Vertreibung vor dem Krieg geplant

von Gerard Radnitzky

Verbrechen an den Deutschen sind ein Tabu-Thema. Sich mit der Vertreibung der mehr als 15 Millionen Menschen zu beschäftigen, von denen über zwei Millionen ermordet wurden, ist nicht politisch korrekt. Das gilt auch für die „Sudetendeutsche Frage“. Den Umerziehern gelang es, geschichtslose Generationen heranzuziehen. Eine Nachhilfestunde in Geschichte ist notwendig und aktuell.

Zur Vorgeschichte muß man etwas weiter ausholen. In Böhmen und Mähren hatten Deutsche und Tschechen seit 800 n. Chr. neben und miteinander gelebt. Um die jüngste Geschichte zu verstehen, muß man mindestens zum „Dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945“ (Originalton John Major 1985) zurückgehen. Um den nicht-interventionistisch gestimmten Amerikanern den Kriegseintritt schmackhaft zu machen, proklamierte US-Präsident Wilson das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ als eines der Kriegsziele. Als sich im Diktat von Versailles herausstellte, daß das Selbstbestimmungsrecht für Deutsche nicht galt, zog er sich zurück. Das Diktat hatte er zwar unterzeichnet, aber Kongreß und Senat verweigerten ihre Unterschrift, und Amerika schloß 1921 mit Deutschland einen Separatfrieden.

Wer glaubt, daß Versailles ein Vertrag war, sollte das Buch des französischen Diplomaten Alcide Ebray von 1996 lesen: „Der Unsaubere Frieden. Versailles – der zweite Akt des Vernichtungskriegs gegen Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert“. Versailles war die antidemokratische Forderung gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Amerikas „Erster Kreuzzug“ hatte fatale Folgen: Wilson, Versailles, Hitler. Wenn Hitler Humor gehabt hätte, hätte er viele Wilson-Monumente errichten lassen.

Wie kam die Tschechoslowakei zustande? Nach Ende der ersten manifesten Phase des „Dreißigjährigen Krieges“ 1918 bereiteten die französischen Politiker die zweite manifeste Phase vor. Eines der Mittel zur Konfliktprovozierung war, Deutschland mit feindlichen Staaten zu umgeben, die deutsche Minoritäten enthielten – für die, wie gesagt, das Selbstbestimmungsrecht nicht galt –: die CSR und Polen gegen Deutschland, Jugoslawien gegen Österreich.

Am 20. September 1918 ersuchte Prag die USA um Zustimmung zur Einverleibung des Sudetenlandes. Wilson schickte einen Sonderbotschafter, Archibald Coolidge, in die neugegründete „CSR“. Er sollte Vorschläge zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der „Sudeten Germans“ unterbreiten. Nachdem er am 4. März 1919 Zeuge des Vorgehens tschechischer Miliz gegen friedliche deutsche Demonstranten (54 Tote, darunter Frauen und Kinder) geworden war, empfahl er in seinem Bericht die Angliederung der rein deutschsprachigen Gebiete an Deutschland beziehungsweise an Österreich. Masaryk und Beneš gelang es, den amerikanischen Plan zu unterlaufen, indem sie die Franzosen überzeugten, daß die Gründung von französischen Satellitenstaaten für sie die beste Option sei – was genau Clemenceaus Plänen entsprach.

Wie kam das Territorium der CSR zustande?
Am 2. September 1918 anerkannten die Siegermächte den selbsternannten tschechoslowakischen Nationalrat als de-facto-Regierung. Am 22. November 1918 erließ die Republik Deutsch-Österreich ein Gesetz, das die geschlossenen Siedlungsgebiete der Deutschösterreicher (Deutschsüdmähren, Deutschsüdböhmen und andere) als zum Staatsgebiet gehörig erklärte. Doch am 3. Dezember 1918 besetzten tschechische Legionäre, das heißt desertierte Truppen der österreichischen Armee, diese Gebiete. Die österreichische Republik war militärisch machtlos. Das Buch des bekannten Völkerrechtlers Felix Ermacora, „Der unbewältigte Friede. St. Germain und die Folgen“ (Wien, München 1989) gibt eine präzise Darstellung. Am 10. September 1919 wurden im Diktat von Trianon die Agression und Okkupation der Randgebiete als fait accompli anerkannt und nachträglich legalisiert.

Diese Besetzung war ein völkerrechtswidriges Verbrechen derselben Art wie Hitlers Besetzung der Zweiten Republik 1939.

Die CSR war nun ein international anerkannter Nationalstaat. Nach ihrer Verfassung von 1920 verstand sie sich als Staat der „tschechoslowakischen Nation“. Eine solche hat es nie gegeben – es gab nur Tschechen, Deutsche, Slowaken, Ungarn. De facto war die CSR ein Nationalitätenstaat wie die Habsburger Monarchie, nur weniger groß und weniger tolerant gegenüber Minderheiten.

Am 10. September 1919 wurden im Diktat von Trianon die Aggression und Okkupation der Randgebiete als Tatsache anerkannt. Die „CSR“ war ein international akzeptierter Staat – doch Minderheiten wie die deutsche wurden unterdrückt.

Der spätere Vorwurf der Tschechen, die Sudetendeutschen hätten sich zu der neuen Republik nicht loyal verhalten, ist unhaltbar. Obgleich sie in den neuen Staat hineingezwungen worden waren und das Versprechen eines Nationalitätenstaates nach dem Modell der Schweiz gebrochen wurde, versuchten sie für den Alltag aus der Katastrophe das Beste zu machen. Die Tschechisierung wurde jedoch immer militanter. Als im Sommer 1938 Chamberlain Lord Runciman beauftragte, die Verhältnisse zu untersuchen, diagnostizierte dieser in seinem Bericht eine massive Unterdrückung der deutschsprachigen Bevölkerung und empfahl deshalb, die deutschsprachigen Gebiete von der CSR abzutrennen und den betreffenden Nachbarländern zuzuteilen.

1936 hat die CSR aufgehört, ein demokratischer Verfassungsstaat zu sein. Am 31. Mai 1936 kam das „Staatsverteidigungsgesetz“, das die verfassungsgemäßen Rechte der Deutschen und Ungarn außer Kraft setzte; polizeiliche Übergriffe, willkürliche Verhaftungen und Zensur waren an der Tagesordnung. Im Herbst 1938 wurden alle Rundfunkgeräte, Motorfahrzeuge und Fahrräder der sudetendeutschen Bürger beschlagnahmt. Ein oft zitiertes Diktum Benešs von 1937 wirft ein Schlaglicht auf seine Gesinnung: „Lieber Hitler in Wien als die Habsburger“. Nicht umsonst war Beneš auch der Präsident der „Národní Socialisticka Ceska Strana“, der »Nationalsozialistischen Tschechischen Partei«, deren Parteiprogramm Hitler in seine »National-sozialistische Deutsche Arbeiterpartei« einfach übernommen hatte.

Das München-Abkommen war eine Korrektur eines der Fehler des Versailles-Diktats. Beeindruckt vom Runciman-Report befürwortete vor allem Chamberlain ein Plebiszit in den von Deutschen besiedelten Gebieten. Die Beneš-Regierung war indirekt am Abkommen beteiligt: Mitte September sandte Beneš den Minister Jaromír Necas nach Paris mit der Instruktion, um jeden Preis ein Plebiszit in den betroffenen Regionen zu vermeiden und ihre Abtretung „Hitler sozusagen aufzuzwingen“. Völkerrechtlich ist der Vorgang zwar irrelevant, weil nicht Gegenstand der offiziellen Verträge, aber historisch ist er wichtig und dokumentiert (in „Papiers Daladier“, Nationalbibliothek in Paris). Beneš wollte die Peinlichkeit vermeiden, daß etwa 3,5 Millionen seines Staates die CSR ablehnten, und im Ausland als „Opfer“ eines Gewaltaktes dastünden. Am 19. September 1938 erklärten London (Chamberlain) und Paris (Daladier), daß sie „die Übertragung der deutsch besiedelten Gebiete an Deutschland befürworteten“, d.h., daß sie Benešs Vorschlag angenommen hatten. Am 21. September war das Abkommen – der Vorvertrag, der die Zustimmung aller Parteien hatte – perfekt. Wäre Hitler nicht in die Falle getappt und hätte er auf Chamberlains Forderung bestanden, dann hätte er die Segnungen der Göttin Demokratie bekommen. Das Wissen um die Beteiligung der CSR am Vorvertrag wird praktisch geheim gehalten – damit „München“ als Symbol für „Appeasement“ nicht seine Pointe verliert.

Die Besetzung der Randgebiete durch deutsche Truppen im Herbst 1938 hat folgende Vorgeschichte: Der Rückzug der Tschechen erfolgte, mit wenigen Ausnahmen, ordnungsgemäß. Das Personal, das zwecks Tschechisierung in den Randgebieten angesiedelt worden war, flutete – da funktionslos geworden – mit seiner mobilen Habe ins Innere des Landes zurück. Nach dem Abkommen wurde den Einwohnern die Option angeboten, entweder zu bleiben (mit folgender Kollektivnaturalisierung) oder für die Zweite CSR zu optieren und die Region zu verlassen. Die Juden, die nicht schon vorher ausgewandert waren, machten fast alle von der zweiten Option Gebrauch. Wen wundert's, daß der Einmarsch der deutschen Truppen von der verbliebenen Bevölkerung gefeiert wurde? Nun waren sie die Schikanen los. Von den 800.000 Arbeitslosen der CSR entfielen 500.000 allein auf die deutschen Gebiete und viele von ihnen standen nahe am Hunger. Sie hofften auf eine Verbesserung. Vom Dritten Reich machten sie sich eine Fiktion, was ebenfalls nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie wenige Informationsmöglichkeiten den Menschen damals zur Verfügung standen.

Die Ausstoßung der deutschen Bevölkerung war bereits 1918 geplant. Als Alternative war 1919 eine zweite Option im Gespräch: „... bevor Deutschland sich seiner besinnt, (wird) das ganze böhmische Gebiet ohne jede Gewalt tschechisiert sein ... Wenn dieser Prozeß nicht schnell genug vonstatten geht, schreiten wir zur Aussiedlung des deutschen Elements ...“ (Josef L. Stehule, Ceskoslovensky stát v mezinárodním právu a styku, Praha 1919, abgedruckt in „Odsun“, München 2000).

Ab Sommer 1939 konnte Beneš für sein Projekt einen Teil der englischen Führung gewinnen. Sir Robert Vansittart plädierte bereits im Januar 1940 für die Umsiedlung der Sudetendeutschen ins „Altreich“. 1943 erlaubte die historische Situation Beneš die Realisierung des „ethnic cleansing“ einzuleiten. Gegen den Wunsch Churchills, der den Verrat an den Polen voraussah, reiste Beneš nach Moskau, versprach Molotow die Zustimmung des tschechischen Staates zu Stalins Herrschaft über Polen und Ungarn und erhielt dafür von Stalin dessen (mündliche) Zustimmung zur Vertreibung.

Im Sommer 1945 konnte Beneš die Vertreibung rasch durchführen: etwa 3,5 Millionen deutschsprachige ehemalige Bürger der Wenzelskrone wurden entrechtet, enteignet und ausgewiesen. Dabei wurden nach offizieller Statistik über 270.000 bis 300.000 Menschen ermordet. Der „Sudetendeutsche Holocaust“ ging rasch über die Bühne der Geschichte. Sogar deutschsprachige Juden, die überlebt hatten, wurden vertrieben. Den einzigen Vorteil, den einige wenige von ihnen hatten, war, daß sie Möbel mitnehmen durften, während ihre Immobilien konfisziert wurden. Entscheidend war, daß sie deutschsprachig waren; daß sie Juden waren, interessierte die Deutschenhasser nicht.

Nach beinahe zwei Jahre andauernden Geheimverhandlungen, ohne Beteiligung der Sudetendeutschen, erschien am 21. Januar 1997 die „deutsch-tschechische Erklärung“, in der tschechische Interessen alles dominierten.

Die Behauptung, die Vertreibung hätte die Zustimmung des Potsdamer Protokolls gehabt oder wäre gar auf dessen Anordnung erfolgt, ist eine der vielen PC-Geschichtslügen. Stalin hatte eine sich anbahnende Debatte über die Vertreibung abgeschnitten mit dem Hinweis: „die Sache läuft bereits und kann nicht gestoppt werden.“ In Potsdam 1945 fand die Vertreibung weder Legalisierung noch Zustimmung, aber immerhin Hinnahme. Dadurch machten sich die Alliierten zu Komplizen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit.

Die Durchführung wirkte geradezu apokalyptisch. Geschichte nahm noch einmal die Form eines Horrorfilmes an. Deutsche Soldaten wurden an Laternenpfählen erhängt – gemäß der Tradition der Französischen Revolution (die CSR war schließlich eine französische Création). Eine Vorstellung von dem Szenario zu vermitteln, ist nicht leicht. Die Behandlung der Zivilisten war ähnlich. So wurde zum Beispiel der Großteil der Ärzte der Prager Universitätsklinik ermordet, der Rest zu Sklavenarbeitern gemacht. Die zahlreichen Fälle von Freitod zeigen, daß vielen Leute das Leben zur Qual geworden war. Vielleicht ist es in diesem Sinne berechtigt – gemäß der Diktion des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker –, bei den Ermordeten als von ihren Leben „Befreiten“ zu sprechen.

Das erstaunliche Ausmaß tschechischer Kollaboration mit der Okkupationsmacht während der „Protektoratszeit“ ist bis heute Tabu-Thema Nummer eins in der tschechischen Gesellschaft.

Die Greuel beim Sudetendeutschen Holocaust wurden durch den plötzlichen massiven Einsatz von Massenmedien angefacht. Im April 1945 strömte Ilja Ehrenburgs, aus dem Russischen ins Tschechische übersetzte Haßpropaganda aus Radios und beim „Endkampf“ aufgestellten Lautsprechern. Joachim Hoffmann gibt in seinem Buch „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945“ (München 1995) Geschmacksproben. Zum Beispiel Ehrenburg am 16. März 1944: „Töte einen Deutschen! Wenn du ein gerechter und gewissenhafter Mensch bist – töte einen Deutschen!“ Am 7. Dezember 1944 über die deutsche Frau: „...diese spezielle flachshaarige Hexe wird uns nicht so leicht entgehen.“ Anläßlich seines 100. Geburtstags 1991 feierte das FAZ-Feuilleton Ehrenburg als den „markantesten Kriegspropagandisten“, und der Rundfunksender SWR2 würdigte ihn sogar als „großen Humanisten“.

Seit mehr als einem halben Jahrhundert strömt Haßpropaganda gegen alles Deutsche aus den Medien. Das Gros der Bevölkerung glaubt, die Deutschen seien erst mit Hitler gekommen. Sich für Wahrheit und Recht einzusetzen, wäre für einen tschechischen Politiker das Ende seiner Karriere.

Nach beinahe zwei Jahre andauernden Geheimverhandlungen – ohne Beteiligung der betroffenen Sudetendeutschen – wurde am 21. Januar 1997 die „Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ verabschiedet. Die tschechische Seite zeigt hier nicht das geringste Entgegenkommen. Die deutsche Seite übernimmt die Verantwortung für alles und erklärt, daß sie – im Gegensatz zur Rechtsauffassung der EU – die Beneš-Dekrete (die auch eine Amnestie für alle Verbrechen an Deutschen enthalten) respektiere. Für tschechische Opfer verspricht sie Steuergelder, und gleichzeitig weigert sie sich, für die heimat- und vermögensrechtlichen Ansprüche der Sudetendeutschen einzutreten und verabschiedet sich damit von ihrer Schutz- und Obhutspflicht.

Wie ist die schamlose Haltung der Kohl-Regierung zu erklären? Etwa durch Unwissen? Kohls Diktum, die Vertreibung sei ein „Racheakt“ für die Zeit der NS-Besetzung gewesen, zeugt in der Tat von einer erstaunlichen Ignoranz. Der Politologe Wilhelm Hennis weist darauf hin, daß man die Kohl-Regierung wegen ihres Verhaltens gegenüber den Alteigentümern ungestraft als „Lügner, Diebe und Hehler“ bezeichnen darf. Hauptfaktor wird aber wohl folgendes sein: In den Jahren, in denen bezüglich der „Erklärung“ verhandelt wurde, stellten Kohl und Genscher die Weichen. Sie hatten den Franzosen das Opfer der D-Mark als Vorleistung für die Erlaubnis angeboten, in der Außen- und Verteidigungspolitik mitspielen zu dürfen. Genscher hatte bereits am 26. Februar 1988 die Initiative ergriffen. Es ging allerdings nicht ganz nach Plan, denn der Köder war bereits mit der Wiedervereinigung aufgebraucht worden. Für Kohl erschien es zu diesem Zeitpunkt „politisch vernünftig“, sich nachgiebig zu zeigen.

Seit dem 15. April 1999 fordert das Europäische Parlament die Tschechische Republik zum Widerruf der mit EU-Recht unvereinbaren Beneš-Dekrete auf. Wenn die CR in die EU aufgenommen werden würde, ohne daß sie einen solchen Widerruf ausgesprochen hätte, dann würde sich die EU der Legalisierung eines Genozids schuldig machen. Wie könnte sie dann Miloševic vor Gericht gegenübertreten?

Prof. Dr. Gerard Radnitzky lehrte Wissenschaftstheorie 
an Universitäten in Schweden, den USA, Japan und zuletzt an der Universität Trier. 
Zu seinen Publikationen siehe im Internet unter www.radnitzky.de

Quelle: „Junge Freiheit“ 19/2002 vom 3. Mai 2002