Nachwort von Sidonia Dedina
zum Buche von Hugo Fritsch: „Hugo, das Delegationskind. – Als Beneš meine Familie zerstörte...“ 
(die überarbeitete und erweiterte, reicher bebilderte vierte Auflage erschien Ende 2005 unter der ISBN 3-00-06713-2)

Sorgfältigste Recherchen
hat Hugo Fritsch für sein autobiographisches Werk unternommen, um die eigenen Erinnerungen als Kind mit Tatsachen zu untermauern und für sich selbst zu bestätigen. Es ist ihm so trefflich gelungen, daß das Selbsterlebte mit dem historisch Feststellbaren wie Zahnräder ineinandergreifen. Seine persönlichen Erfahrungen halten die Spannung im Buch auf hohem Niveau und erwecken tiefe Betroffenheit. Die dokumentarischen Belege machen das erlittene Schicksal verifizierbar und glaubhaft.

Die Fakten sammelte der Autor nachträglich größtenteils erst in den 1990er Jahren in Böhmen und Mähren, als man ohne Gefahr wieder forschen und nachprüfen konnte. Denn an was erinnert sich ein Zwölf- bis Fünfzehnjähriger zuverlässig, wenn die Familie ihm total geraubt und vernichtet wurde? Unsere individuellen Erinnerungen werden ja ständig vom Gedächtnis unserer Nächsten angereichert. Ohne uns dessen bewußt zu sein, nehmen wir stets an einer familiär bedingten Geschichts- und Sagenbildung teil. Manche vermeintlich nur meine Jugenderinnerungen mögen in der Tat mir eingeflößte Familiengeschichten sein.

Umso bewundernswerter ist es, wenn Hugo Fritsch sich fast ganz allein erinnern muß. Und es betrifft gerade die fatalsten Abschnitte seines Lebens, die er als Einziger überleben durfte. Der Autor nimmt seine Aufgabe ernst. Er fährt noch einmal, ja mehrmals, konkret und physisch, die Trassen und Strecken der Familienirrfahrten ab. Er macht Halt an Orten, wo sie noch alle dabei waren. Er stöbert städtische Chroniken durch und läßt sich Lager-Besuchs-Protokolle des Internationalen Roten Kreuzes aus der Schweiz schicken. Die Unmenschlichkeit der Internierung in der Nachkriegs-CSR hat sämtliche Familienmitglieder das Leben gekostet – außer ihm selbst.

Gut drei Wochen vor Kriegsende versucht der frühpensionierte Brünner Beamte Armin Fritsch mit Ehefrau, drei Kindern und Schwiegermutter nach Österreich bzw. Deutschland zu entkommen. Doch bummelt der Zug hin und her, bis er wegen einer zerstörten Brücke nicht mehr weiterkann. Die Menschen geraten in eine Notunterkunft in Blatna. Nach dem Waffenstillstand werden sie nicht etwa zurück in das – wenn auch gestörte – Zuhause verfrachtet, sondern in Internierungs- und Arbeitslager. Alt wie Jung, ohne Schuld, ohne Gerichtsverhandlung. Durch die Willkür der Beneš-Dekrete und verschiedener Ministerialerlasse scheint ihr Leidensweg gedeckt und legal zu sein. Bis heute, meint man.

Nach einer Hungerfahrt aus dem berüchtigten Prager Lager Stadion Strahov, im Kohlewaggon zur Zwangsarbeit auf dem Lande, stirbt im Juli 1945 der jüngste Bruder, der viermonatige Willi. Die Familie hatte sich aufopferungsvoll, aber letztendlich vergebens um ihn gekümmert.

Im brutalen, kalten Arbeitslager Lešany bei Benešov stirbt im Januar 1946 der fünfzehnjährige Bruder Gerhard. Im Februar 1946 folgt ihm die ehemals rüstige Großmutter, eine Tschechin, die die Familie der Tochter nicht hatte im Stich lassen wollen. Dann rafft der Tod die Mutter selbst, wenige Tage später den Vater Armin hin.

Auch dann wird der allein überlebende, zwölfjährige Hugo nicht entlassen, sondern im Kindesalter im tschechischen KZ Lešany weiter als Gefangener gehalten. Nur auf Drängen von Verwandten aus Wien, Zürich und Bayern darf der dann Dreizehnjährige durch das Internationale Rote Kreuz aus der Gefangenschaft gerettet und einem Salesianerheim in Prag mehr oder weniger illegal – er war ja Deutscher! – anvertraut werden. Dort knüpft ein menschliches Dasein auf die frühere Kindheit wieder an.

Die Tragödie muß nacherzählt werden, um die Tiefe des Unrechts und des fünffachen staatlichen Mordes deutlich zu machen.

Zuerst wurden ja alle Familienmitglieder der Freiheit beraubt, ohne daß einem einzigen von ihnen, umso weniger den Kindern, irgendeine Übeltat nachgewiesen worden war. Die Freiheitsberaubung, gar bei Kindern, war durch kein Dekret erlaubt.

Die Familie Fritsch wurde ab Mai 1945 drangsaliert. Ab 2. August 1945 wurden sie per Beneš-Dekret ausgebürgert. Dem folgte am 19. September das Beneš-Dekret über die Arbeitspflicht, allerdings nur für Männer von 14 bis 60 Jahre und Frauen von 15 bis 50 Jahre. Ausgenommen waren Frauen mit Kindern unter sechs Jahre. Also waren nur Vater und der älteste Sohn Gerhard bedingt arbeitspflichtig. Allerdings nicht vom Lager heraus. Die Mutter, zwei Kinder (Willi und Hugo) als auch die Großmutter wurden in den Lagern mit noch krasserem Unrecht festgehalten, und auch nach dem damaligen CS-‚Recht‘ illegal. Außerdem sollte die Arbeit nach dem Dekret entlohnt werden. Das geschah nur selten, in den Lagern gar nicht.

Am 25. Oktober wurde den Deutschen und Ungarn durch ein Beneš-Dekret sämtliches Vermögen entschädigungslos konfisziert, bis auf (§ 2) Gegenstände, die unmittelbar für persönlichen Bedarf und zur Ausübung des Berufs notwendig waren (Bekleidung, Betten, Wäsche, Hausrat, Lebensmittel und Geräte). Den Fritschens wurde Monate zuvor bereits alles genommen, also selbst nach dem CS-‚Recht‘ wiederum illegal.

Am 27. Oktober 1945 entschied ein Beneš-Dekret über die Zwangsarbeit in gesonderten Arbeitskommandos. Hier ging es jedoch, auch wenn oft ebenso ungerecht, um den Strafvollzug aufgrund des Retributionsdekrets vom 19. Juni 1945, das auf ‚nazistische Verbrecher, Verräter und ihre Helfershelfer‘ gemünzt war. Die Familie Fritsch war nichts davon. Die durch Volksgerichte ‚rechtskräftig‘ verurteilten Personen, also angebliche ‚Sträflinge‘, hatten kein Recht auf Arbeitslohn. Die Entlohnung fiel dem Staate zu (§ 4).

Faktisch wurden die Fritschens, einschließlich der kleinsten Kinder, wie verurteilte Sträflinge behandelt, was sie nicht waren, also auch nach dem CS-‚Recht‘ willkürlich.

Um den real existierenden hohen Berg von Unbilligkeit und Rachlust juristisch zu begründen, erließ die Beneš-Junta am 27. Oktober 1945 noch das Verfassungsdekret über die ‚Sicherung von Personen, die in der Revolutionszeit für staatlich unzuverlässig gehalten wurden‘. Ein Verfassungsdekret bedeutete immer, es ging um eine Änderung der relativ liberalen Verfassung der Ersten Republik. Die verrenkte Formulierung deutete an, daß es um groben Unfug ging.

Zitieren wir die ersten zwei Paragraphen:

(§ 1) „Die Sicherstellung von Personen, die als staatlich unzuverlässig angesehen wurden, durch Behörden oder Organe der Republik, auch außerhalb der gesetzlich statthaften Fälle, oder eine Verlängerung ihrer vorläufigen Sicherstellung (Haft) über den gesetzlich zulässigen Zeitraum hinaus wird für gesetzmäßig erklärt. Solche Personen haben wegen dieser Sicherstellung oder einer Verlängerung der vorläufigen Sicherstellung über den gesetzlich zulässigen Zeitraum hinaus keinen Anspruch auf Schadenersatz.“

(§ 2) „Unter einer (vorläufigen) Sicherstellung im Sinne dieses Dekrets und anderer gesetzlicher Bestimmungen ist nicht die Zusammenziehung ausländischer Staatsangehöriger zu verstehen, die von der zuständigen Behörde an bestimmten Orten zum Zwecke ihrer späteren Abschiebung durchgeführt wurde. Eine solche Zusammenziehung darf ohne jegliche Beschränkung durchgeführt werden.“

 Die Familie Fritsch war offiziell nicht als staatlich unzuverlässig in Haft. Durch die Anwesenheit von drei Kindern wäre es auch völlig absurd gewesen. Bleibt als einziger Grund, warum sie wie Sklaven behandelt wurden, daß sie nach dem Beneš-Ausbürgerungsdekret fremde Staatsangehörige waren. Doch rechtlich stimmte auch das nicht. Zu jener Zeit waren sie lediglich ausgebürgerte Staatenlose. Sie hatten keine Lobby. Der Untergang der Familie Fritsch infolge einer fortgesetzten, leidvollen Gefangenhaltung in einer Reihe von tschechischen Konzentrationslagern wurde nicht einmal durch das Beneš-Dekret vom 27. Oktober 1945 juristisch gedeckt.

Übrigens waren die mörderischen tschechischen Lager selbst niemals zulässig. Das belegen die Protokolle des Internationalen Roten Kreuzes.

Während sich die Tschechische Republik heute noch weigert, ihre Schuldigen zu bestrafen, müßte sie als CSR-Nachfolgestaat für die Verbrechen der Vorgängerin geradestehen. Die Tschechische Republik sollte Hugo Fritsch für seine fünf ermordeten Familienmitglieder Schmerzensgeld in Höhe von etlichen Euromillionen anbieten und auszahlen.

Als gebürtige Tschechin schäme ich mich zutiefst für das Leid, das Menschen in unseren gemeinsamen Ländern durch die Usurpatoren der Nachkriegszeit verursacht wurde. Bis heute wird viel Mühe um Versöhnung durch noch lebende tschechische Täter blockiert. Allerdings halte ich von Versöhnung gar nichts, solange eine Wiedergutmachung nicht angesetzt hat. Simon Wiesenthal und andere haben dies für die Juden durchgesetzt. Für die unzähligen zu Unrecht verfolgten Deutschen Böhmens und Mährens muß Ähnliches gelten.

 

Ismaning, im August 2005