KK 1196
10. Januar 2005
Ingmar Brantsch: OKR-Tagung über Hermannstadt
Peter Mast: SZ-Forum zum deutsch-polnischen Verhältnis
Dietmar Stutzer: In der Ukraine zeigt Osteuropa unerhoffte Reife
Martin Schmidt: Deutsches Tagebucharchiv in Emmendingen
Werner Bader: Der irrige Begriff Doppelstadt
Luzian Geier: Wanderausstellung des Bukowina-Instituts in Rumänien
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Günther Ott: Die Naive-Kunst-Galerie der Marianne Kühn in Köln
Jörg Bernhard Bilke: Zu Leben und Werk Edzard Schapers
Claus Stephani: Die Jüdischen Kulturtage in München
Dieter Göllner: Deutsch-serbisches Literaturforum in Düsseldorf
KK-Notizbuch
Kultur findet ihre Mitte auch am Rand
Tagung der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat über Hermannstadt, eine der künftigen
Kulturhauptstädte Europas
Mit der Vortragsveranstaltung Hermannstadt als Mittelpunkt der
Verständigung zwischen Rumänen, Deutschen und anderen Nationalitäten im Bonner
Haus der Geschichte am 10. Dezember 2004 eröffnete der Ostdeutsche Kulturrat als eine der
ersten bundesdeutschen Kultureinrichtungen die Vorbereitungen für ein prestigeträchtiges
Großereignis: Im Jahr 2007 sind Hermannstadt, rumänisch Sibiu, und Luxemburg
Kulturhauptstädte Europas. Während Luxemburg allgemein als eine Stadt mit Institutionen
der Europäischen Union sowie als Finanzstandort europaweit bekannt ist, kann man das von
Hermannstadt leider nicht sagen, obwohl es auch einiges Gesamteuropäisches anzubieten
hat.
Hier wurde schon im 16. Jahrhundert das erste Modell der Mehrstufenrakete von Conrad Haas
entwickelt und eins der ersten rumänischen Bücher, eine Bibel in rumänischer Sprache,
gedruckt, als die Siebenbürger Sachsen im Zuge der Reformation auch die Rumänen für die
lutherische Konfession gewinnen wollten. Hier residierte auch der kulturell so bedeutende
Landesgouverneur Siebenbürgens Samuel von Brukenthal (1721-1803), der als einer der
ersten Verwalter der Habsburger Kaiserin Maria Theresia (1740-1780) in seinem Palais ein
Kunstmuseum mit unschätzbaren Gemälden besonders der flämischen Malerei einrichtete.
1817, noch vor dem Louvre in Paris, wurde es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und
ist das älteste Museum Rumäniens. Auch das deutschsprachige Gymnasium trägt Brukenthals
Namen und bildet nach wie vor Schüler mit Deutsch als Unterrichtssprache aus, auch wenn
heute 90 Prozent der Kinder nach dem Massenexodus der Rumäniendeutschen von Haus aus
rumänisch- oder ungarischsprachig sind. Das Abitur wird dank des rumänisch-deutschen
Kulturabkommens auch in Deutschland anerkannt.
Der Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Prof. Dr. Eberhard Günter Schulz,
führte vor zahlreichem Publikum mit grundsätzlichen Betrachtungen (nachzulesen in der KK1195) ein.
Der Vortrag des weit über die Grenzen seiner Stadt bekannten, das große Vertrauen der
rumänischen Mehrheitsbevölkerung genießenden siebenbürgisch-sächsischen
Bürgermeisters Klaus Johannis fiel leider wegen wahlbedingten Terminschwierigkeiten aus.
Ersetzt wurde er durch einen belletristischen Leckerbissen zum Thema Siebenbürgen, den
der KK-Redakteur und Übersetzer Georg Aescht anbot. Er stellte ein Fragment aus Erwin
Wittstocks Novelle Der Viehmarkt von Wängersthuel einer Schilderung
Hermannstadts von Nicolae Iorga, dem wohl bedeutendsten rumänischen Historiker der
Zwischenkriegszeit, gegenüber. Iorga hatte viel Verständnis für die Siebenbürger
Sachsen. Auch in seiner Schilderung der Märkte, Plätze, Gäßchen und Hinterhöfe
Hermannstadts mit ihrer jahrhundertealten Geschichte und mitunter auch bedrückenden
Vergangenheitsatmosphäre hallt wie bei Wittstock der doppelte Boden, das komplexe
Schicksal Transsilvaniens und seiner Bewohner, dieser von der Geschichte keineswegs
verschonten Menschen, bedeutungsschwer, ein Raunen vom möglichen Niedergang, Bilder der
Wehmut und der Trauer. Georg Aescht, der im Klagenfurter Wieser-Verlag die Anthologie
Siebenbürgen erlesen herausgebracht hat, in der er meinte, Siebenbürgen
gäbe es nicht mehr, war froh, sich heute widersprechen zu können. Siebenbürgen gibt es
noch immer, wenn auch stark verändert.
Den zweiten Vortrag über Hermannstadt als Schmelztiegel der Nationalitäten
Siebenbürgens hielt der Hermannstädter Historiker, Denkmalschützer und Kulturpolitiker
Dr. Paul Niedermaier, Forscher an der dortigen Zweigstelle der Rumänischen Akademie,
Autor zahlreicher Studien zur Geschichte des mittelalterlichen Städtebaus und
Beauftragter für die Aufnahme der Altstadt ins UNESCO-Weltkulturerbe.
Er wies vor allem darauf hin, daß es nach dem Umbruch von 1989 und dem Massenexodus der
Rumäniendeutschen auch einen Wendepunkt zum Neubeginn gegeben hat mit der Gründung der
Evangelischen Akademie Siebenbürgens 1991 und vor allem mit der Gründung des
Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt 1990, das dann Modell für das
Siebenbürgenforum und Rumänienforum der deutschen Minderheit wurde. Inzwischen hat auch
eine weitgehende Öffnung stattgefunden. In der evangelischen Orgelvesper (Messe) wird das
Vaterunser deutsch und rumänisch gebetet. Ebenfalls in der Adventszeit wird auch
rumänisch gepredigt, was zur Folge hat, daß die Gottesdienste auch von Rumänen besucht
werden. Auch in vielen Pfarrämtern wird heute rumänisch gesprochen, weil es keine
deutschen Angestellten mehr gibt. Das protestantische Theologische Institut, in dem die
evangelischen Pfarrer deutschsprachig ausgebildet werden, verhandelt mit der Universität
Hermannstadt, der es sich anschließen will wie das rumänische orthodoxe Institut, so
daß die Professoren und Dozenten von der Universität bezahlt werden und die
wissenschaftliche Tradition und Tätigkeit gesichert und sogar erweitert werden kann.
2007 soll Hermannstadt nicht nur mit Luxemburg Kulturhauptstadt Europas werden, sondern
auch die große ökumenische Konferenz der europäischen Kirchen mit Tausenden von Gästen
beherbergen. Zudem soll die Innenstadt von Hermannstadt in die Liste des Weltkulturerbes
aufgenommen werden. Prinz Charles von England und der bundesdeutsche Innenminister Otto
Schily machen sich auch dafür stark.
So dürfte Hermannstadt wieder zu einem Bindeglied zwischen West und Ost werden, wie die
Hermannstädter nicht zu Unrecht hoffen.
Den letzten Vortrag hielt Professor Dr. Werner Schaal von der Universität Marburg.
Zusammen mit dem rumänischen Rektor der Lucian-Blaga-Universität, Professor Dumitru Pop
Ciocoi, leitet er als Vertreter der Partneruniversität Marburg an der Lahn und
Kopräsident den Aufbau und die Organisation der Universität Hermannstadt. Er tut dies
ehrenamtlich mit großem Engagement, und die heute 16000 Vollzeit- und 10000 Fernstudenten
zählende Hermannstädter Hochschule verdankt ihm viel, vor allen Dingen was den Anschluß
an europäisches Niveau anbelangt.
Professor Schaal ging auf die Schwierigkeiten dieses Neubeginns ein, ohne jedoch
resignativ zu wirken, sondern im Gegenteil immer wieder Möglichkeiten und Lösungen in
Erwägung ziehend und auch bisher Erreichtes würdigend. Sein mit vielen Daten und Fakten
gespicktes Referat man konnte daran auch den Mathematiker erkennen war
gewissermaßen der krönende Abschluß dieser so aufschlußreichen informativen
Vortragsveranstaltung.
Es bleibt zu hoffen, daß durch diese fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Hermannstadt und
Marburg auch das Mißgeschick aufgehoben wird, das 1989 in Marburg entstand, als da eine
Tagung Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur stattfand, die den Eindruck
erweckte, in Rumänien seien die Lichter der deutschsprachigen Literatur ausgegangen. Dem
ist keineswegs so, denn gerade in Hermannstadt und Umgebung leben namhafte deutsche
Autoren wie der inzwischen europaweit bekannte Eginald Schlattner, der Verfasser des
vielfach übersetzten Romans Der geköpfte Hahn, der im Dezember 2004 auch das
österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse erhielt.
Joachim Wittstock ist ein Autor, der auch jenseits der Grenzen Rumäniens im
deutschsprachigen Raum bekannt ist und viele Preise, darunter die Ehrengabe zum
Schillerpreis, erhielt.
Die Kinderbuchautorin Ricarda Terschak, der Erzähler und Lyriker Gottfried Seydner, der
Lyriker Wilhelm Meitert bereichern das kulturelle Leben, nicht zuletzt der Bukarester
Autor Hans Liebhardt, der aus Großpold bei Hermannstadt stammt und dessen Erzählungen
aus siebenbürgischen Reminiszenzen gespeist sind.
Ingmar Brantsch (KK)
Die Malerei und Graphik der aus Siebenbürgen stammenden Künstlerin Jutta
Pallos-Schönauer, geboren 1925 in Sächsisch Regen, hat auch nach ihrer
Aussiedlung aus Rumänien den Themenschwerpunkt Siebenbürgen. In ihren Werken gestaltet
sie die dort lebenden Menschen, die Landschaft sowie spezifische Bauten. Vom 14. Januar
bis zum 4. März präsentiert das Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus.
Deutsch-osteuropäisches Forum eine Retrospektive. Bei der Eröffnung am 14. Januar um 18
Uhr führt der in Düsseldorf lebende Künstler Reinhardt Schuster in ihr Werk ein.
(KK)
Wider die gegenseitige Verkrampftheit
Ein Gespräch zum deutsch-polnischen Verhältnis im Rahmen des SZ-Forums in München
wirbt um Geduld und Verständnis
Im Jahre 1948 schrieb Ellinor von Puttkamer in der von Dolf Sternberger
herausgegebenen Monatsschrift Die Wandlung (3. Jahrgang, 3. Heft), bis zum
Gelingen eines Ausgleichs Deutschlands mit Polen möchten Jahrzehnte vergehen,
vielleicht auch Generationen. Eine solche Wartezeit, so setzte sie
hinzu, wird sogar nötig sein, wenn die Gefühle von Haß und Rache überwunden und
eine Auseinandersetzung in gegenseitiger Achtung möglich werden soll. Daran
gemessen mag man es verstehen, wenn seit 1990 immer wieder davon die Rede war und noch
ist, daß im deutsch-polnischen Verhältnis ein Wunder geschehen sei, indem beide Völker
Freundschaft miteinander geschlossen hätten, analog der zwischen Deutschland und
Frankreich.
Professor Hans Maier, viele Jahre bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus,
drückte das jüngst auf einer Veranstaltung des Forums der Süddeutschen Zeitung (SZ) in
München viel einfacher und behutsamer aus. Wenn nach den Jahren 1944 bis 1948 eine
Rückkehr zur Normalität zwischen beiden Ländern kaum mehr möglich erschienen sei, so
habe es im beiderseitigen Verhältnis dann doch engere Verbindungen,
Verständnis und Zuwendung und sogar Dichte und Nähe gegeben,
erstaunlicherweise auch in der Zeit der deutschen Einheit. Was sei geschehen, daß jetzt
die alten Gegensätze wieder aufbrächen?
Hans Maier moderierte ein Gespräch zu dieser Frage, durch das zugleich das soeben im
Beck-Verlag erschienene Buch von Thomas Urban, Korrespondent der SZ in Warschau,
vorgestellt werden sollte: Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im
20. Jahrhundert. Maier gab zur Frage des Abends zu bedenken, daß selbst diejenigen
Polen, die für ein großes Verständnis gegenüber Deutschland bekannt seien, am Ausbruch
der politischen Emotionen in Polen teilhätten. Offenbar habe der neue deutsche
Diskurs über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, der sich vor allem in dem
Vorhaben, ein Zentrum gegen Vertreibungen zu errichten, niederschlage, bei
vielen Polen die Furcht entstehen lassen, die Leiden ihres Volkes in der Zeit der
deutschen Besetzung könnten vergessen werden. Urban, 1954 geboren, aus einer Breslauer
Familie stammend und mit einer Polin verheiratet, meinte dazu, in den Jahren ab 1990 sei
in den deutsch-polnischen Beziehungen in einer gegenseitigen Verkrampftheit
das Düstere in der gemeinsamen Geschichte nicht beim Namen genannt worden, so daß nun
bei den Polen der Eindruck bestehe, die Deutschen wollten die Geschichte umschreiben.
Damit tue man diesen freilich Unrecht. Diejenigen Polen indessen, die sich um eine
Verständigung mit Deutschland bemühten, seien durch den Rechtsschwenk der öffentlichen
Meinung in Polen unter Druck geraten und kämen mit ihrer Ansicht der Dinge nur noch wenig
zur Geltung.
Rupert Neudeck, gebürtiger Danziger vom Jahrgang 1939, erinnerte daran, daß die Polen im
Unterschied zu den Bundesdeutschen nicht jahrzehntelang Zeit gehabt hätten, sich in
Freiheit mit dem beiderseitigen Verhältnis und seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Er
bat um Geduld mit den polnischen Nachbarn und Freunden. Die Deutschen hätten es in der
ihnen vergönnten Zeit weit gebracht, wie ein Blick auf den Balkan und auf Palästina
lehre. Die Bereitschaft, auf ein großes Stück Land zu verzichten, ist eine
großartige Leistung meines Volkes.
Ellinor von Puttkamer hatte 1948 noch bezüglich der Abtrennung Ostdeutschlands
geschrieben: Auf der Grundlage der gegenwärtigen, von Rußland gestützten
Radikallösung ist eine ehrliche Verständigung zwischen Deutschland und Polen sehr
unwahrscheinlich. Illusionen hierüber wären ebenso abwegig wie der Irrglaube früherer
Generationen, die eine Ausgleichspolitik treiben wollten, ohne an den Status der Teilungen
(Polens Anm. d. Verf.) zu rühren.
Professor Maier gab zu bedenken, daß es im Gegensatz zu dem deutsch-französischen im
deutsch-polnischen Verhältnis, was das Bewußtsein der Menschen betreffe, eine lange
gemeinsame Geschichte nicht gebe; hier sei nur die Katastrophenzeit
gegenwärtig. Die Deutschen seien, wie Urban bemerkte, von den Franzosen stets auch
fasziniert gewesen, von den Polen hingegen nicht. Die Deutschen stehen mit dem
Rücken zu Polen. Auch so etwas wie den Faktor Rußland (im Sinne einer
Zweifrontenbedrohung Polens), so Maier, gebe es im Verhältnis zwischen Deutschland und
Frankreich nicht. Der deutsche Blick nach Osten sei zu einfach. Die polnische
Geschichte ist nicht in unserem Bewußtsein.
Wie gehe es zwischen Deutschland und Polen weiter, fragte Maier, wie komme man aus dem Tal
heraus? Die Talsohle sei, so meinte Urban, bereits überwunden; nachdenkliche Stimmen
gewännen in Polen wieder an Gewicht. Es werde aber noch Pendelausschläge geben.
Hinsichtlich dessen, was es an Gemeinsamem gebe, sei ein bunteres Bild zu malen als
derzeit üblich. Man denke nur daran, daß Vertriebenentreffen in der alten Heimat
stattfinden könnten. Bezeichnend sei, daß die Zustimmung der Polen zur EU in den
ehemaligen deutschen Ostgebieten am stärksten sei; je näher man den deutschen Nachbarn
sei, desto weniger Probleme habe man mit ihnen. In Warschau verstehe man das nicht. Das
sei, wie Maier einwarf, ein bemerkenswerter Befund, da in der EU die Regionen wichtiger
würden als die Nationalstaaten. Neudeck empfahl deutsch-polnische Initiativen unterhalb
der staatlichen Ebene, ein institutionelles Miteinander, etwa in Ländern der
Dritten Welt. Gelänge derlei in einem größeren Umfang, dann wäre man schon ein Stück
weiter.
Auf die Vertriebenenorganisationen, die schon heute ein gutes Stück Gemeinsamkeit
praktizierten, so Neudeck, habe man sich hierzulande zu sehr eingeschossen. Es
gebe unter ihnen eine starke Differenzierung, die die korrekte Öffentlichkeit
bisher nicht wahrgenommen habe. Auf die Frage, wie mit den Vertriebenen umzugehen sei,
betonte Professor Maier, das müsse aufgrund der historischen Wahrheit geschehen. Sonst
bringe man es mit Polen nur zu einem diplomatischen Formelkompromiß, und den
habe man heute nicht mehr nötig.
Peter Mast (KK)
Im Jahr 2005 kommen zwei Gedenkereignisse auf uns zu: das Ende des Zweiten
Weltkriegs vor 60 Jahren und das 750jährige Stadtjubiläum Königsberg/Kaliningrad. Beide
Ereignisse werden im kommenden Jahr häufig diskutiert und aus den unterschiedlichen
Blickwinkeln betrachtet werden.
Das Ostpreußische Landesmuseum, das die Geschichte und Kultur der ehemalig
ostdeutsche Region erforscht und für das Publikum zugänglich macht, zeigt zwei große
Ausstellungen zu diesen Anlässen: Königsberg in Bildern und Visionen (19. 3.
bis 19. 6. 2005) und Man nannte sie Umsiedler Ostpreußen in der DDR
(9. 7. bis 3. 10. 2005). In letzterer wird am Schicksal der aus Ostpreußen vertriebenen
Deutschen, die in der SBZ/DDR zumindest zeitweilig ihre neue Heimat fanden, den Weg in das
neue Leben mit seinen Schwierigkeiten dargestellt. Die Wissenschaftler auch für über die
Ausstellungen hinausgehende Fragen zu diesen Themenkomplexen zur Verfügung.
(KK)
Eine Kulturenscheide hat sich verschoben
In der Ukraine zeigt Osteuropa eine Reife, wie man sie vor kurzem nicht erhofft
hätte
Mindestens seit dem 19. Jahrhundert gehört zur eisernen Ration der
osteuropäischen Kulturgeschichte der Lehrsatz, daß der Stromlauf des ostpolnischen Bug
die große Kulturenscheide zwischen der weströmisch-demokratischen Zivilisation und der
oströmisch-byzantinischen Despotie sei. (Allerdings sollte damit nie gesagt werden, daß
es nicht auch im weströmischen Kulturkreis Despotien gegeben hätte.)
Konnte man sich kurz nach dem ruhmlosen Hinscheiden der UdSSR 1991 im östlichen
Polen und in der Westukraine bewegen, dann hatte man damals Grund zu gewichtigen Zweifeln.
Schließlich war die Westukraine zuerst Teil des litauischen, dann des
polnisch-litauischen Großreiches, der polnische Kultureinfluß reichte durch Jahrhunderte
bis vor Odessa, Tarnopol war noch in der ersten polnischen Republik eine genuin polnische
Stadt, von Lemberg nicht zu reden. Ihm folgte nach der ersten polnischen Teilung von 1772
der österreichische Einfluß, die habsburgische Monarchie reichte so weit wie das
jagellonische Polen gereicht hatte noch 1914. Georg Trakls Grodek
findet sich in der Ukraine. Wenn es stimmt, daß Kultur der Zusammenhang von Werten ist,
die von den Lebenden einer Epoche als lebensführende Mächte anerkannt werden, dann hat
sich in nur zehn Jahren die weströmisch-byzantinische Kulturengrenze weit in die
Ostukraine und in den Raum der oströmischen Orthodoxie verschoben.
Noch vor einem Jahrzehnt wirkte die Ukraine auf den Westeuropäer als Land in Apathie,
wenn nicht fast in Agonie. Wer die traurige Gelegenheit hatte, Tschernobyl zu besuchen,
sah, nach den Worten eines französischen Begleiters, ein Land, in dem der
Schöpfungsplan zerbrochen ist. Gegen die Bilder, die dort wahrgenommen werden
mußten, waren die Bilder von Hieronymus Bosch Illustrationen von Märchen für
Kleinkinder. Vielleicht war es Einbildung, aber die Ukraine wirkte, als lebte das
600000-Quadratkilometer-Land mit fast 50 Millionen Einwohnern nur noch im Schatten von
Tschernobyl. Man mußte vermuten, daß nirgendwo eine positive Zukunft für diese 50
Millionen in ihrer Apathie zu sehen war.
Jetzt zeigt das gleiche Land nicht nur die Ansätze zu einer Zivilgesellschaft mit einem
Bewußtsein von bürgerlichen Rechten und von bürgerlicher Disziplin ,
sie sind offenbar bereits so weit ausgebildet, daß der friedliche und gewaltfreie Ablauf
der Manifestationen dieser Zivilgesellschaft nicht nur im Westen der Ukraine möglich ist,
sondern mindestens von der Jugend und den technischen Eliten des oströmischen
Ostens des Landes geteilt wird.
Vergleicht man die Schrecken der polnischen Aufstände ab 1956, des ungarischen Aufstandes
im gleichen Jahr, noch des 21. August 1968 in Prag, mit dem, was sich seit 1989 in
Osteuropa zugetragen und sich in die Ostukraine fortgepflanzt hat, ist man versucht
zu vermuten, daß sich eine universale kulturelle Transformation verwirklicht hat und die
Ideale der Auslöser der Französischen Revolution von einer terrorfreien
Bürgergesellschaft oder die An- und Aufrufe Kants zum ewigen Frieden sich
erst jetzt in und durch Osteuropa verwirklichen.
Wieder eine Rätselfrage an die Geschichte: Wie war das möglich in so kurzer Zeit? Sollte
die Strahlkraft der EU in wenigen Jahren so groß geworden sein und das bei ihrem
von keiner Seite bestrittenen fast totalen Mangel jeder kulturellen Dimension? Oder sind
in der Tiefe des kollektiven Gedächtnisse, in dem es keine Zeit gibt (Norbert
Elias), die lebensführenden Kulturmächte der EU, die es schon einmal gegeben
hat, nämlich des polnisch-litauischen Großreiches der Jagellonen, so wirksam
geblieben? Dieses Reich hatte weder den Staatsbegriff der Renaissance noch das römische
Recht akzeptiert. Der König hatte fast nur Schieds-, keine auf Macht gegründete Gewalt.
Die Stellung des einzelnen wurde nicht nur durch die Gleichheit des Besitzes, sondern die
Gleichheit des Lebensstils geprägt. Dieser Lebensstil, fast mit einer Überbetonung der
kulturellen Elemente, war auch der Grund für die Entstehung und Festigung des
Großreiches als freiwillige Elitenkooperation. Hat die europäische Kulturhauptstadt
2000, Krakau, eine so große Ausstrahlung entwickelt, oder kommt diese ukrainische
Zivilgesellschaft vor allem aus der Mitte ebendieser Gesellschaft?
Politische und kulturelle Mentalitätstheorie und -forschung ist eben ein notorisch
vernachlässigtes Wissensgebiet. Deshalb konnte Europa von dieser ukrainischen Entwicklung
so völlig überrascht werden.
Die EU, nach Jean Monnet das Instrument des neuen Humanismus, dürfte aber
eine zentrale Rolle gespielt haben, abzulesen an dem Auftreten des früheren
und des gegenwärtigen polnischen Staatspräsidenten als Vermittler. In so
aufrichtiger Abneigung sie einander auch verbunden sind, beiden haben nur sieben
Mitgliedsmonate in der EU und fünf NATO-Jahre genügt, um eine künftige polnische Rolle
als osteuropäische Orientierungsmacht in Umrissen erahnbar zu machen. Die Gründer
der ersten polnischen Republik und die Kommunisten hatten ein
piastisches Polen im Sinn, vor allem geographisch, ihre Nachfolger orientieren sich
sichtlich am jagellonischen.
Die Aussage von Norbert Elias ist lebendiger Alltag: In der Seele gibt es keine
Zeit, gerade nicht in jener der Völker.
Dietmar Stutzer (KK)
Buch eines jeden und für alle Tage
Geschichte ganz privat: Deutsches Tagebucharchiv in Emmendingen
Das Schreiben von Tagebüchern ist eine Form persönlicher Zeitwahrnehmung, die
ganz auf den europäisch-abendländischen Kulturkreis beschränkt ist. Weder die alten
Ägypter und Chinesen kannten sie noch die antiken Griechen und Römer und auch nicht der
im Mittelalter hochentwickelte arabische Raum.
Zu einem Massenphänomen wurden diese Alltagschroniken, als im 18. Jahrhundert die
Papierherstellung in Fabriken anlief und das zuvor sehr kostspielige Schreibmaterial für
jedermann verfügbar wurde. Seitdem sind Hekatomben leerer Seiten mit den intimsten
Gedanken gefüllt worden. Das weitaus meiste bekam allerdings nur der Verfasser zu
Gesicht, und es verschwand spätestens nach dessen Tod im Müll. Weniges wurde in Archiven
bewahrt, zumal sich noch bis vor einigen Jahrzehnten kaum jemand für diese subjektiven
Epochenzeugnisse interessierte.
Im Gegenteil: Bis in die späten 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts bestimmten Zweifel
hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts, des repräsentativen Charakters und der methodischen
Aufarbeitung die Bewertung in den Wissenschaften. Doch im Zuge der aus den USA auch nach
Deutschland herübergeschwappten Mode der Oral History wurden
autobiographische Dokumente ab den achtziger Jahren in der Geschichtswissenschaft, der
Volkskunde und in anderen Disziplinen, die sich mit diversen Fragen der Erfahrungs-,
Mentalitäts- und Alltagsgeschichte befassen, immer beliebter. Als von der Quellenlage her
schier unerschöpfliche und bis dahin kaum erschlossene Mikrogeschichte boten
sie eine erfrischende Abwechslung zu der als trocken empfundenen Struktur- und
Sozialgeschichte.
Im Gefolge dieser Entwicklung entstand im Jahre 1985 erstmals ein spezielles
Tagebucharchiv im italienischen Pieve San Stefano (Toskana). Seitdem erfolgten ähnliche
Gründungen in Frankreich, Spanien, Finnland und Deutschland. Das deutsche Archiv für
autobiographische Schriften wurde im Januar 1998 von Frauke von Troschke gegründet und
befindet sich im badischen Emmendingen.
Nach dem toskanischen Vorbild will das Deutsche Tagebucharchiv e. V. unveröffentlichte
Briefwechsel, Tagebücher, Memoiren, Haus- und Hofbücher sammeln, da sie von der
alltäglichen Lebenswirklichkeit ihrer Schreiber (...) berichten, vergessenes
Brauchtum, technische Entwicklungen, Denk- und Vorstellungsweisen einer bestimmten Zeit,
einer Berufsgruppe oder einer sozialen Schicht dokumentieren.
Im 25000-Einwohner-Städtchen Emmendingen durfte man sich über große Resonanz freuen: In
den bald sieben Jahren seit Gründung der im Alten Rathaus untergebrachten Sammelstelle
gingen autobiographische Dokumente von rund 1100 Absendern ein. Die Texte landen zunächst
zur Lektüre bei einem der 40 ehrenamtlichen Mitglieder der Lesegruppe und
werden mit einer Kurzbeschreibung in Findbüchern festgehalten, ehe die Inhalte nach und
nach in eine Datenbank einfließen.
Die literarisch anspruchsvollsten Lebenserinnerungen, Tagebücher und Briefwechsel zu
bestimmten Themenbereichen erfahren besondere Ehren: Sie werden auf einer jährlich
stattfindenden Zeitreise öffentlich verlesen und als Broschüren unters Volk
gebracht. Die örtliche Presse nimmt daran ebenso wie am sonstigen Geschehen im
Tagebucharchiv regen Anteil. Auch überregionale Medien wie die Fernsehsender Südwest 3
und 3SAT, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung oder das
Bahnmagazin mobil berichteten mittlerweile über das ungewöhnliche Archiv.
So ist die Eigenwerbung fast zum Selbstläufer geworden, zumindest was Tagebücher, Briefe
usw. aus der Epoche der beiden Weltkriege einschließlich Flucht und Vertreibung
anbelangt, die in großer Zahl mit der Post eingehen oder persönlich abgeliefert werden.
Über zwei Drittel des Materials hat diesen Zeithintergrund. Silke Seemann von der
Freiburger Universität, die dem wissenschaftlichen Beirat des Archivs angehört, spricht
vom Krisencharakter autobiographischer Schriften. In Kriegszeiten werde
bekanntlich viel mehr Tagebuch geschrieben als in Friedensperioden. Darüber hinaus sind
persönliche Krisen wie die Pubertät, Krankheiten und Todesfälle, aber auch
außergewöhnliche Reisen starke Motive dafür, Gedanken und Beobachtungen aufzuzeichnen.
Fast immer gehören deren Verfasser allerdings den bessergestellten Bevölkerungsschichten
an.
Wer in den Findbüchern blättert, stellt fest, daß aus dem 16. und 17. Jahrhundert fast
keine Texte vorhanden sind und daß das 18. Jahrhundert nur sporadisch vertreten ist,
während die große Masse der Schriftstücke aus dem 19. und vor allem dem 20. Jahrhundert
stammt. Hier wiederum sind die 50er, 60er und 70er Jahre stark unterrepräsentiert,
erklärt Silke Seemann. Insbesondere gilt dies für die gesamte DDR-Zeit und auch die
aufregenden Monate der Wiedervereinigung. Es wird wohl noch längere Zeit dauern, bis die
Nachlässe mit den entsprechenden Schriften in Umlauf kommen. Ihre Besitzer leben in der
Regel noch, und die meisten Menschen wollen wenn überhaupt intime Berichte
wie Tagebücher erst nach ihrem Tod in fremden Händen wissen.
Was Zeugnisse des DDR-Alltags betrifft, starteten die Emmendinger Forscher sogar einen
gezielten Sammelaufruf. Der Erfolg war gering. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als
sich einstweilen auf die zeitgeschichtlichen Perioden zu konzentrieren, die reichlich
dokumentiert sind. An Arbeit mangelt es nicht. Im Gegenteil: Die zwei festangestellten
Kräfte, eine Historikerin und eine Literaturwissenschaftlerin, sowie etwa 60
ehrenamtliche Helfer kommen mit der Aufbereitung des Materials kaum nach.
Wie wichtig ihre Tätigkeit ist, wird dem Archivbesucher spätestens beim Stöbern in den
Findbüchern klar. Schon die Kurzbeschreibungen der Dokumente machen neugierig und deuten
die große Vielfalt der Inhalte an. Da gibt es aus der Ära der Auseinandersetzungen mit
dem revolutionären Frankreich das Kriegstagebuch des Feldpredigers Johann Heinrich
Ludolph Holekamp 1793-95, ferner eine Zeitreise durch die hundertjährige
Geschichte der Firma Schoeller & Schmitz (Pharmazeutische Großhandlung in Bonn)
1888-1988, das Tagebuch eines unbekannten Auswanderers, Beginn 1893 (Ankunft
in New York)
bis nach 1945 und ein Selbstzeugnis aus dem Frauenarbeitsdienstlager
Königshorst 1936.
Manche Texte stecken voller Gefühl und poetischer Kraft, andere sind nüchtern gehalten,
von unbeholfenem Stil oder pedantischer Genauigkeit. Vom Zweiten Weltkrieg aus
Landsersicht zeugen das Logbuch von Hans Liese, geführt als Kadett während der
Dienst- und Ausbildungszeit bei der Kriegsmarine in der Zeit von Oktober 1943 bis Februar
1945, ein Kriegstagebuch von Kurt Kramer 1943/44 (Feldkommandantur
Heeresgruppe Mitte) oder ein Tagebuch aus russischer Gefangenschaft vom 10. 5.
- 17. 8. 1945.
Auffällig viele Tagebücher dokumentieren den Heimatverlust von Schlesiern. Sie tragen
Titel wie Mitten in der Zeitenwende Tagebuch von der Flucht aus Breslau bis
zum Neuanfang in Hersfeld oder 1945. Ich war 15. Festung Breslau, Wroclaw,
Ausweisung. Die 17jährige Evamaria Scheffel aus Liegnitz dürfte wohl allen
ostdeutschen Schicksalsgefährten aus dem Munde gesprochen haben, als sie 1945
niederschrieb: Das war eine Flucht, die ich in meinem Leben nie vergessen werde.
Erst da habe ich gemerkt, was ein Mensch aushalten kann. Über ihre Odyssee via
Görlitz, Reichenberg, Aussig, Komotau, Karlsbad, Eger, Weiden, Regensburg und Zwiesel
heißt es in den im Findbuch unter Nr. 83 notierten Aufzeichnungen: Ich weiß nicht,
was das Schlimmste war, diese furchtbare Kälte, der Hunger, die fast schlaflosen Nächte,
der Aufenthalt in den zugigen Gepäckwagen oder in den überfüllten Abteilen, die
dauernde Angst vor Tieffliegern und Bombenangriffen, dieses Nachrasen hinter den Zügen
beim Umsteigen, die Gepäckschlepperei, die Sorgen, daß wir uns nicht verlieren usw. Es
war ein Leid ohne Ende.
Auch manche Nachkriegstexte wecken Neugier, so ein Hüttentagebuch 1955-73
oder die Aufzeichnungen über Ein Jahr mit fremder Hilfe. Erlebnisse mit
Pflegekräften und Zivis, niedergeschrieben im Winter 1998/99. Den dokumentarischen
Wert jüngerer Reiseberichte, etwa über eine Moskau-Leningrad-Reise vom 30. 5. - 6.
6. 1993 oder über eine Fahrt nach Ost-Pommern und Danzig vom 3. 6. - 27. 6.
1995 werden wohl erst künftige Generationen voll erfassen können.
Archivbesucher, die wissen möchten, ob es Tagebuchnotizen, Erinnerungen oder Briefe zu
einem bestimmten Ort gibt, können mit etwas Glück sofortige Einsicht erhalten
dann nämlich, wenn das entsprechende Schlagwort schon in die Datenbank eingearbeitet
wurde. Bei der Mehrzahl der Quellen ist das allerdings noch nicht der Fall, so daß hier
bis auf weiteres nur die mühsame Durchsicht der Findbücher bleibt. Aber auch die kann
höchst anregend sein, selbst wenn das Gesuchte nicht zu entdecken ist.
Kontakt: Deutsches Tagebucharchiv e.V., Marktplatz 1, 79312 Emmendingen,
Tel.: 07641/574659, Fax: 07641/931928, Internet: www.tagebucharchiv.de
Martin Schmidt (KK)
Zwei Teile bilden kein Doppel
Ein vermeintlich griffiger Begriff: Doppelstädte an der
Oder
Was ist eine Doppelstadt? Diese neue Wortschöpfung verwundert und macht
neugierig. Wo hört man sie in letzter Zeit häufig? An der Oder-Neiße-Grenze. Guben wird
als Doppelstadt bezeichnet, bestehend aus Guben westlich der Neiße und Gubin östlich des
Flusses. Und Frankfurt an der Oder soll eine Doppelstadt sein. Dazu gehören die Stadt
diesseits der Oder und Slubice auf der anderen Uferseite. Auch Görlitz nennt man
Doppelstadt: Görlitz diesseits und Zgorzelec östlich der Neiße.
Der Betrachter steht ratlos vor diesem neuen Begriff: Guben, Frankfurt, Görlitz sollen
Doppelstädte sein? Das klingt ganz hübsch, ist aber falsch und hat keine Grundlage,
geschichtlich schon gar nicht.
Frankfurt, Guben und Görlitz waren 800 Jahre lang deutsche Städte; sie sind nach dem
Krieg geteilt worden, als Polen bis an die Oder und die Neiße ausgedehnt wurde. Sie sind
auf sehr unterschiedliche Weise geteilt. Frankfurt liegt mit dem Stadtkern diesseits der
Oder, die Dammvorstadt östlich des Flusses wurde polnisch und erhielt den Namen Slubice.
In Guben ist es gerade umgekehrt. Nur die Vorstädte liegen diesseits der Neiße, der
historische Stadtkern, der größte Teil der Stadt also, auf der östlichen Seite des
Flusses. Er erhielt den Namen Gubin. In Görlitz ist es ähnlich wie in Frankfurt an der
Oder, der Hauptteil der Stadt ist auf der Seite der Bundesrepublik Deutschland, der
kleinere Teil, heute Zgorzelec, auf der anderen.
Die deutsche Bevölkerung wurde wie aus allen ostdeutschen Provinzen auch aus den
östlichen Stadtteilen der geteilten Städte vertrieben.
Die Polen hatten sich im Kalten Krieg unnachgiebig an der Seite der Sowjetunion
eingereiht. Mit dem geteilten Deutschland gab es deshalb unterschiedliche, mit dem
Bundesgenossen DDR offiziell freundschaftliche, trotzdem zugleich gespannte
Beziehungen. Die Deutschen in der Bundesrepublik, auch die aus den heutigen
Doppelstädten stammenden, waren Feinde. Offiziell gab es auch keine Deutschen
im neuen Polen. Erst nach Jahrzehnten änderte sich diese Haltung.
Schwerfällig langsam hat selbst das demokratische Polen, heute Mitglied der Europäischen
Union und der NATO, seine Haltung geändert. So soll der neue Begriff Doppelstädte von
den Erfindern wohl positiv gemeint sein, als Ausdruck grenzübergreifender Zusammenarbeit.
So weit, so gut. Nur darf die geschichtliche Wahrheit weder ausgeblendet noch auf den Kopf
gestellt werden. Aus einheitlichen Städten wurden geteilte, bevor sie nun als
Doppelstädte gelten. Das wird allerdings nicht die letzte
Entwicklung sein, denn die Teile wirken inzwischen eng zusammen.
Werner Bader (KK)
Völkerwanderung gegen den Willen der Völker
Wanderausstellung des Augsburger Bukowina-Instituts in Rumänien
Nach beiden Gebieten des historischen Buchenlandes, nach Jassy und Bacau wurde
die Wanderausstellung des Bukowina-Instituts über die Umsiedlung der Buchenlanddeutschen
1940 im gesamteuropäischen Kontext in wichtigen Orten Siebenbürgens gezeigt (Bistritz,
Sächsisch Regen, Hermannstadt), zuletzt im altehrwürdigen alten Kronstädter Rathaus am
Rathausplatz, heute Museum für Geschichte, dank der Mithilfe von ifa Stuttgart und dem
Direktor des Museums, Radu Stefanescu. Der letzte Transport mit deutschen Umsiedlern aus
der Bukowina, Bessarabien und der Dobrudscha (Verwandten-Nachumsiedlung) fuhr
1941 aus Kronstadt ab.
Aber nicht nur die vielen Querverbindungen der Buchenlanddeutschen nach Siebenbürgen und
umgekehrt (etwa zur Evangelischen Landeskirche) sowie zu den Banatdeutschen (die ersten
deutschen Siedler der Bukowina nach 1775 waren Banater aus den neuen Heidedörfern) waren
ein Grund, das Thema auch in Siebenbürgen und im Banat zu präsentieren.
Es ist der jungen Generation weniger bekannt, daß Hitler und Himmler alle deutschen
Gruppen auf dem Gebiet des damaligen Großrumänien ins Reich holen wollten.
Als man sie von dem Plan abgebracht hatte, folgte (als eine Variante), der Vorschlag, die
Buchenlanddeutschen in den Bistritzer Gau, die Bessarabien- und Dobrudschadeutschen ins
Burzenland und die Sathmarer Schwaben zu den Banatdeutschen umzusiedeln. Insgesamt waren
diese geplanten Bevölkerungsbewegungen nur ein kleiner Teil einer europäischen
Gesamtumsiedlung von etwa 177 Millionen Menschen!
Am 16. November wurde die Wanderausstellung im Banater Bergbaumuseum in Reschitza
eröffnet, der Hauptstadt des Banater Berglandes, in dem, ähnlich wie seinerzeit in der
Bukowina, deutschböhmische Siedlungen im 19. Jahrhundert gegründet worden waren.
Anfang 2005 folgt als letzte Station in Rumänien die Präsentation im Banater
Geschichtsmuseum in Temeswar. Ob die Schau den Szekler-Umsiedlern aus der Bukowina (1941)
im heutigen Südungarn präsentiert werden kann, hängt davon ab, ob Förderer gefunden
werden. Zwei Einladungen für das nächste Jahr kamen aus Österreich (Zell an der Pram
und Linz) und eine von den ebenfalls umgesiedelten Bukowina-Polen in Lauban/Luban in der
Lausitz.
Luzian Geier (KK)
Bücher und Medien
Protokollierte Lebensläufe mit östlichem Hintergrund
Helga Hirsch: Schweres Gepäck.
Flucht und Vertreibung als Lebensthema, edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004, 257
S., 14 Euro
Helga Hirsch ist in den letzten zehn Jahren mit Büchern und journalistischen
Arbeiten zu Themen der Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat und zur Verfolgung der
Deutschen in den Zwangsarbeitslagern nach Kriegsende an die Öffentlichkeit getreten, und
zwar in verdienstvoller Weise, denn stets ging es ihr darum, so objektiv wie möglich
über Unmenschlichkeit zu berichten, deren Opfer Deutsche als Folge einer in politisches
Handeln umgesetzten Kollektivschuldthese geworden sind.
Die jetzt in Buchform vorliegende Nachschrift von sechs Lebensläufen behandelt das Thema
der Vertreibung aus Sicht der zweiten Generation. Es sind die Kinder der Vertriebenen,
über die wiederholt geschrieben wird, sie hätten weder einen Bezug zur Heimat ihrer
Eltern und Großeltern, noch fielen sie in unserer Gesellschaft besonders auf. Darum und
dagegen die in die Tat umgesetzte Absicht der Autorin: Suchen wir diese Menschen auf,
lassen wir sie frei reden, um uns ein Urteil bilden zu können, was aus der zweiten
Generation geworden ist.
Im Einleitungskapitel Späte Erfahrung. Ein Thema kehrt zurück erzählt Helga
Hirsch von sich selbst, allerdings weit kürzer und nicht so tiefschürfend wie in den
folgenden sechs protokollierten Biographien. Die Autorin ist die Tochter eines aus Breslau
stammenden Vaters, der beharrlich über Herkunft und Heimat schwieg. Einen besonderen
Anteil am Lebenslauf der wenige Jahre vor Kriegsbeginn in einem niedersächsischen Dorf
geborenen Tochter nimmt ein, daß die Mutter in dem niedersächsischen Dorf beheimatet
war. Schon die Anmeldung der Tochter für den Besuch eines Gymnasiums erregte unter den
Einheimischen Verwunderung.
Hinzu kommt in diesem leider nur knapp skizzierten eigenen Lebenslauf, daß man in den
60er und 70er Jahren als junger Mensch weder von Vertreibung noch von Heimat etwas hören
oder wissen wollte. Was geschehen war, wurde als Strafe und Wiedergutmachung aufgefaßt,
darüber zu reden oder gar anklagend die Stimme zu erheben schien geradezu moralisch
verwerflich zu sein. Erst als die Autorin weit über 50 Jahre alt war, begann das
Interesse für Breslau und die Heimat des Vaters und die Familiengenerationen zuvor, wach
zu werden.
Bewundernswert ist das Suchen und Finden von Familien, die als die zweite
Vertriebenengeneration Auskunft erteilen, und dies im Gegensatz zur Autobiographie der
Autorin möglichst ausführlich. Es fällt dabei auf, daß die historischen deutschen
Ostgebiete, daß Ostdeutschland mit Schlesien die Ausnahme ist der
Einleitungsbeitrag in eigener Sache , Pommern, West- und Ostpreußen ausgespart
worden sind. Die ersten beiden Lebensläufe sind auf Lodz, wo eine große deutsche
Minderheit gelebt hat, ausgerichtet.
In dem Beitrag Mir geht es trotzdem gut. Die Tochter des Balten läßt uns
Helga Hirsch durch eingeblendete Briefauszüge wissen, wie ihr Arbeitsablauf war. Man
ließ ein Tonband laufen, schrieb es nach, um dann durch Fragen noch mehr und faktisch
Fundiertes für die Nacherzählung zu erfahren. Zur Nachbearbeitung schreibt Helga Hirsch:
Was ermöglicht Ihnen, so distanziert über die Erfahrungen von zwei Fluchten, von
den bombenbedrohten Kriegstagen, vom Inferno in Dresden zu sprechen? Wie haben Sie Ihre
Todesängste, Ihre Verzweiflung, Hilflosigkeit, Trauer, Bitterkeit versteckt, abgelegt,
überwunden? Woher nehmen Sie Ihr Gleichmaß?
In einem 30 Seiten umfassenden Schlußkapitel, sogar mit einem wissenschaftlichen
Anmerkungsapparat versehen, will die Autorin die Traumata der zweiten Generation
analysieren, aber die Lebensläufe von Menschen, die durch den Krieg aus der Bahn geworfen
worden sind, sind im Grunde nichts Außergewöhnliches. Das Besondere ist lediglich der
östliche Bezug. Leider muß der Leser der ausgebreiteten Lebensläufe, weil es
zeitgeschichtliche Dokumente sein sollen, manche gar zu kitschig ausgefallene Sentenz mit
aufnehmen.
Die Aktualität ihres Themas macht die Journalistin Helga Hirsch dadurch deutlich, daß
sie bis zu einer Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen vom 19. Juli 2004 dem
Tagesgeschehen folgt, was vom Thema her gar nicht geboten gewesen wäre. Aber es sollten
unbedingt Erika Steinbach und Ralph Giordano anerkennend erwähnt werden.
Herbert Hupka (KK)
Regionaler, historischer und spiritueller Patriotismus
Renata Schumann: Der Piastenturm. Roman.
Mit einem Nachwort der Autorin über Herzogin Viola von Oppeln und Ratibor und ihre Zeit.
Langen Müller, München 2004. 272 Seiten, 19,90 Euro
In Fachkreisen wird immer wieder die Frage nach dem Stellenwert des Regionalen in
der Literatur gestellt, wobei die Auslegung meist die Originalität eines Werkes in seiner
erkennbaren landschaftlichen Bezogenheit zu bestimmen bemüht ist. Die aus Oberschlesien
stammende und in Bad Doberan ansässige Schriftstellerin Renata Schumann kommt dieser
Erwartung unprogrammatisch entgegen, indem sie ihre Geschichten dort ansiedelt, wo sie
sich am meisten verbunden fühlt im schlesischen Raum und in dessen Geschichte. In
ihren Büchern ist die Sicherheit zu spüren, mit der sie diese Themen gestaltet, eine
angenehme Leichtigkeit in der Behandlung des Stoffes, auch dann, wenn die historischen
Vorlagen ungenau bleiben und bestenfalls Vermutungen zulassen. Diese Beherrschung des
Stoffes mag dazu beigetragen haben, daß der Münchner Verlag Langen Müller nach dem
Hedwig-Roman nun den zweiten Schlesien-Roman von Renata Schumann, Der
Piastenturm, in schöner Aufmachung herausgebracht hat.
Die Autorin erzählt das Leben der Fürstin Viola von Oppeln und Ratibor, die in der Mitte
des 13. Jahrhunderts das Land für ihre noch unmündigen Söhne regierte. Beschrieben wird
nicht nur das Leben einer ungewöhnlichen Frau.
Zwar porträtiert Renata Schumann nach ihrem Hedwig-Roman ein zweites Mal eine schlesische
Frauengestalt, und so mag der Gedanke nahe liegen, sie wolle literarisch das ausgleichen,
was den Frauen historisch an Anerkennung zu wenig gewährt worden ist ihre
tatsächliche innere Stärke, mit der sie nicht nur Kriege und Not, sondern auch den nicht
immer geruhsamen Alltag am Hof bewältigt haben. Es war, so zeichnet Renata Schumann die
Hauptfigur ihres Romans, vor allem die Fürstin, die in ihrem Umkreis das Maß setzte,
eher unauffällig, getrieben von der inneren Lauterkeit und nicht selten entgegen der
simplen, wenn auch ritterlichen Vordergründigkeit der Männer und einer
mittelalterlich-religiösen Unduldsamkeit.
Es ist von unverkennbarer Aktualität, wenn die Schriftstellerin in ihrem Buch
ausführlich auf heidnische Rituale hinweist und sich dagegen wehrt, gedankenlos alles
abzulehnen, was fremd ist. Es sind gerade die glaubensstarken Christen wie die Fürstin
oder die Äbtissin der Prämonstratenserinnen, die Verständnis dafür aufzubringen in der
Lage sind, wenn Menschen auf andere Weise ihren Gott suchen.
Im Kern jedoch geht es in Renata Schumanns neuem Roman um das Land Schlesien, um
Oberschlesien insbesondere und das, was es eint und spaltet, stark macht und anfällig. Um
den Gewinn und die Tragik einer erkannten und oft verkannten Gemeinsamkeit von Deutschen
und Slawen. Der Hinweis auf die religiöse Toleranz ist ein Parallelbeispiel dafür, was
ebenso im Nationalen Geltung haben sollte. Ins Land gerufene deutsche Siedler und
Einheimische lernen voneinander, ergänzen sich gegenseitig und sind zunehmend aufeinander
angewiesen.
Die Schriftstellerin entwirft ein anschauliches Bild von der Entstehung der Stadt Oppeln
unter dem Piastenfürsten Kasimir, der den wirtschaftlichen Anschluß an Zentraleuropa
anstrebte. In einem ganzen Kapitel bringt das Buch die Geschichte der Piasten dem Leser
näher, stellenweise vielleicht ein wenig gelehrsam, allerdings für das erweiterte
Verständnis der Handlung und ihres aktuellen Bezuges durchaus angebracht.
Wer mit dem bisher veröffentlichten Werk von Renata Schumann einigermaßen vertraut ist,
wird wissen, wie ausgeprägt und beharrlich ihr Bemühen um die Verständigung zwischen
Deutschen und Polen an der oberen Oder ist. Die Grundlage dafür sieht sie in der
historischen Wahrheit über das Land und sein Schicksal. Symbolhaft stellt sie den
Wiederaufbau Schlesiens nach dem verheerenden Mongolensturm ans Ende des Romans. Das
Leben geht weiter im Land an der Oder, überschreibt sie schlicht das letzte
Kapitel, und es fällt nicht schwer, neben dem, was historisch belegt ist, auch das zu
erkennen, was allgemein aus Niederlagen zu lernen wäre: Wir sind Teile eines
Ganzen, läßt sie die Äbtissin sagen und hinzufügen: Das Leben des Menschen
ist ein Augenaufschlag zu Gott.
Im Ewigkeitsgedanken wird das zugänglich, was auf Erden zu tun nötig ist. Auf Erden
aber, das ist für die Autorin das Land an der Oder, das geprüft ist und wie jedes andere
seine Chance hat. Renata Schumann geht es um diese Chance. Ihr Patriotismus ist regional,
nicht national, und er hindert sie nicht, auch weniger angenehme Veränderungen
anzunehmen. Dem Roman stellt sie ein Wort von Werner Tübke voran: Alles bleibt, wie
es niemals war.
Das Buch ist flüssig geschrieben und bleibt es auch dort, wo schwierige innere Vorgänge
gestaltet werden. Mit sicherem Sprachgefühl auch für prekäre Situationen weicht die
Autorin nicht in Andeutungen aus, wo die Dinge zu benennen sind. Das gilt gleichermaßen
für die Politik wie für das Private, und es steht ebenso für die Kunst des Schreibens
wie für den Anstand der Schreibenden.
Renata Schumann widmet das Buch ihren Kindern.
Franz Heinz (KK)
Es war. Es ist.
Schlesiens wilder Westen, ein Heimatfilm der etwas anderen Art, im
Fernsehen
Der Film von Ute Badura ist seit 2002 bei landsmannschaftlichen Treffen im
Umlauf, am 19. Dezember 2004 strahlte ihn 3SAT zur besten Sendezeit aus. Angekündigt war
er als Dokumentarfilm, aber auch als Heimatfilm gekennzeichnet. Alles Geschehen spielt
sich in dem Dorf Seifershau im Kreis Hirschberg am Fuß der Kleinen Schneegrube ab, einst
911 Einwohner zählend, wie aus dem Buch Schlesischer Wegweiser zu erfahren
ist.
Der Film ist gut, man muß schon sagen, geschickt komponiert. Ein Reisebus mit sogenannten
Heimwehtouristen wird in Seifershau ausgeladen. Sie erzählen, wie es war. Es
wird, modisch gesprochen, Vergangenheit bewältigt.
Der Film hat einige zwar nicht aufdringliche, aber bewußt durchgehaltene Leitmotive. Das
sind immer wieder vorbeihuschenden Radfahrer oder sich jagende Schüler, dazu gleich zu
Beginn mehrere Male ein polnischer Bus mit der Aufschrift Jelenia Gora für Hirschberg.
Deutliche Ausrufungszeichen, damit der Zuschauer nicht vergißt, wo er sich befindet unter
dem Rubrum Es ist.
Die deutschen Vertriebenen beschreiben anschaulich und anrührend den Zustand von daheim
einst und erzählen von der Vertreibung und vom heutigen Zuhause. Die Polen, von denen
viele aus Ostpolen, das heißt, aus der Ukraine kommen, berichten über ukrainischen
Nationalismus, dessen Opfer sie gewesen sind, von den Umständen des Fußfassens im
Riesengebirge, aber auch von Plünderungen durch polnische Landsleute, die schon zuvor aus
den verlassenen Wohnungen den Grund, die Vertreibung, zu nennen wurde konsequent
vermieden alles an sich gerissen hätten. So erklärt sich wohl auch der Titel des
Films.
Die leider immer wieder nur bruchstückhaft vorgeführten Aussagen waren allesamt
zeitgeschichtliche Zeugnisse. Nur wirkte das Arrangement absichtsvoll gestellt. Dazu
kommt, daß die polnischen Erzählungen in geschlossenen Räumen und mit unterlegter
deutscher Übersetzung überzeugender wirkten als die vielfach im Freien gesprochenen
deutschen Aussagen.
Zum Schluß des Films, wo das Zusammenfinden der deutschen Vertriebenen und der neuen
polnischen Bewohner, gleichfalls Vertriebene, gezeigt werden sollte, zogen sie gemeinsam
in einer Fronleichnamsprozession durch den Ort. Der Film machte aus der Absicht
keinen Hehl: Laßt die Alten beider Nationalitäten ruhig verklärend oder in
nationalistischem Tonfall, wie dies die aus Ostpolen Kommenden taten, daherreden, die
dritte Generation hat mit dem allem nichts mehr im Sinn. Das Es ist hat das
Es war längst vergessen lassen.
H. H. (KK)
Spurensuche in die Zukunft
Eine neue Broschüre mit diesem Titel stellt die vom Land
Baden-Württemberg getragenen beziehungsweise wesentlich unterstützten Kultur- und
Forschungseinrichtungen vor, die sich für die Pflege und den Erhalt des Wissens um Kultur
und Geschichte der Deutschen im Osten einsetzen. In der neuen Publikation werden das Haus
der Heimat des Landes in Stuttgart, das Institut für donauschwäbische Geschichte und
Landeskunde in Tübingen, das Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde in
Freiburg, die Stiftung Donauschwäbisches Zentralmuseum in Ulm und die Donauschwäbische
Kulturstiftung des Landes in Stuttgart vorgestellt. Die Broschüre kann unter www.im.baden-wuerttemberg.de, Bereich
Publikationen, oder beim Innenministerium Baden-Württemberg, Dorotheenstraße 6, 70173
Stuttgart, Telefon 0711/231-3032 angefordert werden.
(KK)
Literatur und Kunst
Bilder malen ohne Vorbilder
Das Bild der Welt und Deutschlands in der Kölner Naive-Kunst-Galerie der
Marianne Kühn
Vor 25 Jahren gründete Marianne Kühn, die Ehefrau des damaligen
NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn, in ihrem Haus am Roteichenweg in Kölns Gartenvorort
Dellbrück die Naive-Kunst-Galerie. In den 65 Ausstellungen widmete sie sich der Malerei
und der Bildhauerei von Naiven aus der ganzen Welt, u. a. aus Osteuropa, Israel,
Äthiopien, Argentinien, China und Tansania.
Im Mittelpunkt der Schar von rund 250 Ausstellern standen allerdings jene aus Ost- und
Westdeutschland und den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Aus Ost- und Westpreußen
stammen Minna Ennulat, Gertrud George, Irene Jahn, Edda Kirchgaesser, Marek Radke, Jusschi
Otte, Erich Grams, Manfred Söhl, Edeltraut Pankraz, aus Pommern Renate Hille, aus
Mecklenburg Christiane Seymour, aus Schlesien Rita Martin, Eva Blum, Ursula Rumin, Marta
Vogt, Sigrid Lokowandt, Eva-Maria Sonneck und Annemarie Pietschner. In Berlin wurden Horst
Siebert und Jutta Römer geboren, in Thüringen Gerda Marquardt, in Sachsen Ulrich
Pietzsch, Eva Hoyer, Hein Köhler, Ines Schulze, Gisela Braunsdorf, Olaf Ulbricht. Ferner
sind zu nennen Antje Eckardt aus Kronstadt in Siebenbürgen, Marianne Kirchner aus Pilsen
und Ilona Klawitter aus Melnik. 1983 setzte Marianne Kühn die Ausstellung von
Blumenbildern der 1912 in Pulnitz geborenen und in Pirna bei Dresden lebenden Johanna
Ksier unter die Überschrift Naive Kunst aus der DDR.
Anläßlich des 25jährigen Jubiläums im Jahr des 90. Geburtstages der Galeristin,
ehemals Mitglied im Kulturrat der Stadt Köln, findet eine repräsentative
Dreierausstellung statt, die bis März 2005 dauert. Eduard Odenthal (geboren 1929 in
Köln) vertritt seine westdeutschen Kollegen. Er ist durch seine Kölner Stadtansichten
bekanntgeworden, von ihm stammen auch die Bilder Schneekoppe im Riesengebirge,
In der Ukraine und Trachtenpaar in Polen. Die Bildhauerin Renate
Hille (geboren 1940 im pommerschen Bogenhagen) weist nach Ostdeutschland. Ihre bemalten
Holzfiguren komponiert sie aus Fundstücken und Möbelfragmenten zu Menschen und Tieren
voller Witz und Humor, Geist und Charme. Vibian Ellis (geboren 1933 in Orleans,
Louisiana), seit 1961 in München als Krankenschwester tätig, schlägt mit ihren Bildern
eine Brücke zwischen den beiden Kontinenten. Sie malt vorzugsweise biblische, aber auch
Szenen aus dem Alltagsleben ihrer Landsleute.
Die Laienkünstler gehen ihren Berufen nach, es sind erziehende Mütter und Hausfrauen,
Landwirte, Handwerker, Beamte und Ärzte, sie malen und bildhauern aus Liebe zur Kunst,
haben allerdings nie Kunstunterricht gehabt, und ihre Arbeiten entstehen ohne Kenntnisse
von Anatomie und Perspektive. Die Themen sind Familienleben, Darstellungen des Alltags und
des Berufs, biblische Szenen, Mensch, Tier und Pflanze, Stadt und Land sind die Motive.
Die künstlerischen Stile gleichen sich. Weder gucken die Naiven ihren akademischen
Kollegen Pop Art oder abstraktes Komponieren ab, noch hatten politische Tendenzen der SED
in der DDR Einfluß auf das naive Bild der Welt.
Während die Naive-Kunst-Galerie in Köln über die Grenzen hinaus bekannt wurde, haben
alle anderen privaten Galerien dieser Art in der Domstadt am Rhein ihre Pforten
geschlossen. Ein Museum naiver Kunst gibt es hier nicht. Vor Jahren hat die Gründerin
Marianne Kühn der Stadtverwaltung eine großzügige Stiftung angeboten. Es gab unzählige
Gespräche und eine umfangreiche Korrespondenz. Der Tenor läßt sich in einem Satz
zusammenfassen: Mir scheint die Idee einer Sammlung naiver Kunst im Kontext eines
Museums Ludwig durchaus sympathisch und nachdenkenswert. (Aus einem Schreiben des
Kulturdezernates 1981.) Letztenendes wurde jedoch die Schenkung abgelehnt, obwohl nach dem
Auszug des Wallraf-Richartz-Museums aus dem Doppelgebäude Räume frei wurden.
Heute besitzt Köln einen einzigen Ort, wo man sich mit der naiven Kunst auseinandersetzen
und sich an ihr erfreuen kann: Bei Marianne Kühn das sollte man nicht übersehen
wird auch der Bogen zwischen Ost- und Westdeutschland gespannt.
In Recklinghausen beherbergt das Vestische Museum seit rund 50 Jahren Exponate naiver
Künstler. Diesem Museum stiftete nun Marianne Kühn 360 Gemälde, Skulpturen und
Plastiken aus ihrer kostbaren Sammlung. Diese Stadt, die auch ein Ikonen-Museum besitzt,
das die Blicke nach dem christlich-orthodoxen Osten öffnet, hat im Rahmen der
Ausstellungen der Ruhrfestspiele, die vorrangig an die Adresse der Kumpel aus dem
Ruhrgebiet gerichtet waren, wiederholt auch Laienkunst dargeboten. In der Kunst- und
Museumsstadt Köln geschieht das weiterhin einzig und allein in Marianne Kühns
Naive-Kunst-Gallerie.
Günther Ott (KK)
Ein Leben wie das Jahrhundert
Tagung zu Biographie und Werk Edzard Schapers in Nürnberg
Unter dem Titel Studientag werden im Nürnberger Caritas-Pirckheimer-Haus,
benannt nach einer Äbtissin (1467-1532), die nach der Reformation im protestantisch
gewordenen Nürnberg katholisch geblieben war, christliche Autoren vorgestellt, die vor
einem halben Jahrhundert fleißig gelesen wurden, heute aber vergessen sind.
Nach dem aus Süddeutschland stammenden Reinhold Schneider (1903-1958), dem in Prag
geborenen Franz Werfel (1890-1945) und dem aus dem lettischen Riga 1909 nach Marburg an
der Lahn übergesiedelten Werner Bergengruen (1892-1964) hatte sich Professor Dr. Rudolf
Grulich, Direktor des Instituts für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien,
Königstein im Taunus, Edzard Schapers (1908-1984) angenommen, der als elftes Kind eines
preußischen Offiziers in Ostrowo in der Provinz Posen geboren wurde, in Dänemark,
Estland, Finnland und Schweden lebte und in der Schweiz starb. In Deutschland hat er
Schulen in Glogau, Schlesien, und Hannover besucht, im Alter von 17 Jahren zu schreiben
begonnen und 1927 seinen ersten Roman Der letzte Gast veröffentlicht.
In diesem Jahr begann auch sein unstetes Leben als Reisender. 1927/28 lebte er auf der
dänischen Insel Christiansö, die nur 122 Einwohner hatte, 1929 fuhr er zur See, 1930/40
lebte er in Estland, wo er eine Estin heiratete, bevor er vor den einrückenden
Sowjettruppen nach Finnland floh und als finnischer Soldat gegen die Rote Armee kämpfte.
Von deutschen und sowjetrussischen Gerichten in Abwesenheit zum Tode verurteilt, gelang
ihm 1944 die Flucht nach Schweden, von wo er 1947 in die Schweiz ging und 1951 zum
Katholizismus übertrat.
Rudolf Grulich versuchte zunächst, Leben und Werk des Autors, der nach Kindlers
Deutschem Literaturlexikon seit Jahrzehnten weltweit vergessen ist,
darzustellen, ehe er näher auf die Prosa und die Essays einging, die häufig auf der
Ausarbeitung von Reden basierten, die beispielsweise auch vor dem Bund der Vertriebenen
gehalten wurden. Im vierten Teil gab der Referent Leseproben aus dem umfangreichen Werk
des streng konservativen, aber nicht geschichtsblinden Schriftstellers, der einst
hochgeschätzter Autor des Insel-Verlags war, dessen Bücher heute aber nur noch
antiquarisch oder in Bibliotheken zu finden sind.
So nannte der Referent den vielgelesenen Roman Die sterbende Kirche (1936),
der im Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller (Leipzig 1968) als
Verfälschung der sowjetischen Wirklichkeit und der Politik der UdSSR in
Religionsfragen bezeichnet wird, während es in Kindlers Deutschem
Literaturlexikon (München 1988) ebenso falsch wie dumm heißt: Indem Schaper
... aber die existenzbedrohende Kritik am eigenen totalitären Staat durch die
unverfänglichere am fremden (der Sowjetunion) ersetzt und die guten Christen mit den
bösen ,Bolschewisten konfrontiert, identifiziert er sich fatalerweise, wenn auch
unbewußt, mit dem propagandistisch geschürten antikommunistischen Affekt seiner
faschistischen Zensoren.
Wenn man dem Schicksal der Deutschbalten im vergangenen Jahrhundert nachgeht und nach
literarischer Verarbeitung forscht, wird man unweigerlich auf Siegfried von Vegesacks
Romantrilogie Baltische Tragödie aus den dreißiger Jahren stoßen, die seit
2004 wieder als einbändige Buchausgabe vorliegt (Sammler-Verlag, Graz ) und auf
Edzard Schapers Roman Der Henker (1940) über die Auswirkungen der russischen
Revolution von 1905 auf die baltischen Provinzen.
Jörg Bernhard Bilke (KK)
Jiddischkajt in Wort und Lied
Die Jüdischen Kulturtage in München
Sechs Monate bevor sich das Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal
jährt, zeigten herausragende Künstler, die im November aus Israel, den USA, der Ukraine,
aus England, Rußland, Ungarn, Tschechien, Polen, Rumänien, Moldawien, Makedonien und
Deutschland nach München gereist waren, daß die überlieferten Äußerungen und Werte
des östlichen Judentums nach den Jahren des Holocaust aufleben und präsent sind in der
allgemeinen Kulturszene.
So wollten die internationalen 18. Jüdischen Kulturtage in München und ihre Veranstalter
die Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e.V. mit ihrer
Vorsitzenden Ilse Ruth Snopkowski sichtbar und hörbar machen, daß das Jiddische,
ein altes, aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangenes, klangvolles und wortreiches
Idiom, in allen Bereichen der Literatur und Musik überlebt hat. Die jahrtausendalte
Jiddischkajt ist vom Nationalsozialismus nicht ausgelöscht worden.
Es waren allerdings mehrheitlich nichtjüdische Künstler, die nun als Vermittler dieses
Kulturerbes auf der Bühne standen und vorführten, daß Klesmerklänge auch in einer
modernen Variante das Publikum erreichen. So z. B. die Londoner New Wave
Klezmer, die ihren Groove Sound des 21. Jahrhunderts als eine Mischung
aus traditioneller Musik sephardischer Juden, transsilvanischer Zigeuner und
aschkenasischer Schtetlbewohner, eingebettet in Dub und Breakbeats des urbanen
London, bezeichnen. Da war tatsächlich beinahe alles drin, auf einige
Zutaten hätte man bei der Mischung sogar verzichten sollen.
Es gab dann auch Abende, an denen virtuose Klesmorim traditionsbewußt die klangliche Tür
zur stimmungsvollen Welt des Ostjudentums öffneten, wo diese Musik einst die Menschen bei
allen fröhlichen Festen, den Simches, begleitete. So spielten sich die
Budapester Klezmer Band (Leitung Ferenc Jávori) im Eröffnungskonzert in die Herzen der
Zuhörer, und die Gruppe Yiddish Balkan Express, die Musiker aus Rumänien, Moldawien,
Makedonien und Deutschland vereint, zeigte, daß die Heimat der sehnsuchtsvollen
Nigunim am Fuß der Karpaten liegt.
Von den musikalischen Veranstaltungen sollten hier noch die Aufführung der 11
jiddischen Lieder (Opus 79) von Dimitri Schostakowitsch erwähnt werden. Sie wurden
1948 komponiert und durften erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, aufgeführt werden. In
München waren es Valeria Chichkowa und Michoel Felsenbaum (Gesang und Rezitation), Detlef
Hutschenreuter (Saxophon) und Alla Sabejinskaja (Klavier), die den Zyklus meisterhaft zur
Aufführung brachten. Als visuelle Begleitung gab es Videoprojektionen von Bildern des
bekannten russisch-jüdischen Künstlers Anatoli Kaplan.
Itzig Manger, dem Prinzen der jiddischen Balladen, der in Czernowitz geboren
wurde, ein Wanderleben zwischen Bukarest, Warschau, Czernowitz, London und New York
führte und 1969 hochgeachtet in Gedera bei Jerusalem starb, war ein besonderer Abend
gewidmet. Im Jahr 1940 schrieb er Dus Lid fun der goldenen Pawe (Das Lied vom
goldenen Pfau), mit dem der polnische Sänger und Schauspieler André Ochodlo, begleitet
von einem fünfköpfigen Musikensemble aus Zoppot, seine unvergeßliche lyrisch-klangliche
Vorstellung einleitete.
Wie in vergangenen Jahren gestaltete sich auch diesmal der temperamentvolle Auftritt der
beliebten und bekannten Sängerin und Kabarettistin Sarale Feldman aus der Bukowina
stammend, in Tel Aviv heimisch geworden zu einer Begegnung der besonderen Art. Sie
brachte, begleitet von der aus Rußland eingewanderten Pianistin Marina Jakobowitsch,
subtilen jiddischen Humor in Liedern und Sketchen.
Lesungen, ein chassidischer Abend, Filmvorführungen, Ausstellungen und Begegnungen mit
Künstlern ergänzten das reichhaltige Programm der Jüdischen Kulturtage, die europaweit
zu den wichtigsten Veranstaltungen dieser Art gehören. So darf man hoffen, daß diese
Weltsprache, die man heute immer noch von New York bis Johannesburg, von Czernowitz
bis Biro Bidschan spricht, wie der bukowinische Schriftsteller Josef Burg sagte,
erhalten bleibt und weiterlebt.
Claus Stephani (KK)
Durchbruch der Frauenliteratur
Deutsch-serbisches Literaturforum am Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus
Zum ersten Mal waren serbische Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer und Verleger
zum traditionellen Düsseldorfer Literaturforum Ost-West eingeladen. Die diesjährige
Begegnung stand unter dem Zeichen der Annäherung Serbiens an die europäische
Staatengemeinschaft. Die nunmehr 16. Ausgabe der Veranstaltungsreihe wurde vom
Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus in Zusammenarbeit mit der
Heinrich-Heine-Universität, dem Literaturbüro NRW, dem Heinrich-Heine-Institut und dem
Kulturamt der Stadt Düsseldorf sowie dem Goethe-Institut Belgrad abgehalten. Die
Schirmherrschaft hatte Ministerpräsident Peer Steinbrück übernommen.
Die Forumsteilnehmer gehören zwar verschiedenen Generationen an, doch ihre Biographien
und Texte sind von den politischen Konflikten und kriegerischen Ereignissen im Jugoslawien
der neunziger Jahre geprägt. Das Programm des Literaturforums umfaßte
Tandem-Lesungen von serbischen und deutschen Literaten, wie Bora Cosic und
Oskar Pastior, Stevan Tontic und Sabine Schiffner, Mirjana Stefanovic und Tanja Dückers.
Der bekannte Berliner Slawist Prof. Dr. Manfred Jähnichen präsentierte als Herausgeber
die soeben erschienene Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts, Das
Lied öffnet die Berge. Beiträge von Prof. Dr. Joseph A. Kruse, Düsseldorf,
Heine und Europa, und von Prof. Dr. Slobodan Grubacic, Belgrad, Zur
Heine-Rezeption in Serbien sowie der Vortrag von Prof. Dr. Djordje S. Kostic,
Belgrad, Vergessene Spuren. Auf der Suche nach Donauschwaben in Reiseführern,
boten reichlich Stoff für angeregte Diskussionen.
Auch beim diesjährigen Literaturaustausch erwies sich das von Prof. Dr. Gertrude
Cepl-Kaufmann, Dr. Walter Engel und Michael Serrer geleitete Werkstattgespräch als
besonders informativ und aufschlußreich. Schwerpunkte der deutsch-serbischen Begegnung
waren Aspekte der gegenwärtigen Literatur in Serbien und Deutschland sowie der
literarischen Übersetzungen und der gegenseitigen Rezeption. Auch in Sachen
Verlagslandschaft hatten die serbischen Gäste Neues und Interessantes zu berichten. So
etwa erläuterte der international geschätzte Romanautor, Dichter, Dramatiker und
Literaturprofessor aus Belgrad, Milorad Pavic, die Rolle der Zeitungsverlage: Sie
drucken nur das, was sich gut verkauft, und bieten die in hohen Auflagen im Ausland
erstellten Bücher zu günstigen Preisen an. Es ist zu befürchten, daß sie die kleinen
serbischen Verlage ruinieren.
Es war übrigens vielen Teilnehmern unbekannt und verwunderlich, daß literarische Bücher
in Serbien an Zeitungskiosken und nur zusammen mit einer Zeitung zu kaufen sind. Der
mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagene Pavic hatte anhand der jüngsten
Buchmesse in Belgrad die aktuelle Situation der serbischen Literatur beschrieben. Er
berichtete von dem Durchbruch einer neuen Frauenliteratur: Es gibt hervorragende,
hochqualifizierte Autorinnen, die sich in ihren Romanen und Theaterstücken für ein
anderes und besseres Serbien einsetzen. Die ernüchternde Literatur der Frauen wirkt wie
ein Damm gegen den Primitivismus, der versucht, unser Land zu überschwemmen.
Die besorgniserregend schnell sich entwickelnde kommerzielle Trivialliteratur wurde auch
von Bora Cosic, einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Serbiens, kritisiert. Er
war jedoch realistisch genug, resigniert hinzuzufügen: Es muß diese Literatur aber
auch geben. Vor 50 Jahren habe ich sogar einen Essay ,Zu Ehren des Kitsches
geschrieben.
Die als Kinderbuchautorin und Lyrikerin geschätzte Mirjana Stefanovic aus Belgrad
bedauerte, daß die wenigen großen staatlichen Verlage von früher die einst
anspruchsvolle Literatur veröffentlicht haben inzwischen verschwunden seien.
Dafür seien hunderte kleine Verlage aufgetaucht, die allerdings überwiegend
zweitrangige, kommerzielle Bücher drucken. Es gebe auch immer mehr
strickende Omas, die Romane schreiben und dabei so gut verdienen, daß sie
selbst einen Verlag gründen könnten.
Von seiten der deutschen Gesprächsteilnehmer brachten Dr. Wolfgang Kessler, Direktor der
Martin-Opitz-Bibliothek, Herne, der Schriftsteller Wolfgang Bittner sowie der Journalist
und Übersetzer Georg Aescht eigene Erfahrungen und Standpunkte ein.
Prof. Dr. Manfred Jähnichen aus Berlin fand den Zeitpunkt des deutsch-serbischen
Literaturforums optimal: In einer Zeit, in der sich Serbien zu Europa hinwendet,
können sich auch für die Literatur neue Perspektiven eröffnen. Angesehene serbische
Dichter und Schriftsteller waren immer in Deutschland präsent, doch ich hoffe auf einen
bevorstehenden Aufschwung.
Eine Ausstellung mit Büchern einzelner deutscher und serbischer Autoren, aber auch
Sammelbänden, Anthologien und literaturgeschichtlichen Titeln aus den Beständen der
Bibliothek des Gerhart-Hauptmann-Hauses ergänzte das diesjährige Literaturforum
Ost-West.
Dieter Göllner (KK)
KK-Notizbuch
Zum 60. Jahrestag der Deportation der Deutschen aus Südosteuropa
in die Sowjetunion veranstaltet das Donauschwäbische Zentralmuseum Ulm am 14.
Januar um 19 Uhr eine Podiumsdiskussion und eröffnet eine Ausstellung von Bildern aus dem
GULag. Am Tag darauf findet in der Donauhalle Ulm eine Gedenkfeier statt.
Das Münchner Haus des Deutschen Ostens veranstaltet aus Anlaß der 60 Jahre seit Flucht und Vertreibung eine umfangreiche Vortragsreihe zu dem Thema Warum wir hier sind? Bayerns Bevölkerung stammt auch aus dem Osten. Das Programm ist zu erfahren unter Telefon 089/449993-0.
Zum Gedenken an diese 60 Jahre startet im HDO auch eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel Erlebte Geschichte, in der Menschen aus den unterschiedlichsten Gegenden zu Wort kommen, die ihre Erinnerungen schriftlich verarbeitet haben: Helga Hirsch, Maria Frisé, Erika Feigl, Erika Morgenstern, Marta Brandner, Wolfgang Bittner, Reinhilde Menz. Informationen unter derselben Telefonnummer.
In einer Autorenlesung, die das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e.V. am 12. Januar um 18 Uhr im Historicum der LMU, Amalienstraße 52/Schellingstraße 12, München, ausrichtet, stellt der österreichische Autor Martin Pollack sein neustes Buch, Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater, vor. Pollack ist mit Büchern über Galizien und die Bukowina hervorgetreten.
Die diesjährige Tagung des Arbeitskreises Schlesische Musik findet vom 1. bis zum 6.
August statt. Informationen unter Telefon 030/8523411.
(KK)