Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vom 21. Januar 1997
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der
Tschechischen Republik
eingedenk des Vertrags vom 27. Februar 1992 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik
über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, mit dem Deutsche und
Tschechen einander die Hand gereicht haben,
in Würdigung der langen Geschichte fruchtbaren und friedlichen Zusammenlebens von
Deutschen und Tschechen, in deren Verlauf ein reiches kulturelles Erbe geschaffen wurde,
das bis heute fortwirkt,
in der Überzeugung, daß zugefügtes Unrecht nicht ungeschehen gemacht, sondern
allenfalls gemildert werden kann, und daß dabei kein neues Unrecht entstehen darf,
im Bewußtsein, daß die Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme der Tschechischen
Republik in die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz nachdrücklich und aus
der Überzeugung heraus unterstützt, daß dies im gemeinsamen Interesse liegt,
im Bekenntnis zu Vertrauen und Offenheit in den beiderseitigen Beziehungen als
Voraussetzung für dauerhafte und zukunftsgerichtete Versöhnung
erklären gemeinsam:
I
Beide Seiten sind sich ihrer Verpflichtung und Verantwortung bewußt, die
deutsch-tschechischen Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und Partnerschaft weiter
zu entwickeln und damit zur Gestaltung des zusammenwachsenden Europa beizutragen.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechische Republik teilen heute gemeinsame
demokratische Werte, achten die Menschenrechte, die Grundfreiheiten und die Normen des
Völkerrechts und sind den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und einer Politik des
Friedens verpflichtet. Auf dieser Grundlage sind sie entschlossen, auf allen für die
beiderseitigen Beziehungen wichtigen Gebieten freundschaftlich und eng zusammenzuarbeiten.
Beide Seiten sind sich zugleich bewußt, daß der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares
Wort zur Vergangenheit erfordert, wobei Ursache und Wirkung in der Abfolge der
Geschehnisse nicht verkannt werden dürfen.
II
Die deutsche Seite bekennt sich zur Verantwortung Deutschlands für seine Rolle in einer
historischen Entwicklung, die zum Münchner Abkommen von 1938, der Flucht und Vertreibung
von Menschen aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet sowie zur Zerschlagung und Besetzung
der Tschechoslowakischen Republik geführt hat.
Sie bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die
nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. Die deutsche Seite
würdigt die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und diejenigen, die dieser
Gewaltherrschaft Widerstand geleistet haben.
Die deutsche Seite ist sich auch bewußt, daß die nationalsozialistische Gewaltpolitik
gegenüber dem tschechischen Volk dazu beigetragen hat, den Boden für Flucht, Vertreibung
und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu bereiten.
III
Die tschechische Seite bedauert, daß durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung
sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die
Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde,
und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Sie bedauert
insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und
auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber
hinaus, daß es aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese
Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und daß infolge dessen diese Taten nicht
bestraft wurden.
IV
Beide Seiten stimmen darin überein, daß das begangene Unrecht der Vergangenheit
angehört und werden daher ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten. Gerade deshalb,
weil sie sich der tragischen Kapitel ihrer Geschichte bewußt bleiben, sind sie
entschlossen, in der Gestaltung ihrer Beziehungen weiterhin der Verständigung und dem
gegenseitigen Einvernehmen Vorrang einzuräumen, wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung
verpflichtet bleibt und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung
hat. Beide Seiten erklären deshalb, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der
Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.
V
Beide Seiten bekräftigen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 20 und 21 des Vertrags
über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar 1992, in
denen die Rechte der Angehörigen der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik
und von Personen tschechischer Abstammung in der Bundesrepublik Deutschland im einzelnen
niedergelegt sind.
Beide Seiten sind sich bewußt, daß diese Minderheit und diese Personen in den
beiderseitigen Beziehungen eine wichtige Rolle spielen und stellen fest, daß deren
Förderung auch weiterhin im beiderseitigen Interesse liegt.
VI
Beide Seiten sind überzeugt, daß der Beitritt der Tschechischen Republik zur
Europäischen Union und die Freizügigkeit in diesem Raum das Zusammenleben von Deutschen
und Tschechen weiter erleichtern wird.
In diesem Zusammenhang geben sie ihrer Genugtuung Ausdruck, daß aufgrund des
Europaabkommens über die Assoziation zwischen der Tschechischen Republik und den
Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten wesentliche Fortschritte auf dem
Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einschließlich der Möglichkeiten
selbständiger Erwerbstätigkeit und unternehmerischer Tätigkeit gemäß Artikel 45
dieses Abkommens erreicht worden sind.
Beide Seiten sind bereit, im Rahmen ihrer geltenden Rechtsvorschriften bei der Prüfung
von Anträgen auf Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt humanitäre und andere Belange,
insbesondere verwandtschaftliche Beziehungen und familiäre und weitere Bindungen,
besonders zu berücksichtigen.
VII
Beide Seiten werden einen deutsch-tschechischen Zukunftsfonds errichten. Die deutsche
Seite erklärt sich bereit, für diesen Fonds den Betrag von 140 Millionen DM zur
Verfügung zu stellen. Die tschechische Seite erklärt sich bereit, ihrerseits für diesen
Fonds den Betrag von 440 Millionen Kc zur Verfügung zu stellen. Über die gemeinsame
Verwaltung dieses Fonds werden beide Seiten eine gesonderte Vereinbarung treffen.
Dieser gemeinsame Fonds wird der Finanzierung von Projekten gemeinsamen Interesses dienen
(wie Jugendbegegnung, Altenfürsorge, Sanatorienbau und -betrieb, Pflege und Renovierung
von Baudenkmälern und Grabstätten, Minderheitenförderung, Partnerschaftsprojekte,
deutsch-tschechische Gesprächsforen, gemeinsame wissenschaftliche und ökologische
Projekte, Sprachunterricht, grenzüberschreitende Zusammenarbeit).
Die deutsche Seite bekennt sich zu ihrer Verpflichtung und Verantwortung gegenüber all
jenen, die Opfer nationalsozialistischer Gewalt geworden sind. Daher sollen die hierfür
in Frage kommenden Projekte insbesondere Opfern nationalsozialistischer Gewalt zugute
kommen.
VIII
Beide Seiten stimmen darin überein, daß die historische Entwicklung der Beziehungen
zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
der gemeinsamen Erforschung bedarf und treten daher für die Fortführung der bisherigen
erfolgreichen Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission ein.
Beide Seiten sehen zugleich in der Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes, das
Deutsche und Tschechen verbindet, einen wichtigen Beitrag zum Brückenschlag in die
Zukunft.
Beide Seiten vereinbaren die Einrichtung eines deutsch-tschechischen Gesprächsforums, das
insbesondere aus den Mitteln des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds gefördert wird und
in dem unter der Schirmherrschaft beider Regierungen und Beteiligung aller an einer engen
und guten deutsch-tschechischen Partnerschaft interessierten Kreise der
deutsch-tschechische Dialog gepflegt werden soll.
Prag, den 21. Januar 1997
Für die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland
Dr. Helmut Kohl
Dr. Klaus Kinkel
Für die Regierung der
Tschechischen Republik
Prof. Václav Klaus
Josef Zieleniec
Quelle:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 24. Januar
1997, Nr. 7, S. 61-62
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Vertragsarchiv
(übernommen von der Leitseite des Auswärtigen Amtes 2000-09-25)
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