AUDIATUR ET ALTERA PARS
(Man höre auch die andere Seite)

Auszug aus dem l5seitigen Vorwort, das Prof. Dr. Ján Mlynárik für die tschechische Ausgabe unserer Dokumentation über den Brünner Todesmarsch geschrieben hat:

Lieber Leser, wenn Du das Licht, die Heiterkeit und die menschliche Toleranz liebst, dann wirf dieses Buch weg! Laß es zum Fraß der Aasgeier werden, die sich da nähren von Elend und Tod! –

Wahrlich, das Lesen dieses Buches kann niemanden erfreuen. Denn es handelt von der schrecklichen Bilanz eines menschlichen Versagens, zu dem es nicht in den Wahnsinnszeiten des Krieges, sondern in einem Augenblick des Friedens kam. Nicht im Getöse der Kriegswaffen und der wie Geysire aus der Erde sprudelnden Bombeneinschläge, sondern beim Duft blühenden Flieders. Nicht bei Frost oder dem Schmuddelwetter eines „Häßlichen Mittwochs“, sondern am heiligen Fronleichnamstag.
Am letzten Maitag im Jahre des Herrn 1945 quoll ein Strom menschlichen Leides, ein Strom der Qual, des Jammers, der Ungewißheit und des Schmerzes aus Brünn zur österreichischen Grenze. „Wer das nicht selbst durchlebt hat, kann sich solche Qual gar nicht vorstellen. Es war die schrecklichste Fronleichnams-Prozession aller Zeiten“, lautete die Erinnerung einer Gepeinigten. Ja – „ein besonderer Umzug an Fronleichnam. Ein gelähmter jüdischer Junge mußte mit. Als Jude verflucht, als Deutscher verjagt – Haß kennt kein Erbarmen“, lautet eine andere Erinnerung.

Selbst dem Geschichtswissenschaftler zittert die Hand beim Schreiben dieser Zeilen. Während er Bruchstücke von Schicksalen vernimmt, überfällt ihn eine Sturzflut von Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Voll Bitterkeit brennen die Finger des Historikers beim Wenden der Seiten, auf denen unzählige Tragödien vermerkt sind.
(...)

„Ich sah eine junge Frau, die ihren toten Säugling in den Armen hielt. Sie bat mich, nichts zu verraten, sie wolle ihn wenigstens in Osterreich begraben“, hören wir die Botschaft einer Deportierten. Wie soll man hier ein Lichtchen der Hoffnung finden, ein Fünkchen Menschlichkeit herausschlagen? „Neben uns lag eine Mutter mit fünf kleinen Kindern. Eines Morgens war sie tot, Hungers gestorben. Die Kinder schrieen, das kleinste krabbelte über die Tote. Hinter uns eine tote Greisin, 83jährig, die im Blut und Ausscheidungen lag“, lesen wir von Zeugen. Den Historiker ergreift tiefer Schmerz, wenn er liest: „Am Stadtrande von Pohrlitz sah ich eine Frau mit einem kleinen Kind stehen. Es konnte noch nicht laufen. Die Mutter hielt das weinende Kind und redete auf einen Mann mit Gewehr ein. Plötzlich entriß er ihr das Kind und warf es in den Fluß“.
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„Etwa zwanzig Meter von uns eine laute Auseinandersetzung zwischen einer Frau und einem Aufseher. Ein Schuß ertönte. Als wir hinkamen, lag die Frau auf der anderen Straßenseite. Neben ihr bewegte sich ein kleines Köpfchen. Ich hörte das Kind wimmern. Niemand wagte auch nur ein Wort zu sagen.“ Des Historikers Herz zittert bei so viel menschlicher Niedertracht.

„Ich sah auf der Wiese eine junge Frau liegen, die eben niedergekommen war. Sie schrie und jammerte, Sie und das Kind bekamen aber Schläge und Fußtritte, bis die beiden regungslos liegen blieben.“ Wohin verschwand die Wärme menschlicher Zuneigung? „Einer Frau zogen sie den Säugling aus dem Kinderwagen und warfen ihn in den Straßengraben“.

Willst Du, lieber Leser, weitere Zeugenaussagen aus diesem Todesfuror lesen? Selbst der Historiker sagt sich: Es reicht! – Aber dann kommen die Fragen: Wer sind die, die sich so bitter an die Vertreibung aus der Stadt erinnern, die ihre Vorfahren gemeinsam erbauten, in der sie über Jahrhunderte lebten?
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Für den Historiker sind Erinnerungen eine narrative Quelle. Sie gehören zwar nicht zu den erstrangigen, aber nichtsdestoweniger zu den unentbehrlichen Quellen. Der Schmerz, in der Zeit der Tragödie aufgezeichnet, kann verzerrt oder überzogen dargestellt sein; trotzdem bleibt er von einem Aussagewert, der in keinem der amtlichen Dokumente und Archive erhalten ist. Die interpretierte Erinnerung in Verbindung mit der Analyse anderer amtlicher wie auch nichtamtlicher Quellen, Chroniken, Kirchenmatriken und Aufzeichnungen hilft das Gesamtbild eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses zu bilden.

Audiatur et altera pars.
Die systematische Schilderung der Tragödie der Brünner und mährischen Deutschen tritt aus den Erinnerungen der Betroffenen zutage. Die heimischen Historiker müssen auch diese Stimme hören, müssen auch diese Quelle akzeptieren. Immerhin ist es den deutschen (Brünner) Autoren gelungen, auch bisher unbekanntes Archivmaterial aus der Tätigkeit des Internationalen Roten Kreuzes, aus der Wiener Erzdiezösankanzlei und anderen Archiven, die für die Rekonstruktion historischer Ereignisse unerläßlich sind, zu finden.
Die Brünner Tragödie des Mai 1945 ist in vielen Archiven Europas aufgezeichnet. Ich mache hier besonders auf die Bemerkung der Autoren aufmerksam über die Unerläßlichkeit der Exzerption der Moskauer, aber auch Kiever Archive der sowjetischen Sicherheitsdienste KGB und GRU, der Militärarchive der Roten Armee sowie aller anderen Institute, wo Unterlagen gelagert sind, welche aus der Tätigkeit der sowjetischen Staats- und Armeepolizei stammen, die die Ereignisse verläßlich beobachteten.

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An den Händen der Hauptakteure haftet das Blut Tausender unschuldiger ermordeter Sudeten- und Karpatendeutscher. Mit Hilfe ihrer Roten Garden (Rudé Gardy) – Raub- und Mordkommandos, die sich für Partisanen ausgaben – leisteten sie die schmutzigste Arbeit beim Morden und Austreiben.

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Auf diese Weise ließ sich die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSC) in die Dienste des tschechischen Nationalismus spannen, verlor ihren internationalistischen Charakter, vertrieb im Grunde auch die Antifaschisten und hat so Schande auf sich geladen. Waren doch gerade die Sudetendeutschen, neben den slowakischen Madjaren, nicht nur die treibende Kraft bei der Gründung der KSC, sondern auch das dynamische Element ihrer Existenz.
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Doch an der Gerechtigkeit und Berechtigung der Vertreibung zweifelten die kommunistischen Geschichtsausleger nicht. Darum waren es auch die tschechischen Kommunisten, die nach ihrem Zusammenbruch im Jahre 1989 die härteste Position gegenüber Deutschen einnahmen. In diesem Sinne wurde auch in ihrem Parteiorgan „Rude Právo“ (Das rote Recht), später „Právo“ (Das Recht) und auch in anderen ihrer Druckschriften berichtet. Von dieser Seite ertönen bis heute die lautesten Stimmen gegen die Versöhnung mit den Vertriebenen, gegen eine gerechte und lindernde Entschuldigung für die Verbrechen, die unter der Herrschaft ihrer bolschewistischen Vorgänger begangen wurden.

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Hauptquelle jenes Chauvinismus sind allerdings nicht die tschechischen Kommunisten, sondern die Angehörigen der tschechischen Rechten, die sich zu dem Hauptinitiator der Austreibung, dem ehemaligen Präsidenten der CSR Dr. Edvard Beneš, bekennen. Es waren auch Männer aus Benešs Umgebung, die Nationalsozialisten, die zu Hause im Widerstand, vor allem aber im Ausland die Austreibung der Deutschen forderten und auf die Tagesordnung setzten.
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Als die westlichen Mächte zögerten, wandte sich Beneš an Stalin und schloß mit ihm im Dezember 1943 den Pakt über die Austreibung. Er versprach ihm dafür die Karpatenukraine und die Sozialisierung der Tschechoslowakei. Bei der Verhandlung mit Molotow sagt er: „Wenn Sie uns helfen, unsere Deutschen auszutreiben, wird ihr Gewinn die Grundlage der Sozialisierung (der Nationalisierung) der Tschechoslowakei sein.“ Hier liegt die Nabelschnur der sudetendeutschen Tragödie, die schließlich zur Tragödie aller Bürger der CSR wurde, die Beneš verschacherte, um die Realisation seiner genozidartigen Pläne zu erreichen.
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Entnommen dem Brünner Heimatboten 2001, Seite 182 bis 184. ML 2001-11-02

Hier die vollständige Fassung in deutscher und auch in tschechischer Sprache