KK1185 2004-05-10
Ausschreibung zum OKR-Erzählerwettbewerb
Herbert Hupka: Schwierigkeiten mit dem Diskurs über Vertreibung
und Erinnern
Dietmar Stutzer: Ein Machwerk Porträts der
Beitrittsländer aus Brüssel siehe auch KK1189 und KK1194!
Peter Mast: Ortfried Kotzian über die deutsche Prägung der
Bukowina
Hans-Ludwig Abmeier: 100 Jahre seit der Geburt von Gerhard
Webersinn
Große Deutsche aus dem Osten in Schlüchtern
Dieter Göllner: Oberschlesische Kulturtage in Düsseldorf
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Jörg Bernhard Bilke: Von der Leipziger Buchmesse
Günther Ott: Wuppertaler Engagement für Kunst aus dem Osten
Ausstellung über Johnny Weißmüller in Ulm
Der Komponist Siegfried Matthus wird 70
KK-Notizbuch 23
KK1185 S. 03
Erst dann ...
Selbst der logische Diskurs über Vertreibung und Erinnern krankt am Mißtrauen
gegen die Reife der deutschen Demokratie
Jüngst war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Vortrag von Professor
Norman M. Naimark abgedruckt. Der Redner lehrt Geschichte Osteuropas an der Stanford
University in Kalifornien. Er sprach vor der Historischen Kommission beim Parteivorstand
der SPD. Thema war die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat und das jetzt
diskutierte Zentrum gegen Vertreibungen.
Die Vertreibung wurde objektiv und historisch fundiert dargestellt. Einwand zu erheben ist
allerdings gegen die Behauptung, die Vertreibung sei bei allem Verbrechenscharakter nicht
als Völkermord zu bezeichnen. Selbstverständlich war die Vertreibung ganzer Volksstämme
und Volksgruppen Völkermord.
Klar und überzeugend sind indes die Sätze: Mir scheint, daß die Vertreibung eines
der zentralen Themen der modernen deutschen Geschichte ist. Ich sympathisiere mit den
Opfern und sie waren Opfer: diejenigen, die aus ihren Häusern verjagt wurden,
diejenigen, die mutwillige Brutalität und die furchtbaren Bedingungen von Internierung
und Vertreibung ertragen mußten, diejenigen, die starben.
Auch das Trommelfeuer, das jenseits der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland gegen das
Zentrum gegen Vertreibungen zu vernehmen ist, wird von Norman M. Naimark zutreffend
dargestellt: Keine Opfergruppe egal ob Griechen, Juden, Armenier, Bosnier,
Deutsche und Krim-Tartaren sieht sich gern als Opfer und Täter zugleich. Deshalb
sind Polen und Tschechen aufgebracht über den Vorwurf, sie hätten im Krieg Gewalttaten
an anderen verübt, weil sie doch schließlich selbst ganz eindeutig Opfer waren. (...)
Der Umgang mit einer komplizierten historischen Vergangenheit wird noch dadurch erschwert,
daß in Polen und in der Tschechoslowakei fast fünfzig Jahre die Kommunisten herrschten
und die historische Erinnerung in beiden Ländern manipuliert wurde.
Aber dann schwenkt auch der amerikanische Wissenschaftler in die lange Reihe derer ein,
die vor der Aufarbeitung dieser zeitgeschichtlichen Vergangenheit warnen, ja sogar
zurückschrecken. Die Frage, mit diesen Sätzen schließt Norman M. Naimark
seine logisch vorgetragene Darstellung unlogisch, ob man ein Zentrum bauen soll,
erfordert also (?) weiterhin intensives Nachdenken, Geduld und ausgiebige öffentliche
Diskussionen sowohl unter Deutschen verschiedener politischer Richtungen als auch
mit Deutschlands polnischen und tschechischen Nachbarn. Erst dann (!) wird man entscheiden
können, welche Art von Zentrum man bauen kann wenn überhaupt und wo es
entstehen soll.
Die beiden Staatspräsidenten von Deutschland und Polen haben das Zentrum gegen
Vertreibungen für so wichtig genommen, daß sie sich am 29. Januar 2004 zu einer
gemeinsamen Entschließung zusammenfanden, wozu gleich anzumerken war, daß der
tschechische Staatspräsident Kritik an dieser Zweisamkeit geübt hat, denn er blieb
ausgeschlossen. (Allerdings wäre noch zu prüfen, ob er sich bei der Vorbereitung dieser
Entschließung selbst ausgeschlossen hat.) Das offizielle Papier der beiden
Staatspräsidenten wiederholt einen Teil der Gegenargumente, die seit vielen Monaten
gerade auch von bekannten Polen wie den früheren Außenministern Wladyslaw Bartoszewski
und Bronislaw Geremek und dem Philosophen Leszek Kolakowski vorgetragen wurden. Es sollten
Erinnerung und Trauer nicht mißbraucht werden, um Europa erneut zu spalten ... Die
Europäer sollten alle Fälle von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung, die sich im 20.
Jahrhundert in Europa ereignet haben, gemeinsam neu bewerten und dokumentieren ... Wir
rufen dazu auf, einen solchen aufrichtigen europäischen Dialog über die so wichtigen
Fragen zu führen, und erwarten, daß hochangesehene Persönlichkeiten, Politiker und
Vertreter der Zivilgesellschaft ihren Beitrag leisten werden. Sie sollten auch
Empfehlungen formulieren, in welchen Formen und Strukturen dieser Prozeß einer
europäischen Bestandsaufnahme und Dokumentation durchgeführt werden kann.
Auf deutscher Seite wird zunächst daran Anstoß genommen, daß der Bund der Vertriebenen
zusammen mit den Landsmannschaften dieses Zentrum gegen Vertreibungen vorgeschlagen und
sich vorgenommen habe. Das können sie gar nicht und dürfen es auch nicht, klarer
formuliert: Wieso kommt ihr Opfer der Vertreibung überhaupt dazu, in eigener Sache
Zeugnis geben zu wollen. Das können gelehrte Frauen und Männer übrigens viel besser und
darum auch richtig, ein gleichfalls gern vorgetragenes Argument. Außerdem darf, wer die
Vertreiber anklagt und die Vertreibung verurteilt, nicht den Erstschuldigen namens Adolf
Hitler außer acht lassen (eine bis heute von dem Publizisten Ralph Giordano eloquent
verbreitete Entschuldigung für die Vertreiber), was zugleich bedeuten soll, daß besagter
Adolf Hitler als erster Verbrecher den Maßstab für das folgende Verbrechen
(einschließlich Josef Stalins) gesetzt hat.
Auf der polnischen Seite hat man die deutsch-polnische Geschichte bis zur ersten Teilung
Polens 1772 beschworen, antipreußische Gefühle entfacht und gegen Berlin als Standort
des Zentrums gegen Vertreibungen protestiert.
Am leichtesten tut man sich mit dem Wörtchen europäisch und rammt den
Wegweiser Europa ein, um das Projekt abzuwürgen, besser gesagt um mit dem in
die Zukunft gerichteten, aber nichts besagenden Begriff Europa jede Nationalgeschichte zu
töten. Aber jedes Volk hat das Recht, sich seiner eigenen Vergangenheit zu vergewissern
und diese verantwortungsbewußt aufzuarbeiten.
Das gilt selbstverständlich für Deutsche genauso wie für unsere Nachbarn, die Polen und
Tschechen. Uns Deutschen hält man in diesem Zusammenhang vor, wir wollten die
Entfesselung des Zweiten Weltkrieges verdrängen, weil wir an das erinnern, was uns
Deutschen 1945 und danach widerfahren ist. Derartige leidenschaftlich vorgetragene
Verwarnungen sind fehl am Platze. Weder die diktatorische Errichtung eines Protektorats
Böhmen und Mähren und eines Generalgouvernements Polen wird dadurch übersehen oder
exkulpiert, daß die Deutschen an das Verbrechen der Vertreibung erinnern.
Die eingangs zitierte Empfehlung, man könne, ja dürfe Erst dann ...
entscheiden, wenn die Deutschen aller Parteirichtungen unter sich einig sind, wenn dann
auch die unmittelbaren Nachbarn zum Projekt gegen Vertreibungen zugestimmt haben, wenn es
europäisch ausgelegt und gehandhabt wird, heißt in der politischen Wirklichkeit: Nein,
ein Projekt gegen Vertreibungen, von uns Deutschen zu verantworten, darf es nicht geben.
Darum muß diesem Erst dann ... deutlich widersprochen werden.
Herbert Hupka (SN)
KK1185 S. 05
Reformatoren, Regisseure und Radfahrer siehe auch KK1189 und KK1194!
Die kulturellen und historischen Porträts der Beitrittsländer der
Generaldirektion Presse und Kommunikation der EU-Kommission in Brüssel
Als Bayern nach dem Frieden von Preßburg 1806 für kurze Jahre das Regiment im früheren
Fürstbistum Trient übernommen hatte, galt seine ganze Mühe und Sorge der
Aufhellung der hierorts herrschenden Geistesfinsternis. Sie muß ungefähr so
dicht gewesen sein wie die bei den Autoren des kulturellen und historischen
Porträts der Beitrittsländer der Generaldirektion Presse und Kommunikation der
EU-Kommission. Man legt es mit dem Stoßseufzer aus der Hand: Oh
(Kultur-)Wissenschaft, verhülle Dein Haupt!. Ein paar Beispiele, die von
Kommentaren ungestört für sich sprechen sollen:
Tschechische Republik: Nach dem großen Einfluß auf die
europäische Geschichte in Gestalt des Königreiches Böhmen und 300 Jahren Zugehörigkeit
zur Habsburger Monarchie gehörte die moderne Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg
zu den zehn größten Industrienationen. Neben dem Theaterautor und Präsidenten Václav
Havel zählten zu den berühmten Tschechen der heilige Wenzel, der Glaubensreformator des
15. Jahrhunderts Jan Hus, der Renaissancelehrer Comenius, der Jugendstilmaler des 19.
Jahrhunderts Alfons Mucha, die Komponisten Dvorák und Smetana, Athleten wie Emil Zatopek
und Martina Navratilova sowie Milos Forman, der oskargekrönte Regisseur mit Filmen wie
,Einer flog übers Kuckucksnest' und ,Amadeus'.
Lettland: Lettlands Hauptstadt Riga wurde 1201 vom Deutschen
Orden gegründet. Seit diesen frühen Tagen pflegen die Letten Kontakte zum Rest der Welt
Ventspils ist einer der alten Hansehäfen. Seit Lettland 1991 seine Unabhängigkeit
zurückerhielt, hat es diese Verbindungen durch Handel, Politik und Kontakte über so
unterschiedliche Figuren wie den Radfahrer Romans Vainsteins, den olympischen
Goldmedaillenturner Igors Vihrovs, die Popsängerin Clinda Leen und den Musiker Raymond
Pauls engagiert erneuert.
Litauen: Die Universität der Hauptstadt Vilnius ist eine der
ältesten Europas, und das geographische Zentrum des Kontinents befindet sich im
litauischen Dorf Bernotai. Litauen war einst Zentrum eines Reiches, das sich fast bis zum
Schwarzen Meer erstreckte, ist die Heimat des Schachgroßmeisters Aloyas Kveinys und des
Radfahrers Raimondas Rumsas und will nun Teil eines kontinentweiten Europas sein.
Ungarn: Franz Liszt, Béla Bartók und Zoltán Kodály
gehören zu den berühmten Musikern dieses tausendjährigen Staates, der Schauplatz eines
bewaffneten Aufstandes gegen den Stalinismus war und an dessen Grenze zu Österreich der
Eiserne Vorhang durchschnitten wurde. Ungarn war ferner die Heimat von Ladislao Jose Biro,
dem Erfinder des Kugelschreibers, dem Mathematiker des 19. Jahrhunderts János Bolyai und
Tivadár Puskás, der 1879 in Paris die erste europäische Telefonzentrale einrichtete.
Polen: Polen nahm bereits vor dem Mittelalter an den
wichtigsten kulturellen Entwicklungen Europas teil. Das Land hat ein liberales Modell für
Demokratie und Minderheitenschutz geschaffen. Europa verdankt ihm große Figuren des
kulturellen Lebens wie den Astronomen Kopernikus, der 1543 bewiesen hat, daß die Erde
nicht das Zentrum des Universums ist, Chopin und große Regisseure wie Andrzej Wajda.
Ein paar Anmerkungen kann man sich dennoch nicht versagen: Wer war eigentlich der
heilige Wenzel ein König vielleicht? Und gab es nicht auch Kaiser Karl IV., den
böhmischen Adelsaufstand von 1618 mit dem Dreißigjährigen Krieg im Gefolge, einen
Wallenstein oder einen Thomas Masaryk und eine im damaligen Mittelosteuropa einzigartig
breite technische und naturwissenschaftliche tschechische Elite? Ob die Letten ihre
Unabhängigkeit wirklich vor allem über Radfahrer und Popsängerinnen engagiert
erneuert haben, sollten sie am besten selber sagen, aber dann sollten die übrigen
EU-Europäer eigentlich doch erfahren, von wem die neuen baltischen Partner 1991
eigentlich unabhängig wurden. Bei Litauen und seiner Universität Vilnius scheint man
einiges mit Krakau durcheinandergebracht zu haben, denn die drittälteste europäische
Universität nach Bologna und Prag hat Krakau. Vielleicht sollte Europa auch etwas
darüber erfahren, daß neben einem Schachgroßmeister und auch einem weiteren Radfahrer
Litauen mit seiner Jagellonendynastie 1386 zusammen mit der polnischen Thronerbin Hedwig
den einst größten Territorialstaat Europas geschaffen hat, der mit fünf Völkern und 12
Sprachen schon eine EU des späten Mittelalters war.
Natürlich ist es interessant zu wissen, daß der Erfinder des Kugelschreibers ein Ungar
war, aber zum Glück hatte und hat Ungarn weit mehr zu bieten. Es hätte gut getan, in
diesem Porträt die Namen Lajos Kossuth und Sándor Petöfi mit dem Datum 1849
und vor allem die Namen Imre Nagy und Pál Maléter mit dem Datum 1956 zu lesen. Die
würden nämlich den Ungarn gerade am 1. Mai 2004 mit sehr vielem verbinden.
Bei dem Porträt Polens tun sich besonders schmerzliche Lücken auf. Kein Wort
von der Entstehung und Bedeutung des Jagellonenreiches, von der Adelsrepublik, die sich
als Fortsetzung der römischen res publica verstanden hat, und vor allem kein Wort von den
Teilungen. Immerhin waren sie zusammen mit der Französischen Revolution und der deutschen
Reformation die drei Großereignisse, die alles Spätere geprägt haben, bis zur EU von
heute. Daß sich kein Wort zur Universität Krakau und den Krakauer astronomischen Schulen
findet und die Namen Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki, Cyprian Norwid oder Kazimierz und
Marian Brandys aus der Literatur oder Maria Sklodowska-Curie aus der Wissenschaft auch
nicht finden, versteht sich fast schon von selbst.
Mit einem Wort: Die EU-Kommission hat da ein jämmerliches Machwerk in alle Amtssprachen
der Gemeinschaft übersetzen lassen, das höchstens als Zeugnis völliger Inkompetenz und
Ignoranz überleben sollte. Für das alte und bisher ach so überhebliche EU-Europa muß
jetzt eine zweite Maueröffnung beginnen, in den Köpfen. Die kulturelle Einheit des
Kontinents ist von den Völkern Mittelosteuropas erhalten worden, die seit dem 1. Mai 2004
zur EU gehören, Europa hat die dafür nötigen moralischen, politischen und rechtlichen
Ressourcen aus seinem überlieferten kulturellen Zusammenhalt gewonnen. Diese Völker
waren es, die hartnäckigst dafür eingestanden haben, daß der Kontinent als kulturelle
Einheit auch während des Kommunismus weitergelebt hat. Jetzt hat die alte EU eine lange
Wegstrecke des Lernens und der Selbstüberprüfung vor sich, um ihre Defizite im
Bewußtsein dieser von Osteuropa aufrechterhaltenen kulturellen Einheit auszugleichen.
Dietmar Stutzer (KK)
KK1185 S. 07
Kommen und Gehen als Schicksal einer Landschaft
Ortfried Kotzian zeigt die Bukowina als Paradigma des nicht nur deutschen
zeitgeschichtlichen Dramas im östlichen Europa
Die auf einer Anhöhe am rechten Ufer des Pruth gelegene Stadt Czernowitz beherbergte
einst die östlichste deutschsprachige Universität, und auf der Bühne des Stadttheaters
sprach und sang man ebenfalls auf deutsch. Dabei waren die Deutschen in der Bukowina,
deren alte Hauptstadt Czernowitz ist, stets nur eine Minderheit. Sie kamen bei der
Volkszählung von 1910 mit 168 000 Personen auf 21,2 Prozent der Bevölkerung, wobei die
13 Prozent der sich zum Deutschtum bekennenden Juden mitgerechnet waren. Die Deutschen
rangierten nach den Ukrainern (305 000 oder 38,4 Prozent) und den Rumänen
(273 000 oder 34,4 Prozent) an dritter Stelle. Nachdem die Bukowina 1919 an Rumänien
gefallen war, das sich nach französischem Vorbild als zentralistischer Nationalstaat
verstand, büßten sie ihre kulturell prägende Kraft ein und zogen sich auf ihre Vereine
und sonstigen Institutionen zurück.
Zu diesem Thema sprach Ortfried Kotzian wie schon wiederholt im Rahmen einer
Vortragsreihe, die das von ihm geleitete Münchner Haus des Deutschen Ostens unter dem
Motto Bayerns Bevölkerung stammt auch aus dem Osten in München, Nürnberg
und Traunreut veranstaltet. Die Bukowina, die südöstlich an Galizien anschließt und als
der nördliche Teil der Moldau die Nordostkarpaten und deren Vorland einnimmt, war 1775 im
Zuge der Ausbreitung Rußlands und Österreichs im Balkanraum auf Kosten der Türkei
österreichisch geworden.
Um dem unter geostrategischen Gesichtspunkten erworbenen Land aus seiner großen Armut und
Rückständigkeit zu helfen, betrieb Kaiser Josef II. die Besetzung mit deutschen
Siedlern. Nach Kotzian ging die Besiedlung in vier Schritten vor sich. In die Zeit
zwischen 1786 und 1805 fällt die Schwabensiedlung, d. h. die Ansetzung von Pfälzern,
Lothringern, Elsässern und Badenern sowie Mosel- und Mainfranken, Gemüsebauern,
mehrheitlich evangelisch, in schon vorhandenen Ortschaften. Zwischen 1800 und 1814 kamen
Deutsch-Böhmen aus dem Böhmerwald sowie Nord- und Ostböhmen hinzu, Waldarbeiter,
Glasmacher und Kleinbauern, die selbst Ortschaften gründeten, die hinfort meist rein
deutsch blieben. In dem Zeitraum von 1815 bis 1830 wanderten in die Bukowiner
Karpatenregion, wo Eisenerz-, Kupfer- und Manganvorkommen entdeckt worden waren, Bergleute
aus der oberungarischen Zips ein. Und schließlich waren es Militärs, Ärzte, Lehrer,
Beamte und sonstige Fachleute, die die deutsche Population in den Städten bildeten.
Der Erfolg war durchschlagend. Hatte die Einwohnerzahl 1780 noch 79 500 betragen, so
waren es 795 000 im Jahr 1910. Zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs
die Bevölkerung jährlich um mehr als ein Prozent. Wie der Referent betonte, hat es in
der Bukowina, deutsch Buchenland, seit 1849 selbständiges österreichisches Kronland,
keine ethnischen Gegensätze gegeben. Die Volksgruppen es gab auch die der Polen
(4,6 Prozent) und der Slowaken (1,2 Prozent) sowie kleinere Minderheiten hätten
freilich in der Trennung zusammengelebt; es habe also bei allem nationalen
(und sozialen) Frieden im Kronland keine integrierte Gesellschaft gegeben. Er verwies auf
das Volksschulwesen, das mitunter fünf-, in der Masse dreisprachig gewesen sei; erst im
höheren Schulwesen habe es eine Trennung gegeben. Er erinnerte zudem an den Bukowiner
Ausgleich von 1909/10, durch den die Nationalitäten im übrigens mehrsprachigen
Landtag eine angemessene nationale Repräsentation erhielten.
An die Stelle dieses bunten Bildes, wie Kotzian es nannte, traten in der
großrumänischen Nachkriegsordnung, für die auch der Volksrat der Deutschen optiert
hatte, das Staatsvolk der Rumänen und die Minderheiten, wobei diese in der Bukowina
zahlenmäßig stärker waren als jenes. Ein rumänischer Kulturkampf begann.
Die Deutschen, so der Historiker, fanden sich schlecht in die neuen
Verhältnisse. Die deutschen Schulen, im Unterschied zu jenen in Siebenbürgen keine
kirchlichen, sondern Staatsschulen, wurden sofort rumänisiert. 1922 kam das Ende des
Czernowitzer Theaters, dann das der Universität. Das Kulturleben der Minderheiten zog
sich in die Volkshäuser zurück, von denen es auch ein deutsches und ein
jüdisches gab.
Als Rumänien 1940 die nördliche Bukowina mit Czernowitz an die Sowjetunion abtreten
mußte, kam es aufgrund von Verträgen des Deutschen Reiches mit beiden Staaten zur
Umsiedlung der Bukowinadeutschen nach Deutschland, also auch derjenigen, die in den
Rumänien verbleibenden Gebieten lebten. Es waren zwischen 80 000 und 90 000 Personen. Sie
kamen zunächst nach Bayern, dann in den Warthegau, nach Ostoberschlesien, ins Elsaß und
in die Untersteiermark. Dort wurden etwa 50 000 Bukowinadeutsche angesiedelt um
bald darauf, 1945, auf die Flucht gehen zu müssen -, etwa 10 000 blieben im Altreich
zurück, während etwa 7000 nach Rumänien zurückgeschickt wurden oder zurückgingen.
Nach dem Krieg fanden sich die Bukowinadeutschen in Bayern, insbesondere in Schwaben, in
Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg wieder, zudem in Österreich. Im
rumänischen Teil der Bukowina lebten im Jahre 2002 etwa 2500 Deutsche, im ukrainischen
Norden sollen es 500 sein. Für die Stellung der Deutschen in Rumänien ist es
bezeichnend, daß im Jahre 2001 das Bundestreffen der Buchenlanddeutschen in der
bukowinischen Bezirkshauptstadt Suczava/Suceava stattfinden konnte.
Peter Mast (KK)
KK1185 S. 09
Schlesischer Seigneur
100 Jahre seit der Geburt von Gerhard Webersinn
Vor einhundert Jahren, am 25. April 1904, wurde der Jurist, Historiker und
Publizist Dr. Gerhard Webersinn in Münsterberg als Sohn eines Uhrmachermeisters geboren.
Er legte in Neisse das Abitur ab, studierte in Breslau Jura sowie Geschichte und
Volkswirtschaft, absolvierte die juristischen Examina und wurde 1928 zum Dr. jur.
promoviert. Der Berufsweg führte ihn in viele schlesische Orte, bis zur 1938 erfolgten
Ernennung zum Amtsge- richtsrat in Löwen, Kreis Brieg. Nach dem Krieg trat er in Berlin
der CDU bei, wirkte in Finsterwalde und Cottbus und wurde 1946 in den brandenburgischen
Landtag gewählt, verließ die DDR aber wegen der dort herrschenden politischen Unfreiheit
und begab sich in die Bundesrepublik, in der er von 1954 bis zur Pensionierung 1969 als
Oberverwaltungsgerichtsrat am Oberverwaltungsgericht von Nordrhein-Westfalen zu Münster
amtierte.
Als durch und durch historisch und politisch interessierter Mensch wandte Webersinn sich
zunehmend der breiten und intensiven Beschäftigung mit der schlesischen Geschichte zu,
dabei den Blick vornehmlich auf die Regionen Münsterberg/Frankenstein, Neisse und ganz
Oberschlesien richtend und kategorial das Biographische und zeitlich das 19. und 20.
Jahrhundert ins Auge fassend. Auf letzterem Gebiet entwickelte er sich im Laufe der Jahre
zu einem der besten deutschen Sachkenner, was in einer sehr großen Zahl von
Veröffentlichungen seinen Ausdruck fand, die in maßgeblichen westdeutschen Organen
erschienen, so im Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Breslau, im Archiv für schlesische Kirchengeschichte und in der
Vierteljahresschrift Schlesien. An Herbert Hupkas Sammelbänden Große
Deutsche aus Schlesien und Schlesisches Panorama arbeitete er ebenso mit
wie an der Festschrift für Karl Schodrok und am Band 5 der Schlesischen
Lebensbilder, in dem sein Beitrag über den Widerstandskämpfer Helmuth James Graf
von Moltke steht. Über den ostoberschlesischen Exponenten Otto Ulitz schrieb er ein
Büchlein.
Mit Biographien katholischer Persönlichkeiten der Zeit der Weimarer Republik erbrachte
Webersinn Pionierleistungen und gab fern von den in Schlesien liegenden und damals
für Bundesdeutsche praktisch unzugänglichen Archivalien wichtige Impulse, z. B.
über die Zentrumsführer Felix Porsch und Carl Ulitzka. Die Bibliographie seiner
Publikationen enthält ohne gänzliche Erfassung der für eine breite Leserschaft
verfaßten Artikel zu politischen Fragen 710 Titel.
Webersinn war ein Seigneur, ein eleganter, kontaktfreudiger niederschlesischer Herr und
ein begeisterter ehemaliger Breslauer Korporationssenior. Der Träger des selten
verliehenen Schlesierschildes der Landsmannschaft Schlesien starb am 19. Februar 1993,
fast 89jährig, im westfälischen Münster.
Hans-Ludwig Abmeier (KK)
KK1185 S. 09
Die diesjährige Esslinger Begegnung der Künstlergilde bietet eine
Ausstellung mit kritischer Kunstfotografie zum Thema Zwölf Jahre
Milosevic-Diktatur, die der serbisch-montenegrinische Botschafter Milovan Bozinovic
am 14. Mai im Esslinger Schwörhaus eröffnet. Am selben Abend spricht Manfred Jähnichen
über die serbische Dichtung des 20. Jahrhunderts. Vom 8. bis zum 29. Mai zeigt die
Galerie der Künstlergilde am Hafenmarkt Bildhauerarbeiten von Elsbeth Siebenbürger. Die
Jahreshauptversammlung ist für den 14. Mai im Dick-Areal vorgesehen (Fachgruppensitzungen
ab 10 Uhr). (KK)
KK1185 S. 10
Große Deutsche aus dem Osten in Schlüchtern
Die OKR-Ausstellung begleitet die Veranstaltungen zur Unterzeichnung des
Partnerschaftsvertrags mit Jarotschin/Groß Polen
Die kleine hessische Kreisstadt Schlüchtern zwischen Gelnhausen und Fulda hatte
sich durch ihren Heimat- und Geschichtsverein Bergwinkel selbst um die
Ausstellung der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat bemüht. Und es war ein passender Gedanke,
eine Woche vor der EU-Osterweiterung am Vormittag des 24. April im
Ulrich-von-Hutten-Gymnasium die im Kreuzgang des ehemaligen Benediktinerklosters
aufgebaute Ausstellung zu eröffnen und am Nachmittag desselben Tages in der Aula des
Gymnasiums in einem mehrstündigen Festakt die Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages
zwischen Schlüchtern und der polnischen Stadt Jarotschin/Jarocin zu vollziehen.
So konnten der Präsident des Ostdeutschen Kulturrates und Schöpfer der Ausstellung,
Professor Dr. Eberhard G. Schulz, ebenso wie der Schlüchterner Bürgermeister Falko
Fritzsch und der stellvertretende Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins, Albin
Anhalt, früher Deutsch- und Geschichtslehrer an dem die Ausstellung beherbergenden
Gymnasium, darauf hinweisen, daß diese Präsentation gerade die europäische Verflechtung
der großen Kulturleistungen der Deutschen aus dem Osten deutlich mache als eine
Voraussetzung für wissenschaftliche, künstlerische und technische Errungenschaften von
hohem Rang.
Aus Jarotschin, in der früheren preußischen Provinz Posen an der alten Handelsstraße
von Thorn nach Breslau gelegen, das im Mittelalter den Namen Kesselberg führte, waren 30
Gäste nach Schlüchtern gekommen, die sich nicht nur von ihrer Partnerstadt, sondern auch
von der Ausstellung angetan zeigten.
In seinem Einführungsvortrag ging Professor Schulz von den drei großen Jubiläen aus,
die im Jahr 2004 begangen werden: dem 200. Todestag Immanuel Kants (12. 2.), dem 150.
Geburtstag Paul Ehrlichs (14. 3.) und dem 250. Todestag von Christian Wolff
(9. 4.). Er skizzierte die der ganzen Menschheit dienenden Leistungen dieser Gelehrten,
die zu den 81 in der Ausstellung gewürdigten Persönlichkeiten gehören, und fügte
bedauernd hinzu, daß der Geburtsort des Erfinders der Chemotherapie, Strehlen in
Schlesien, wo der Vater Vorsteher der jüdischen Gemeinde gewesen war, fast ganz über
seinen wichtigen Wirkungsorten Berlin und besonders Frankfurt am Main vergessen werde.
Ähnliches gelte von dem Vater der Gründlichkeit und der Aufklärung in Deutschland,
Christian Wolff aus Breslau, dessen Herkunft aus dieser Stadt des konfessionellen
Gegensatzes zur Zeit der Gegenreformation für seinen Bildungsgang bis zum 20. Lebensjahr
prägend gewesen sei. Auf dem I. Internationalen Christian-Wolff-Kongreß in Halle/Saale,
dem Ort, wo Wolff mit einer 17jährigen Zwischenstation in Marburg am
längsten gewirkt hat, war kein einziger der mehr als 100 Vorträge der Entwicklung des
Denkens Wolffs in Breslau gewidmet. Ja sein im deutschen Kulturleben so bedeutender
Geburtsort fand auf dem Kongreß nur selten eine beiläufige Erwähnung. Bei Kant freilich
komme man auch beim schlechtesten Willen nicht um Königsberg herum. Ihm habe ja auch die
Stadtgemeinschaft Königsberg in der Patenstadt Duisburg eine Ausstellung gewidmet, die
allseits große Anerkennung finde.
In Schlüchtern, so wurde bei der einige Tage nach dem Aufbau erfolgten offiziellen
Eröffnung berichtet, hat es bereits Unterrichtsstunden vor den Tafeln der großen
Deutschen aus dem Osten gegeben. Eine bessere Wirkung läßt sich kaum denken.
(KK)
KK1185 S. 11
Auch in Oberschlesien ist das Volk nicht tümlich
Oberschlesische Kulturtage 2004 in Düsseldorf
Die Konzeption unseres Hauses sieht vor, daß wir im europäischen Kontext
unsere Arbeit fortsetzen und neu beleben. Wir wollen die Geschichte in die Gegenwart
hereinholen, um zusammen mit unseren nationalen und internationalen Partnern eine
friedliche Zukunft gestalten zu können, betonte Dr. Walter Engel, Direktor des
Gerhart-Hauptmann-Hauses, bei der Eröffnungsveranstaltung der Oberschlesischen Kulturtage
2004 in Düsseldorf.
Ein musikalisches Programm, bestritten von Elena Zakharevitch (Klavier) und Georg Daniel
(Bariton), umrahmte die Feierstunde, die am Vorabend der EU-Osterweiterung am 18. April in
Düsseldorf stattfand. Im Mittelpunkt standen die Ansprachen von Ullrich Kinstner vom
Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie, sowie von Klaus Plaszczek, dem
Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Oberschlesier.
Ullrich Kinstner verwies auf die 40jährige Patenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen
für die Landsmannschaft der Oberschlesier und die in der Bundesrepublik lebenden
Oberschlesier sowie auf die aktuelle Kulturförderung der Bundesregierung. Wie bereits in
der Patenschaftsurkunde von 1964 vermerkt, waren und sind die Oberschlesier bemüht,
Brücken zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk zu bauen. Veranstaltungen wie
diese Kulturtage haben die Aufgabe, einerseits die bestehenden Brücken in ihren
Fundamenten zu festigen und andererseits neue Brückenpfeiler aufzustellen, betonte
Kinstner.
Dr. Susanne Peters-Schildgen vom Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen-Hösel führte
in die Dokumentarausstellung Ansichten aus Hindenburg/Zabrze ein. Schüler des
Kunstgymnasiums in Hindenburg/Zabrze haben mit Unterstützung des Oberschlesischen
Landesmuseums im Rahmen eines Fotoprojektes ihre Heimatstadt in Bildern festgehalten. Als
passende Ergänzung waren historische Ansichten der Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg auf
Postkarten aus den Beständen des Hindenburger Heimatmuseums in Essen zu sehen.
Die Autorenlesung von Wolfgang Bittner aus seinem Buch Gleiwitz heißt heute
Gliwice, der Vortrag von Dr. Peter Chmiel über Die Industrielandschaft
Oberschlesien, die Filmproduktionen von Josef Cyrus St. Annaberg. Der
Wallfahrtsort der Oberschlesier und Beuthen O/S früher und heute sowie
eine oberschlesische Maiandacht und ein volkstümliches Beisammensein rundeten das
Programm der Kulturtage ab. Die Bibliothek des Gastgeberhauses begleitete die
Veranstaltung mit einer Buchausstellung Oberschlesien im Wandel der Zeiten.
Dieter Göllner (KK)
Bücher und Medien
KK1185 S. 12
Der Heiduck zur oberschlesischen Literatur
Franz Heiduk: Oberschlesisches Literatur-Lexikon.
Biographisch-bibliographisches Handbuch. Teil 3, Q-Z, mit Berichtigungen, Ergänzungen und
Nachträgen zu Band 1 und 2. Palatina Verlag Julius Paulus, Heidelberg 2000, 357 S., 75
Euro.
1990 war der erste Band erschienen, mit der Widmung Karl Schodrok, dem Wahrer des
kulturellen Erbes seiner Heimat, zum Gedächtnis. Der zweite Band folgte 1993 und
war dem oberschlesischen Schriftsteller Gerhard Kukofka (1917 -1970) im dankbaren
Erinnern an seine vielen Impulse zugeeignet. Im letzten Band, der erst nach weiteren
sieben Jahren vorgelegt werden konnte, heißt es: Herbert Czaja Dr. phil. in
Dankbarkeit. Im Vorwort ist dann zu erfahren: Es bleibt das unbestreitbare
Verdienst von Herrn Dr. Herbert Czaja, das Entstehen des vorliegenden Lexikons
durchgesetzt zu haben, unerachtet vieler Widerstände.
Über den Schöpfer dieses Lexikons, und das Wort vom Schöpfer ist nicht zu hoch
gegriffen, erteilt sein Werk folgende hier verkürzte Auskunft: 1925 in Breslau geboren,
aus Hultschiner Familie, Gymnasiallehrer in Frankfurt am Main und Würzburg, 1970
promoviert über Die Dichter der galanten Lyrik, dem Werk Joseph von
Eichendorffs eng verbunden, wissenschaftlich und in der Eichendorff-Gesellschaft. Auch
wenn im Vorwort manchem helfenden Zuarbeiter Dank abgestattet wird, steht fest, daß
dieses Werk die großartige Leistung eines einzelnen ist, und aus den zitierten Namen der
Helfenden darf man schließen, daß viele Mitglieder der Familie Heiduk in die Arbeit
eingespannt waren.
Das Oberschlesische Literatur-Lexikon, so war im 2. Band zu lesen, will
Ausmaß und Vielfalt der deutschen Literatur aus dem gesamtoberschlesischen Kulturraum
sichtbar machen. Die Kärrnerarbeit, die mit den Vorarbeiten sich über Jahrzehnte
erstreckte, soll dazu dienen, so viel wie nur möglich verläßliches Material zu weiterer
Aufarbeitung bereitzustellen. Neu für den dritten Band ist die zusätzliche
Aufnahme der Autoren aus dem geschlossenen deutschsprachigen Raum Nordmährens.
Franz Heiduks Bemühungen, den Reichtum der staatlich preußisch bestimmten
oberschlesischen Literatur um den einst österreichisch regierten Kulturraum zu erweitern,
findet eine Bestätigung in der Arbeitsstelle für mährische deutschsprachige Literatur
im Lehrstuhl für Germanistik der Palacky-Universität in Olmütz. Ein Kartenblatt
ergänzt den vorliegenden dritten Lexikonband.
Franz Heiduk ist darauf bedacht, nicht nur aus der Vergangenheit zu schöpfen, sondern
oberschlesische Literatur möglichst nahe an der Gegenwart zu belegen, weshalb er auch das
heutige Oberschlesien zuerst unter polnischer Verwaltung, jetzt unter polnischer
Souveränität mit dichtenden oder wissenschaftlichen Autoren einbezieht. Zwei Namen seien
aus dem dritten Band herausgegriffen: Eva Maria Jakubek, 1928 in Oberglogau geboren, jetzt
als Übersetzerin und Dolmetscherin in Breslau lebend, die mit aphoristisch gestimmten
Gedichten hervorgetreten ist, dann der polnische Germanist des Breslauer Universität
Marian Szyrocki, 1928 in Lublinitz geboren, 1992 in Breslau gestorben, ein hervorragender
Forscher und Darsteller des schlesischen Barocks, der sich vor allem durch die Herausgabe
der Werke von Andreas Gryphius einen Namen gemacht hat.
Im dritten Band werden 1000 Artikel zu Autoren entsprechend der alphabetischen Vorgabe und
nicht ganz 600 Artikel als Nachträge zu den Buchstaben A-P veröffentlicht, dazu noch
eine große Zahl von Ergänzungen und Berichtigungen. Zu manchem bekannten Namen erfährt
man nunmehr die genauen Lebensdaten. Der Name von Eva Gabriele Reichmann, geborene
Jungmann, sei hier genannt, geboren 1897 in Lublinitz, gestorben 1997 in London, eine
durch ihre Bücher zum Judentum bekannt gewordene Autorin. Dies ist auch ein Beleg dafür,
wie gewissenhaft die Lebenswege der in die Emigration gezwungenen Oberschlesier
einschließlich ihrer Veröffentlichungen nachgezeichnet werden.
Der Begriff des Literarischen ist weit gefaßt. Dissertationen und andere
wissenschaftliche Arbeiten gehören mit in die Darstellung. Auch Politiker wie der
Reichtagsabgeordnete und Prälat Carl Ulitzka und Hamburgs Bürgermeister Herbert
Weichmann finden sich in diesem Literatur-Lexikon. Selbst Goethe wurde im ersten Band mit
seiner Reise 1790 bis nach Tarnowitz und seinem berühmten Spruch Fern von
gebildeten Menschen vorgestellt, in den Nachträgen begegnet uns jetzt der Enkel des
Dichters, Wolfgang Max von Goethe, der 1848, 1849 und 1850 Freiwaldau im
Österreichisch-Schlesien besucht hat.
Schon beim Erscheinen der ersten beiden Bände ist Klage darüber geführt worden, daß
kein Lexikon mit Aussagen über ganz Schlesien, also auch Niederschlesien, vorgelegt
werden konnte. Leider war keine Projektgruppe mit diesem Thema zustande gekommen, ohnehin
war es äußerst schwierig, dieses schmälere Vorhaben durchzustehen. An dem jetzt
abgeschlossenen dreibändigen Werk ist da und dort auch Kritik angebracht, etwa am
Aussparen der naturwissenschaftlichen Literatur, so daß Nobelpreisträger wie Otto Stern
aus Sohrau und Kurt Alder aus Königshütte fehlen, oder weil mancher Artikel zu
ausführlich ausgefallen ist. Das fällt jedoch nicht ins Gewicht. Denn es kann gar nicht
deutlich genug gerühmt werden, was Franz Heiduk mit seiner Darstellung der aus
Oberschlesien stammenden Geistigkeit geschaffen hat.
Etwas Vergleichbares hat es bis jetzt nicht gegeben, und zu befürchten ist, daß sich
nicht so bald ein ebenbürtiges Unternehmen beginnen läßt. Der Verfasser äußert im
Vorwort allerdings den optimistischen Wunsch: Es möge bald ein Ergänzungsband
erarbeitet werden, der die umfangreiche und bedeutsame Literatur tschechischer und auch
die polnische Sprache präsentiert. Vorerst wünscht man die literarische Produktion
der niederschlesischen Landsleute so gründlich und kundig erfaßt und dargestellt zu
sehen.
Ein großer Wurf, dieser Heiduk, unter welchem Namen das Oberschlesische
Literatur-Lexikon populär werden wird. Mit dem Dank verbindet sich die
Enttäuschung, daß wider Erwarten in der wissenschaftlichen, aber auch in der
heimatlichen Öffentlichkeit kaum Aufhebens von diesem Jahrhundertwerk gemacht worden ist.
Herbert Hupka (KK)
KK1185 S. 13
Vier Jahreszeiten zur Unzeit und zur Endzeit
Joachim Wittstock: Bestätigt und besiegelt. Roman in vier Jahreszeiten.
ADZ Verlag, Bukarest 2004, 414 S.
Endzeit erzählen ist schwer. Denn alle Erzählung, sei sie noch so raunende
Beschwörung des Imperfekts, bedarf des Futurs, der Zukunft, setzt sie voraus oder
hintennach, sie lebt vom Bewußtsein der Zeitlichkeit, die kein Ende haben darf,
schließlich muß es ja nach dem Erzählen noch einen geben: den Leser. Wer aber erzählt
im Bewußtsein, daß seine Geschichte ins Dunkle mündet, daß es den Leser vielleicht gar
nicht mehr gibt, das ist ein rechter Athlet des Epischen. Und ein solcher Extremathlet ist
Joachim Wittstock. Er muß etwas abarbeiten, er will, er tut es nach bestem Wissen und
Gewissen ohne die Gewißheit, daß jemand dessen harrt, was er zu erzählen hat.
Joachim Wittstock hat das Erbe seines Vaters Erwin Wittstock angetreten. Das ist eine
ebenso abwegige wie zutreffende Behauptung. Schriftsteller treten kein Erbe an, sie
schreiben ein je eigenes Buch. Und doch: Erwin Wittstock hat seinen Roman Januar '45
oder Die höhere Pflicht über das Mittjahrhunderttrauma der Siebenbürger Sachsen,
die Deportation nach dem sowjetischen Rußland, hinterlassen müssen, da seinerzeit die
Zeit dafür noch nicht gekommen war. Die Wittstockschen Erben haben den Text, da die Zeit
nun endlich eine Wende genommen hat, herausgegeben. Der Sohn und Schriftsteller Joachim
Wittstock hat sich das Thema zu eigen gemacht. Er hat sich in seinem nicht nur
voluminösesten, sondern auch bisher gewichtigsten Buch an diesem Thema abgearbeitet.
Blasphemisch zu sagen, das sei aller Ehren wert. Schon allein das Pflichtbewußtsein, das
hier waltet, verlangt jedem, der das Buch liest, größten Respekt ab, und die
gestalterische Arbeit erst recht. Endzeit erzählen, vom Ende erzählen, wenn es danach
keinen Anfang mehr gibt, das ist ein dermaßen selbstloses Unterfangen, daß ein Dichter
es nur auf sich nimmt, wenn er aller Eitelkeit, ja aller Selbstgewißheit enträt. Joachim
Wittstock tut das. Er versucht das Ungeheuerliche zu erzählen, es handgreiflich,
begreiflich zu machen.
Ort der Handlung ist Heltau, eine sächsische Gemeinde vermeintlich integerster
Konstitution. Hier findet wie allerorten in Siebenbürgen nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs ein böses Erwachen statt. Die leistungstragende Schicht der sächsischen
Bevölkerung ist deportiert worden, die wirtschaftliche und politische Macht wird neu
verteilt, und die Verlierer, die ehemals wohlbestallten Sachsen, wissen nicht, wie ihnen
geschieht. Joachim Wittstock läßt eine historische Person berichten, die den
schmerzlichen Erkenntnisprozeß mit notarieller Nüchternheit registriert,
bestätigt und besiegelt. Eingangs spricht der Autor bemerkenswert offen über
diese Quelle:
Der Verfasser jener Blätter war der Heltauer Notar und zeitweilige Ortsvorstand
Michael Klein (1880-1964). Mit den Mitteilungen wandte er sich an seinen zur Zwangsarbeit
deportierten Sohn Erhardt Klein (Jahrgang 1920). Wenn die Briefe auch nicht abgesandt
wurden diese Möglichkeit der Verbindung gab es anfangs gar nicht und später in
beschränktem Maß -, hoffte der Vater doch, der Sohn werde nach seiner Rückkehr das für
ihn Aufgezeichnete lesen.
Es kam nicht nur diesem, es kommt auch mir zugute, erhielt ich doch mit den Heften so
manches von der stofflichen Grundlage des Romans. Die geschilderten Begebenheiten und
Gestalten, die Reflexionen und Gespräche sind, dem entsprechend, in gewissem Maß den
Briefen verpflichtet. Welches dieses gewisse Maß ist, weiß der Leser
nicht, weit über dieses Maß hinaus hat Joachim Wittstock allerdings einen Kraftakt
siebenbürgisch-sächsischer Selbstreflexion geleistet, der nicht nur durch seine
Redlichkeit anrührt, sondern auch neue Pespektiven eröffnet.
Sein alle Bedenken tragender und vortragender Notar Klein wird nämlich sekundiert durch
die eher schillernde Gestalt des Büroangestellten Heinrich Schirmer, der den Unbilden der
Zeitgeschichte mit den Mitteln der Parapsychologie beizukommen sucht. Der Beschwörer
fährt an die Grenze zu Rußland und watet in die Mitte des Grenzflusses, er sammelt Fotos
und montiert sie zu subversiven Ikonographien, um so Kontakt zu den Deportierten
aufzunehmen ein PSI-Freibeuter, dessen Schilderung aber jedem plausibel erscheinen
muß, der die siebenbürgische Endzeit halbwegs bewußt miterlebt hat. Keiner übersteht
verrückte Zeitgeschichte, ohne daß sie auch ihn verrückte, und das
siebenbürgische Stadtbürgertum hat zahlreiche Zeugnisse davon abgeliefert, die von
seinen bedeutendsten Autoren literarisch beglaubigt worden sind.
Zwei Sichtweisen, eine chronistische, notariell beglaubigte und eine
spirituell exaltierte, werden hier zusammengeführt, und heraus kommt eine leidlich
tröstliche Sicht auf das Trostlose. Auch die Beteiligung siebenbürgischer
Naturwissenschaftler am nationalsozialistischen Euthanasieprogramm wird hinterfragt, die
Gestalt eines Arztes mit Namen Lupini, sinnigerweise in Anlehnung an Luzifer
Lussi geheißen, geistert durch die Briefe des Notars und die Mutmaßungen des
Autors, ohne daß er moralisch dingfest gemacht würde. Jüdisch-siebenbürgisches
Schicksal klingt genauso an wie die wirtschaftliche Agonie der Sachsen in der
Nachkriegszeit. Bewanderten Kennern siebenbürgischer Zeitgeschichte klingen gewiß die
Ohren. Wer diese Voraussetzung für die Lektüre nicht mitbringt, wird mitnehmen, was
Joachim Wittstock beklemmend zu gestalten weiß: Ratlosigkeit einst und jetzt, in eins
gesetzt in einer epischen grande complication, wie das die Meister der Zeit,
die Uhrmacher, nennen.
Über die Deportation erfahren wir nichts. Nichts, was der Autor nicht wüßte ein
weiteres Moment literarischer Redlichkeit. Er macht sich die Unwissenheit der
Daheimgebliebenen zu eigen, ja macht sie zum erzählerischen Programm. Wer sich auf dieses
Erzählen ohne Zielpunkt einläßt, gewinnt nicht zuletzt die Einsicht, daß auch die
wirkliche Geschichte keinen Zielpunkt hat.
Hier spricht ein Notar über das Gewicht der Zeit und der Zeitgenossen: Als Notar
und Brief-Chronist habe ich freilich bemüht zu sein, mich vollends der Unsitte zu
enthalten, die anderen, die Nichtsachsen, nach meiner Laune einzuschätzen. Der Eitelkeit
muß ich ,entrafft' sein (wie es in einem Gesangbuch-Vers heißt), nicht weniger aber hat
mich der Billigkeitssinn einer voreingenommenen Schau zu ,entraffen'. Zu meinem
(gelegentlich empfundenen) Bedauern darf ich somit nicht über dies oder jenes Volk oder
über Volksstämme schimpfen, die uns gegenwärtig das Leben sauer machen, ich kann nicht
einfach loswettern, wie es mich manchmal anwandelt, da ich das Gute an ihnen nicht
übersehen will, den menschlichen Zug im Antlitz des Einzelnen wie auch in der
Physiognomie eines Volksganzen. Schweren Schrittes kommen diese Worte aus der
Vergangenheit einher, doch gehören sie nicht ihr an, sondern sind an die Gegenwart
gerichtet.
Einen Schritt der Deeskalation weiter geht Joachim Wittstock mit den Reflexionen seiner
übersinnlich bewegten Komplementärgestalt Heinrich Schirmer: Man hat sich wohl
immer wieder zu sagen: Die drüben erlebte Zeit brachte nicht nur Leid und Schinderei, sie
war auch Dienst und Wiedergutmachung. Sie verursachte, aber sie linderte auch Not. Was die
Bedrücker und die Bedrückten miteinander verbindet, ist ein Gutes: das Schaffen.
Verbindend ist nicht die Zerstörung, sondern der Versuch, die Schäden und ihre üblen
Folgen zu beheben.
Das ist keine Abwiegelung, sondern Abwägung, wie sie einer leistet, der nicht betroffen
war, aber betroffen ist und aus dieser Betroffenheit schreibt.
Georg Aescht (KK)
KK1185 S. 15
... daß die Menschen merken: Dies geht uns an
Christian Graf von Krockow: Die Zukunft der Geschichte. Ein Vermächtnis.
List Taschenbuch, München 2004, 207 S., 20,60 Euro
Ein Vermächtnis nennt der Verlag das letzte Buch des im Jahre 2002
verstorbenen Professors für Politikwissenschaft und engagierten Pommern Christian Graf
von Krockow. Es ist ein umfangreicher Essay, der noch einmal das Denken des stets mit
seiner Heimat verbundenen Grafen zusammenfaßt: Geschichte stattet uns mit einem
Echolot aus, daß wir die vor uns liegenden Gefahren besser erkennen. Voraussetzung ist
allerdings, daß wir das Exemplarische entdecken und dann davon so spannend
erzählen, daß die Menschen merken: Dies geht uns an.
Krockow bezieht sich auf die Ergebnisse der Pisastudie: Jeder, der mit jungen Leuten
zu tun bekommt, kann für ihre Jungfräulichkeit was die historischen Kenntnisse
betrifft Belege beibringen. Das bezieht er auch auf Flucht und Vertreibung
und das Wissen über die Vertreibungsgebiete. Wie so oft, richtet von Krockow auch in
diesem seinem letzten größeren Beitrag den Blick nach Osten. Er zitiert Kant und Herder,
widmet sich der Verbreitung des Lübischen und Magdeburger Rechts, das weit nach Mittel-
und Osteuropa hineinwirkte. Sogar fernab am Dnjepr, im ukrainischen Kiew, stößt
man noch heute auf ein Denkmal für das Magdeburger Stadtrecht, den östlichsten Punkt
markierend, bis zu dem es gelangte.
Der Autor bedauert, daß vom dreihundertsten Geburtstag Preußens 2001 nur ein
sentimentale Erinnerung ohne praktische Konsequenz geblieben ist, aber dagegen hilft
kein Klagen. Das Erzählen von berühmten Gestalten sichert, so von Krockow,
wenigstens einigermaßen historische Vorgänge. Der historische Forschungsbetrieb laufe
zwar auf vollen Touren, bleibe aber ein Inzuchtbetrieb, in dem Experten mit Experten
umgehen. Skeptisch ist der Pommer, was den bleibenden Wert der vielen Ausstellungen,
Museen und historischen Bücher angeht. Das sei eine interne Gedenkkultur.
Dennoch ist der Autor nicht nur pessimistisch. Für das 21. Jahrhundert hofft er, daß die
geistigen und politischen Auseinandersetzungen weniger dramatisch und schreckensvoll
verlaufen. Die neuen Eliten sind jung und leistungsbereit, wenn auch ungebildet und
traditionslos. Geschichte müsse ihnen als unüberhörbare Erzählung geboten
werden.
Von Krockow bleibt sich treu. Er betrachtet Gegenwart und Zukunft aus der Sicht eines
ostdeutschen Konservativen. Religion und Glauben bestimmen sein Denken, er zitiert viel
aus dem Evangelischen Gesangbuch für die Provinz Pommern aus dem Jahre 1897.
Norbert Matern (KK)
KK1185 S. 16
Czernowitzer Geschichten
Andrei Corbea-Hoisie: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische
Kultur in Mittel-(Ost-)Europa. Böhlau-Verlag, Wien 2003, 252 S., 35 Euro
Gegen die geläufige Nostalgie in Sachen Bukowina und Czernowitz hat einer der besten
Kenner ihrer Geschichte und Literatur, der Jassyer Literaturwissenschaftler Andrei
Corbea-Hoisie, seine Czernowitzer Geschichten gesetzt. Er leistet trotz dem,
wie die Neue Zürcher Zeitung bemerkt, nach biedermeierlicher Affirmation
klingenden Titel die notwendigen sozialhistorischen Differenzierungen im Klischee vom
konfliktfreien Zusammenleben der Völker am östlichsten Rand des Habsburgerreiches.
Mit dem in Fragen der Erforschung kultureller Verhältnisse notwendigen Theorieaufwand
gibt die höchst informative Aufsatzsammlung Aufschluß über die Rolle der deutschen
Sprache und Literatur in dem im 18. Jahrhundert annektierten Teil der Moldau. Dort blickte
neben dem deutsch-österreichischen insbesondere der bürgerliche Teil der wachsenden
jüdischen Bevölkerung nach Westen. Die Spannung von Zentrum und Peripherie und die sie
überlagernde von Ost und West bei Karl Emil Franzos, Nicolae Iorga, Gregor von Rezzori,
Paul Celan reflektieren weitere Kapitel des historisch bis hin zum Aufdüstern des
rumänischen Holo-
causts im Werk Norman Maneas (Die Rückkehr des Hooligan, deutsch 2004 im Carl
Hanser Verlag, München) reichenden Bandes.
(KK)
KK1185 S. 17
Literatur und Kunst
Landnahme im Vaterland ohne Väter
Deutsche Autoren aus Osteuropa und ihre Bücher auf der diesjährigen
Leipziger Buchmesse
Die Buchmesse, die seit 1997 nicht mehr in der beengten Innenstadt veranstaltet wird, war
wiederum die größte, die Leipzig jemals gesehen hat! In die gläsernen Messehallen im
Vorort Wiederitzsch waren zur diesjährigen Frühjahrsmesse mehr als 1900 Aussteller und,
wie nachträglich bekannt wurde, 102 000 Besucher gekommen, darunter zahlreiche
Schulklassen aus der Umgebung. In Halle 3 wurden auch zum ersten Mal in einem
großflächigen Antiquariat Tausende längst vergriffener Bücher aus vergangenen
Jahrhunderten angeboten, Attraktion und Fundgrube für jeden Besucher, der über genügend
Bargeld verfügte.
Literatur von ostdeutschen Autoren und über die 1945 untergegangenen Ostprovinzen
Deutschlands war auch zu entdecken, wenn auch nicht in der Fülle des Jahres 2003 mit
sieben Romanen und Erinnerungen an Flucht und Vertreibung. Allein der Roman
Landnahme des 1944 in Heinzendorf/Schlesien geborenen Pfarrerssohns Christoph
Hein, der im sächsischen Bad Düben aufgewachsen und jetzt vom Berliner Aufbau-Verlag zu
Suhrkamp nach Frankfurt/Main übergewechselt ist, sorgte für Aufregung. Es ist die
Lebensgeschichte des 1940 in der schlesischen Hauptstadt Breslau geborenen Bernhard Haber,
der 1950 mit seinen Eltern in eine sächsische Kleinstadt verschlagen wird, wo ihn seine
Mitschüler nicht nur wegen seines ungewohnten Dialekts verspotten.
Neben Christoph Hein, der am 8. April 60 Jahre alt geworden ist, konnte auch die 1929 in
Landsberg an der Warthe geborene Christa Wolf einen runden Geburtstag feiern, den 75. am
18. März. Deshalb wird auch in der Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung mit 600
Exponaten gezeigt. Im Münchner Luchterhand-Verlag erschienen eine Biographie in
Bildern und Texten (siehe unser vorige Ausgabe, KK 1184) und unter dem Titel
Ja, unsere Kreise berühren sich der Briefwechsel mit der deutsch-jüdischen
Ärztin Charlotte Wolff (1897-1986), die 1933 emigriert war und in London lebte. Nach wie
vor gibt es auch, herausgegeben von Sonja Hilzinger, die zwölfbändige Werkausgabe mit
dem Roman Kindheitsmuster (1976), in dessen 17. Kapitel das Schicksal
ostdeutscher Flüchtlinge in Mecklenburg geschildert wird.
Von besonderer Bedeutung für die Kulturgeschichte nicht nur Ostpreußens sind der 200.
Todestag am 12. Februar und der 280. Geburtstag am 22. April des Königsberger Philosophen
Immanuel Kant, der seine Geburtsstadt nur dreimal im Leben verlassen hat. Diesem
äußerlich ereignislosen Lebenslauf sind zwei Biographien gewidmet, die des Berliner
Philosophieprofessors Steffen Dietzsch im Leipziger Reclam-Verlag und die Heinz
Lemmermanns mit dem Titel Punkt fünf Uhr früh beginnt das Leben (über den
Alltag des Königsberger Professors) im Bremer Donat-Verlag.
Auch des Prager Dichters Franz Kafka (1883-1924) ist zu seinem 80. Todestag am 3. Juni zu
gedenken. An ihn erinnert der Berliner Literaturprofessor Hans Dieter Zimmermann in seinem
Buch Kafka für Fortgeschrittene im Beck-Verlag/München, während im Berliner
Wagenbach-Verlag der berühmte Brief an den Vater neu aufgelegt wurde. Der
1934 in Jäglack bei Angerburg/Ostpreußen geborene Arno Surminski dagegen, der 1974 mit
seinem Roman Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach
Deutschland? bekannt wurde, beschenkt sich selbst: Zu seinem 70. Geburtstag am 20.
August erscheint bei Hoffmann und Campe in Hamburg sein neuer Roman Vaterland ohne
Väter.
Die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung erscheint seit dem 27. März, dem
Leipziger Buchmessesamstag, und ist ein verlegerisches Unternehmen, das den Verkauf der in
München erscheinenden Tageszeitung befördern soll. Unter den 50 Bänden der
Weltliteratur, die innerhalb eines Jahres veröffentlicht werden sollen, sind allein
sieben Romane ostdeutscher oder osteuropäischer Autoren deutscher Sprache wie Günter
Grass (Danzig), Uwe Johnson (Cammin in Pommern), Franz Kafka (Prag), Eduard von
Keyßerling (Estland), Wolfgang Koeppen (Greifswald), Siegfried Lenz (Lyck in Masuren) und
Rainer Maria Rilke (Prag).
Die Literatur Schlesiens war in Leipzig mit acht Titeln vertreten. So erschien bereits
1999 im Dresdner Universitätsverlag der auf dieser Buchmesse wieder ausgestellte
Prachtband Martin Opitz. Orte und Gedichte über den schlesischen
Barockdichter (1597-1639), der 1624 mit seinem Buch von der deutschen Poeterey
von sich reden machte und später zum angesehenen Diplomaten und Gelehrten aufstieg. Der
Band ist das Begleitbuch zu einer Ausstellung, die die Landesbibliothek Oldenburg 1997 zum
400. Geburtstag des Dichters veranstaltet hat. Im Berliner Aufbau-Verlag wächst die von
Frank Hörnigk und Julia Bernhard betreute Arnold-Zweig-Ausgabe, von der mit dem Roman
Einsetzung eines Königs (März 2004) bereits neun Bände vorliegen. Wie der
Verlag mitteilt, erscheint dieser Band aus dem Grischa-Zyklus in der authentischen
Fassung von 1937 ... ohne die Eingriffe der DDR-Zensur. Die Rundbriefe einer
Breslauer Mädchenklasse 1944-2000, zuerst 2002 ediert von Juliane Braun, gibt es jetzt
als Aufbau-Taschenbuch. Über Görlitz, die größte und schönste Stadt Schlesiens
westlich der Neiße, erscheint im Bautzener Lusatia-Verlag der Erinnerungsband
Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft des Schlesiers Michael
Guggenheimer, der in Zürich lebt. Dem Literaturkritiker Günter Gerstmann aus Jena ist es
gelungen, eine Neuauflage des 1953 zuerst erschienenen Tagebuchs Bin ich noch in
meinem Haus? Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns von Gerhart Pohl (Herne 2003) zu
veranstalten, und im Dresdner Hellerau-Verlag erschien Manfred Altners Buch Gerhart
Hauptmann in Dresden und Radebeul. Auch das Deutsche Kulturforum östliches Europa
in Potsdam tritt mit einer Buchreihe an die Öffentlichkeit, in der erschienen von Arne
Franke Das schlesische Elysium. Schlösser, Burgen und Parks im Hirschberger
Tal und von Roswitha Schieb Literarischer Reiseführer Breslau. Sieben
Stadtspaziergänge.
Bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung in Dresden wird kostenlos ein
Buch mit dem merkwürdigen Titel Misericordia Bohemiae abgegeben, auf das
besonders aufmerksam zu machen ist. Der Autor Karlheinz Filipp ist 1941 in
Weißkirchlitz/Böhmen geboren und beschreibt, der Untertitel Große Geschichte und
kleine Leute deutet es an, das Leben seiner Vorfahren bis zu den Urgroßeltern im
19. Jahrhundert.
Die in Bonn ansässige Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen kündigt für dieses Jahr
einen weiteren Band der verdienstvollen Ostdeutschen Gedenktage (2003/04) an,
während eine zweibändige Werkausgabe des im böhmischen Trautenau geborenen Autors Josef
Mühlberger (1903-1985), ediert von Frank-Lothar Kroll, bereits erschienen ist. Und im
Berliner Westkreuz-Verlag gibt es nicht nur unter dem Titel Unvergessene
Heimat einen bezaubernden Text-Bild-Band über den Kreis Oststernberg in der
Neumark, sondern auch die dritte Auflage des Buches von Wolfgang Stribrny und Fritz Zäpke
über Frankfurt/Oder (1992) aus der Städtereihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat.
Deren von Wilfried Schlau herausgegebene Studienbuchreihe Vertreibungsgebiete und
vertriebene Deutsche wird in diesem Jahr abgerundet durch Ortfried Kotzians Band
Die Umsiedler. Die Deutschen aus Westwolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien,
der Dobrudscha und in der Karpatenukraine.
Schließlich hat die seit Jahren anhaltende Diskussion um Flucht und Vertreibung ein
deutsch-polnisches Sammelwerk entstehen lassen. Editorisch betreut von Dieter Bingen wird
gefragt: Vertreibung europäisch erinnern? (Verlag Harrassowitz, Wiesbaden).
Zu dieser Frage fand auf der Messe auch eine Podiumsdiskussion statt.
Jörg Bernhard Bilke (KK)
KK1185 S. 19
Malheimaten
Mancher aus dem Osten findet postum in Wuppertal eine zweite
Im Von der Heydt-Museum der Stadt Wuppertal wird seit Jahren ein Repertoire
periodischer Ausstellungen verwirklicht, das man auch anderen deutschen Museen und einem
großen Publikum wünschte. Museumsdirektorin Dr. Sabine Fehlemann veranstaltet in ihrem
Haus und in der Zweigstelle in Barmen Ausstellungen, die einen Bogen von der Kunst der
Klassischen Moderne bis zu den Alten Meistern schlagen. Genannt seien El Greco bis
Mondrian ( 1996) und Von Rysdael bis Monet , Chagall, Kandinsky (2002).
Natürlich kommen auch Künstler der Gegenwart zu Wort. Aber oberstes Gebot ist
künstlerische Qualität, nicht modische Tendenzen, wie man ihnen seit Jahrzehnten in
privaten Galerien, aber auch in Museen begegnet. Im Von der Heydt-Museum präsentierten
sich in Einzel- und Gruppenausstellungen Carl Barth, Kurt Nantke, Hans Dost, Gustav
Wiethüchter, Wilhelm Mundt, der Bildhauer Stephan Balkenhol und Otto Greis, der
Informelle, der wie der Westpreuße Bernard Schultze der Quadriga angehörte,
sowie Vertreter der Konkreten Kunst in einer internationalen Schau. Es ergab sich auch
Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Van Gogh-Museum, Privatsammlungen in der Schweiz, dem
Historischen Museum Pfalz zu Speyer, dem Museum der Bildenden Künste zu Leipzig, der
Sammlung Leopold in Wien u. a.
In der alten Bundesrepublik, wo die Blicke von Museumsleitern und Galeristen weitgehend
auf die USA eingestimmt waren, kaum auf Osteuropa, waren die Beziehungen von Sabine
Fehlemann zu Rumänien, Ungarn und Rußland geradezu sensationell. Das Nationale
Kunstmuseum Bukarest entlieh dem Wuppertaler Museum 1994 Meisterwerke von Cranach
bis Monet, das Museum der Bildenden Künste Budapest Werke von Rembrandt, Rubens und
van Dyck unter dem Ausstellungstitel Italien Sehnsucht nordischer
Barockmaler (1995). Und aus dem Staatlichen Russischen Museum Sankt Petersburg
folgten Rot in der russichen Kunst (1999) und Futurismus in
Rußland (2000).
Eine besondere Beachtung fanden im westlich orientierten Rheinland die Ausstellungen
ostdeutscher Maler,Grafiker und Bildhauer, ob es sich nun um ostdeutsche Klassiker oder
aus dem Osten stammende, in die Bundesrepublik vertriebene oder übersiedelte Künstler
handelte. Im Vordergrund stehen die Maler der Dresdner Brücke Max Pechstein, Karl
Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirhner, Erich Heckel. Neben Sachsen waren in Wuppertal
Schlesien, Ostpreußen, Pommern, das Sudetenland vertreten: Oskar Moll, Bernhard Heiliger,
Lovis Corinth, Otto Dix, Max Beckmann, Conrad Felixmüller, Markus Lüpertz, Jörg Herold
und Bernard Heisig, der seit den 80er Jahren besonders an der Darstellung der Opfer von
Gewalt interessiert war, darin vergleichbar jüdischen Malern wie etwa Felix Nußbaum und
Max Liebermann.
Nun findet im Von der Heydt-Museum bis zum 24. Mai eine Max Liebermann (1847-1935)
gewidmete repräsentative Ausstellung statt. In den Eröffnungsansprachen wurde die
herausragende Bedeutung dieses Künstlers unterstrichen; neben dem
Oberbürgermeister Dr. Hans Kremendahl und der Museumsdirektorin sprachen der Vorsitzende
der Max-Liebermann-Gesellschaft Berlin, Prof. Dr. Rolf Budde, und der Generaldirektor der
Staatlichen Museen Berlin und Direktor der Nationalgalerie, Prof. Dr. Peter-Klaus
Schuster.
Die Ausstellung der 90 Exponate aus bedeutenden privaten und öffentlichen Sammlungen
darunter vier aus dem Besitz des Wuppertaler Museums dokumentieren die
stilistische Entwicklung des Malers. Liebermann ist der wichtigste Vertreter des deutschen
Impressionismus mit einer persönlichen Handschrift und setzt sich namentlich, was die
Farbnuancen betrifft, von den französischen Kollegen ab, obwohl er ausgedehnte Reisen
(1873-1879) nach Paris und Barbizon, dem Zentrum des Impressionismus, gemacht hat. Zur
Malheimat wurden ihm die Niederlande, wo er während 40 Jahren im Sommer
Studienaufenthalte verbrachte. Hier werden Bauern und Handwerker, Menschen im
Straßenalltag und in den Armen- und Waisenhäuser seine Modelle. Es sind Bilder ohne
soziale Anklage. Dazu paßt der Untertitel der Ausstellung: Poesie des einfachen
Lebens.
In Berlin,wo Liebermann der großbürgerlichen Gesellschaft angehört, entstehen neben
Porträts angesehener Persönlichkeiten, seiner Familie und Selbstbildnissen neue Themen
wie Pferderennen, Polospieler, Badeleben an Stränden, Szenen vom Tennissport usw. Diese
Motive entsprechen nicht nur seinem Großstadtmilieu Vater Louis Liebermann ist
Industrieller und mehrfacher Millionär und sein Haus liegt in bester Gegend am
Brandenburger Tor -, sondern auch seinem Stil: Eindruck (Impression) der Bewegung, Form
und Farbe.Von den Braun- und Grautönen, die in den Gemälden der Ausstellung reich
vertreten sind, entwickelt sich Liebermanns Palette zu immer helleren Farben. Allerdings
erreichen sie nicht die Farbnuancen der französischen Impressionisten. Auch die laute
Farbigkeit der aufkommenden Expressionisten haben Liebermanns Alterswerk nicht erreicht,
noch weniger die neue formale Gestaltung.
Auf ästhetischem Gebiet war der Kunst Liebermanns mit dem nazistischen Begriff
entartet nicht beizukommen. So mußten rassistische Argumente zur
Verunglimpfung des Meisters des deutschen Impressionismus herhalten. Die Eltern des Malers
waren Juden mit Stolz und Preußen mit Leib und Seele, was ihnen selbstverständlich
und keineswegs unvereinbar zu sein schien (Wolfgang Koeppen, 1961). Um der drohenden
Entlassung durch die Nazis zuvorzukommen, legte der Künstler 1933 die
Ehrenpräsidentschaft der Preußischen Akademie der Künste nieder und erklärte seinen
Austritt. Zwei Jahre nach der Machtergreifung durch die Nazis starb Max
Liebermann. In den folgenden Jahren wurden seine Werke aus den deutschen Museen entfernt
(Nationalgalerie Berlin, Hamburger Kunsthalle, Münchener Staatsgalerie, Düsseldorfer
Städtisches Kunstmuseum).
Das Von der Heydt-Museum präsentiert bis zum 23. Mai einen Höhepunkt der deutschen Kunst
der modernen Klassik, eine Ausstellung, die sicherlich auch konservativen Besuchern Freude
bereiten wird. Doch darüber hinaus liefert sie und das gerade heute,da die Medien
wiederholt Rückblicke in das Geschehen der ruchlosen Jahre werfen auch
Diskussionsstoff zur Kulturpolitik im Dritten Reich. Daß ausgerechnet Liebermanns
Schaffen, in dessen Mittelpunkt (nach Aussage des Künstlers 1880) die Poesie des
einfachen Lebens stehen soll, mit dem Begriff entartet diffamiert wurde,
spiegelt die perfide, aber auch dumme und verdummende Politik des Nazi-Regimes wider.
Günther Ott (KK)
KK1185 S. 21
Pädagogischer Arbeitskreis Mittel- und Osteuropa tagt
Auf den Heiligenhof in Bad Kissingen lädt der Pädagogische Arbeitskreis
Mittel- und Osteuropa (PAMO) vom 31. Mai bis zum 3. Juni 2004 zu einer Studientagung
Tschechen und Deutsche Verständigung durch Begegnung ein. Sie wird in
Verbindung mit dem Willi-Wanka-Kreis durchgeführt. Gemeinsam mit anderen Referenten wird
Professor Dr. Schödl von der Humboldt-Universität das Zentrum gegen Vertreibungen als
Element von Verständigung und Versöhnung prüfen. Dr. Fritz-Peter Habel erläutert,
inwiefern es 1938 zu einer Vertreibung der Tschechen kam, und Sidonia Dedina
begründet, weshalb ihr Buch über Benesch als dem Liquidator der Sudetendeutschen einer
Fortsetzung bedarf. Das ist nur ein Teil des überaus interessanten Programms der Tagung,
die von Dr. Rudolf Pueschel aus Mountain View geleitet wird. Programm und Anmeldungen
unter Telefon 0 69 / 85 39 94.
(KK)
KK1185 S. 22
Ich Tarzan. Du ...
Das Donauschwäbische Zentralmuseum erinnert an Johnny Weißmüller
Am 2. Juni wäre der vermeintlich ewig junge Tarzan-Darsteller Johnny
Weißmüller (1904-1984) 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß zeigt das
Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm eine Ausstellung über das Leben des weltberühmten
Schwimmers und Schauspielers. Es ist die einzige Ausstellung im deutschsprachigen Raum.
Zur Eröffnung wird sein Sohn Johnny Weissmüller jr. nach Ulm kommen.
Um Johnny Weissmüller ranken sich zahlreiche Mythen und Legenden, in fast allen
Biographien finden sich fehlerhafte Informationen. Er selber hat dazu beigetragen, seine
Herkunft zu verschleiern und die Umstände einer unglücklichen Jugend in einer
Immigrantenfamilie zu verschweigen.
Als Hans Weiszmüller ist er am 2. Juni 1904 in Freidorf im Banat zur Welt gekommen, ins
Taufregister wurde die ungarische Form János eingetragen. Freidorf war eine Ortschaft mit
mehrheitlich deutscher Bevölkerung im damaligen Ungarn. Weissmüllers Eltern waren
Deutsche, deren Vorfahren im 18. Jahrhundert aus der Pfalz dorthin ausgewandert waren.
Heute ist Freidorf ein Stadtteil von Temeswar/Timisoara in Rumänien.
Wie viele andere Banater Schwaben wanderte die Familie 1905 in der Hoffnung auf eine
bessere Existenz nach Amerika aus. Doch in der neuen Welt brach sie auseinander, und Hans,
der jetzt Johnny hieß, mußte als Kind zum Lebensunterhalt beitragen. In Chicago
trainierte er in einem Schwimmverein. Sein sportliches Talent wurde entdeckt und
gefördert. Mit seinem individuellen Schwimmstil erzielte Weissmüller zunächst regionale
und später auch nationale Erfolge. Er war der erste Mensch, der die 100-Meter-Distanz
unter einer Minute schwamm, und er war der erfolgreichste Schwimmer in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Bei den Olympischen Spielen in Paris 1924 und Amsterdam 1928 gewann
er insgesamt fünf Goldmedaillen für die amerikanische Nationalmannschaft. In seiner
sportlichen Karriere stellte Weissmüller 28 Weltrekorde auf und gewann in den USA 52
nationale Meisterschaften.
Nach seiner Zeit als aktiver Sportler wurde Weissmüller von Hollywood entdeckt. Als
Tarzan gelangte der gutaussehende Athlet zu Weltruhm. Von 1932 bis 1948 spielte er in
zwölf Filmen die Rolle des guten Urwaldmenschen. Obwohl viele andere Schauspieler vor und
nach ihm als Tarzan auf der Leinwand zu sehen waren mit seinem unnachahmlichen
Schrei ging Johnny Weissmüller als bekanntester Tarzandarsteller in die Filmgeschichte
ein. Seine Filme wurden bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der ganzen Welt
gezeigt und vom Publikum begeistert aufgenommen
In den 50er Jahren spielte Weissmüller in Kinofilmen und Fernsehserien den Jungle
Jim. Er zehrte von dem Ruhm vergangener Zeiten und versuchte, seinen Namen als
Werbeträger zu vermarkten. In geschäftlichen Dingen unerfahren, verlor Weissmüller viel
Geld und arbeitete schließlich am Empfang eines Hotels in Las Vegas. Nach mehreren
Schlaganfällen starb er 1984 in Acapulco, wo er zuletzt von seiner Frau Maria gepflegt
wurde. Johnny Weissmüller war fünfmal verheiratet und hatte drei Kinder.
(KK)
KK1185 S. 23
Der Komponist Siegfried Matthus ist 70
Es war in den letzten Jahren etwas still geworden um den am 13. April 1934 in Mallenuppen
/ Ostpreußen geborenen Komponisten Siegfried Matthus.
In der DDR ein Vielaufgeführter, an der Komischen Oper Berlin unter Walter Felsenstein,
seinem Regietheater-Idol, gar eine Art Haus- und Hofkünstler bedeutete der Mauerfall ein
zweiseitiges Ermüden: hier eines der schöpferischen Kräfte, dort eines der Akzeptanz
beim Publikum. Sein 1998 entstandenes Musiktheaterstück Farinellisorgte nur
kurz für Aufmerksamkeit. Zudem ließ die zu neuen Ufern strebende Moderne den eher auf
Tradition bedachten gebürtigen Ostpreußen eher links liegen. Matthus zog es ins
idyllische Rheinsberg nahe Berlin, wo er sich fortan verstärkt administrativen
Tätigkeiten im Zusammenhang mit der von ihm gegründeten Kammeroper Schloss Weinsberg
widmete.
Fast punktgenau zu seinem 70.Geburtstag wurde an Ostern 2004 seine Oper Die
unendliche Geschichte im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt; als
literarisches Tableau diente der gleichnamige Roman von Michael Ende.
Siegfried Matthus studierte nach dem Zweiten Weltkrieg Komposition bei Rudolf
Wagner-Régeny und war Meisterschüler von Hanns Eisler. Als freischaffender Komponist war
Matthus sowohl Mitglied der Akademie der Künste der DDR als auch der Akademie Berlin
(West) sowie der Bayerischen Akademie der Künste.
Aus seinem umfangreichen Schaffen ragen vor allem die Werke für Musiktheater heraus (von
1964 1999 entstanden zehn Opern): allen voran die Rilke-Oper Die Weise von
Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, die Hebbel-Oper Judith (1985)
und Graf Mirabeau (1989).
(KK)
KK1185 S. 23
KK-Notizbuch
Die Sendung Alte und neue Heimat des Westdeutschen Rundfunks, jeweils
sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, bringt am 16. Mai eine Erinnerung an einen
2. Deutschen Staat von Lutz Rathenow. Am 23. Mai thematisiert Ulrike Gropp
deutsch-polnische Literaturbeziehungen, und am 30. Mai berichtet Birte Detjen über
Rußlanddeutsche im Rayon Asowo.
Die Bonner Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Schlesischen Museum zu Görlitz und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz im Internationalen Begegnungszentrum St. Marienthal in Ostritz/Neiße vom 15. bis zum 17. Juni eine kunstgeschichtliche Fachtagung über Kunsthistoriker und Denkmalpfleger des Ostens. Auskünfte unter Telefon 02 28 / 9 15 12 16 oder www.kulturstiftung-der-deutschen-vertriebenen.de.
Das Institut für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte, Regensburg, widmet seine 42. Arbeitstagung vom 26. bis zum 29. Juli im St. Wenzeslaus-Stift in Jauernick dem Thema Migration und kirchliche Praxis. Näheres unter Telefon 09 41 / 5 95 32 25 23.
Die Sudetendeutsche Stiftung und die Sudetendeutsche Landsmannschaft verleihen ihre Kulturpreise 2004 anläßlich des 55. Sudetendeutschen Tagsin festlichem Rahmen am 28. Mai um 19 Uhr in der Meistersingerhalle zu Nürnberg. Der Großen Sudetendeutschen Kulturpreis erhält in diesem Jahr Peter Glotz.
In Dresden sind bis zum 4. Juni die Ausstellungen Breslau. Augenblicke einer Stadt mit Fotografien von Mathias Marx (s. auch S. 5) und Die Geburt einer Großstadt. Architektur im Bild von Mährisch-Ostrau 1890-1938 im Lichthof des Rathauses zu sehen.
Professor Oskar Gottlieb Blarr, der Komponist und Musiker, der mit seinem Schaffen nicht nur die ostdeutsche und die Düsseldorfer Musikszene lebhaft geprägt hat, ist am 6. Mai 70 Jahre alt geworden.
Eine Gedächtnisausstellung mit Werken des rußlanddeutschen Malers Theodor Herzen veranstaltet der Verein Zusammenarbeit mit Osteuropa im Bürgerhaus Hürth.
Matthias Kneipp liest am 13. Mai im Münchner Haus des Deutschen
Ostens aus Grundsteine im Gepäck.
(KK)