haben. Wer allerdings heute noch an den unseligen Beneš-Dekreten festhält und Enteignung und Vertreibung von unschuldigen Menschen auch nur in irgendeiner Weise zu relativieren versucht, gehört vor das Gericht in Den Haag. Dietrich Neumann, Bad Wildungen

Der Leserbrief von Herrn B. Mihr fordert geradezu einen Widerspruch heraus, zumal er von völliger Unkenntnis der seinerzeitigen Situation in den Sudetengebieten geltrübt ist. Herr Mihr sollte sich zuerst intnesiv mit der Sudetenfrrage befassen, ehe er einseitige Schuldzuweisungen betreibt. Eine völlig ausreichende Information bekommt Herr Mihr durch das Buch „Dokumente zur Austreibung“ (ISBN 3-920325-01-0). Nachdem Herr Mihr die vielen von Rache diktierten Beneš-Dekrete gelesen  hat, wird sich sicherlich bei ihm ein anderes Geschichtsbild einstellen. Heinz Prade, Kassel

Die einleitenden Worte von Herrn Mihr „Schuld sehen und dazu stehen“ fand ich als 90jähriger Sudetendeutscher, der in seiner einstigen Heimat die Nöte und Übergriffe der damaligen tschechoslowakischen Regierung am eigenen Leibe miterlebt und erlitten hat, sehr gelinde ausgedrückt, empörend. Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat war nachweisbar keineswegs die Folge eines nationalsozialistischen Wahnsinns, sondern lediglich das Werk der tschechoslowakischen Exil-Regierung. Hans Wallenta, Ringau

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