KK1178 2003-12-20

 

Seite 02  Siehe auch Teil (I)
„Exportschlager“ deutsche Sprache (II)
Auf dem Prager Hradschin ist ein „Zimmer frei“

Das war zu erwarten – daß im Goldenen Prag jemand einen prominenten Wechsel mit dem alten und deutsch formulierten Witz „Zimmer frei“ kommentiert. So war es 1990, als die Tschechen die Kommunistische Partei entmachtet hatten und nun in deren Immobilien viele „Zimmer frei“ waren. So war es auch im Januar 1996, als Gerd Albrecht, bis dahin deutscher Dirigent der Tschechischen Philharmonie, förmlich hinausgeekelt worden war – was die „Lidové noviny“ (Volkszeitung) mit einer Karikatur würdigte: Ein Gebäude mit der Aufschrift „Ceská Filharmonie“, davor eine Tafel „Zimmer frei“. Und jetzt ist es Anfang Februar wieder geschehen, als Staatspräsident Václav Havel seine Amtsräume im Prager Hradschin verließ. Das kam der Künstlergruppe „Podebal“ gerade recht: Unter dem Slogan „Zimmer frei“ lief gerade ihre Aktion, auf die große Zahl Prager Häuser zu verweisen, deren einst unrechtmäßige Enteignung noch immer nicht aufgehoben ist. Jetzt weitete Podebal die Sache einfach bis zum Hradschin aus, was zwar milden Ärger mit der Polizei gab, aber auch herrliches Aufsehen in der ganzen Stadt. Details im Internet unter www.podebal.cz

An sich ist „Zimmer frei“ ein in ganz Osteuropa frequenter Werbeslogan für touristische Herbergen. In Kroatien machte mit „zimerfraj.com“ eine ganze Firmengruppe Reklame, wenig erfolgreich, so daß sie schließlich Pleite ging. Mehr Erfolg hatte vor langen Jahren die Prager Popgruppe „Petrka & spol.“ mit ihrem witzigen Song „Zimmer frei“, der sich in herrlich deutsch-tschechischer Sprachmischung über Deutsche freundlich lustig machte. Wobei der „Aufhänger“ nicht schlecht gewählt war: Ein „cimer“ (femininum „cimerka“) ist beispielsweise bei Südslaven jemand, mit dem man auf Zeit das Zimmer teilt, etwa im Internat für Studenten. Will sagen: Das Wort ist bekannt und gut eingeführt – wie zehntausende weitere.

Besonders eifrige Wortimporteure waren die Tschechen, deren Reich der „fränkische“ Kaufmann Samo im 7. Jahrhundert gründete. Von da ab hatten die Deutschen eine gewisse Sonderstellung, die einige frühe tschechische Chronisten (Cosmas, Dalimil und viele andere) immer wieder zu Ausfällen gegen sie provozierte. Später wurde solches als Zeichen eines „typisch tschechischen“ Deutschenhasses angesehen, was die frühen Deutschen nicht fanden. Ansonsten hätten sie den Dalimil nicht übersetzt und 1389 als „Di tutsch kronik von behemlant“ herausgebracht. Noch lässiger hielt es die damalige Literatur, die entweder gleich aus deutschen Vorbildern schöpfte oder sich der Volkssprache bediente, in der Germanismen zuhauf vorkamen – nicht nur in den berühmten „šprochy“ (Sprüchen). Deutsches Wortgut war und blieb so frequent, daß der große Kirchen- und Schriftreformer Jan Hus 1412 in einer Auslegung der zehn Gebote heftig dagegen wetterte: hantuch, šorc (Schürze), knedlík (Knödel), trepky (Treppen), hausknecht, forman (Fuhrmann) waren dabei nur einige von vielen Wörtern, die ihn störten. Genützt hat es nichts. „Knedlíky“ werden noch heute zu fast jedem tschechischen Essen serviert, und schon 1631 hatte Hus’ großer Landsmann, der Schulreformer Jan Amos Komenský (Comenius), keine Bedenken, „Paradies“ mit „lusthaus“ zu umschreiben.

Daß die tschechische Sprache später zur „Dienstboten-Sprache“ herabsank, hatte nur scheinbar soziale Ursachen, denn die Deutschen mögen sich zwar überlegen gefühlt haben, sie waren es aber nicht. Die Armut auch unter den Sudetendeutschen war groß, und das hat Deutsche und Tschechen ja auch wieder zusammengebracht. Beispielsweise bei der schweren Arbeit in Bergwerken von Príbram und anderswo, wo bis zum Ersten Weltkrieg fast ausschließlich Deutsch gesprochen wurde. Und sprachlich hat sich daran später wenig geändert, wie bis heute die tschechische Bergterminologie beweist: bindloch, špermasy, gruntštreka, veteršachta etc. Deutsch war für Tschechen so etwas wie eine Zweitsprache, die zur Kommunikation in der ganzen Habsburger Monarchie befähigte. Darum haben auch die Schöpfer der modernen tschechischen Hochsprache (J. Dobrovský, J. Jungmann u.a.) ihre grundlegenden Werke auf deutsch verfaßt. Und zwar in „richtigem“ Deutsch, nicht in dem berüchtigten „utraquistischen“ oder „makkaronischen“ Deutsch, einem deutsch-tschechischen Mischmasch, der noch im späten 19. Jahrhundert die vorherrschende Sprachkonvention in tschechischen Städten war. Nur in Regionen wie der Prager „Kleinseite“ hatte sie viel Charme, und auf Grete Reiners unsterblicher Übersetzung in dieses „Kleinseitener Deutsch“ beruhte nach 1920 ja auch der Welterfolg von Jaroslav Hašeks „Bravem Soldaten Švejk“.

Das alles weiß natürlich auch Václav Havel, und er hat sich stets zu den Geistesgrößen seines Volkes bekannt, allen voran zu Petr Chelcický, einem Geistlichen aus dem frühen 15. Jahrhundert, von dem er auch sein Lebensmotto „In der Wahrheit leben“ entlieh. Und Havel wußte auch, wie die spezifische deutsch-tschechische Wechselseitigkeit ein vorläufiges Ende fand – durch die Vertreibungen 1945/46. Über die ist in Deutschland viel geschrieben worden, was aber alles nicht im entferntesten an die akribischen Dokumentationen des Tschechen Tomáš Stanek (Jahrgang 1952) heranreicht. Was Stanek beschrieben hat, wollte Havel auf seine Weise wiedergutmachen, aber beide wurden weder von der tschechischen noch von der deutschen Seite verstanden. Man streitet sich, verlangt von der jeweils anderen Seite Unmögliches wie die Ungültigmachung des Münchner Abkommens „von Anfang an“ oder die „Streichung der Beneš-Dekrete“, und weiß im Grunde nicht, was man da fordert: Ein „von Anfang an ungültiges“ München würde Abermillionen Rechtsakte ebenfalls ungültig machen – eine Streichung der über 130 Dekrete des Präsidenten Beneš, von denen nur zwei oder drei die Deutschen betrafen, würde die gesamte tschechoslowakische Nachkriegsordnung über den Haufen werfen. [Dies ist dumme Haarspalterei: Wenn die Sudetendeutschen die Aufhebung „der Beneš-Dekrete“ fordern, dann meinen sie selbstverständlich die völkerrechtswidrigen Enteignungs- und Entrechtungsdekrete, nicht alle Erlasse, die das Gemeinwesen neu regeln sollten. ML 2004-01-14]

Václav Havel hat derartige Streitereien einmal treffend als „blbá naláda“ (blödsinnige Stimmung) verurteilt, damit aber vorwiegend die eigenen Landsleute gemeint. Sein Deutsch war noch schlechter als sein Englisch, was ihn aber nie hinderte, mittels der vielen Germanismen, die es im Tschechischen nach wie vor gibt, rhetorische Meisterwerke zu liefern. Unvergessen bleibt etwa seine große Rede vor dem Deutschen Bundestag im April 1997, als er ein Kolleg über den Begriff „Heimat“ hielt und als „Heimat“ die staaten- und völkerübergreifende Gemeinschaft mündiger Bürger ausmalte. Auch deutsche Selbstcharakterisierungen hatte er mitbekommen, etwa daß die Deutschen ein „hospodárský obr, politický trpaslík“ seien, ein „wirtschaftlicher Ober (= Riese) und politischer Zwerg“. In anderen Äußerungen bewies er beste Kenntnis aktueller deutscher Entwicklungen – wenn er etwa die Dauerreibereien zwischen „Ossis“ und „Wessis“ aufgriff. Havels hauptsächlicher Horror war die „glajchšaltace“ (Gleichschaltung), die er immer angriff, ob sie nun ideologischer, nationalistischer oder sonst einer Art war. Was kommt nach ihm?

Verblüfft registrieren die Tschechen, in welch höchstem Ansehen ihr Präsident im Ausland stand, wie sehr man ihn dort vermißt – ganz besonders bei den Deutschen. In Tschechien ist das nicht so, was Havel immer wußte, aber nie sonderlich ernst nahm. Es ist ja auch nicht ernst zu nehmen, wenn man etwa das Hickhack um seine Nachfolge sieht: Gewonnen hat der erklärte EU-Gegner Václav Klaus, geholfen haben ihm die erklärten Deutschenhasser von der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens. „Tomu se ríká ordnung“ (das nennt man Ordnung), seufzte entsetzt die Prager Wochenzeitung „Týden“. Als sich gar um die Havel-Nachfolge auch der Sänger Karel Gott bewarb, konnte der unbestechliche „Respekt“ nur noch hauchen: „Gott mit uns“. Nein, sind sich tschechische Medien einig, was gerade in Prag und Umgebung abläuft, ist kein „majstrštyk“ (Meisterstück).

Sollte da ziemlich viel Heuchelei im Spiel sein? Die Zeitung „Lidové noviny“ – vor 15 Jahren das führende Blatt im tschechischen antikommunistischen Widerstand, dem sogar US-Präsidenten Exklusiv-Interviews gaben – läßt seit Monaten ihre Leser zu Wort kommen, wie sie zu Havel und seinem Nachfolger stehen (www.lidovky.cz/chat). Ich verfolge diese Meinungen seit langem, aber ein günstiges Urteil über den scheidenden Präsidenten habe ich noch nicht gefunden. Ich finde das bedauerlich und blamabel für die Tschechen, aber etwas anderes interessiert mich mehr: In dieser Debatte spielt die deutsche Sprache eine mehrfache Rolle. Zum einen dient sie als Lieferant von Schimpfwörtern: Havel war ein „lump“, Klaus ist ein „oberkašpar“, Havel hat es mit den Deutschen gehalten, die mich 1942 als „cechišer švajne-hund“ (tschechischer Schweinehund) beschimpft haben, mit dieser Meinung klang mein Vorredner verdächtig „Deutsch“ etc. Zum zweiten kommen deutsche Wörter in ihrer spezifisch tschechischen Phonetik daher: „ksicht“ oder „xicht“ (Gesicht), „kšeft“ (Geschäft) und ähnlich weiter. Zum dritten wechseln manche Diskutierer gleich völlig in die deutsche Sprache über, um ungehemmter schimpfen zu können: „Sie blöde Ente“, „lassen Sie sich ihr Schulgeld zurückgeben“, „das ist doch Perlen vor die Säue werfen“, „geben Sie mit Ihrem Deutsch nicht so an, bei Ihren Fehlern“.

So etwas kann mich nur als leidenschaftlichen Sammler von Germanismen in osteuropäischen Sprachen begeistern. Ansonsten aber möchte ich unseren Nachbarn lieber sagen: „Hergot“ und „krucifiks“ – es ist nicht „nóbl“ (nobel), wenn ihr für Václav Havel ein „šmirbuch“ (Schmierbuch) anlegt. Mit so etwas könnt ihr in der restlichen Welt, die euren Ex-Präsidenten aus gutem Grund achtet, keinen „štych“ (Stich) machen!

Wolf Oschlies (KK)

 

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Literatur im künftig vereinten Europa
Deutsch-slowakischer Literaturaustausch in Düsseldorf

Das diesjährige Literaturforum Ost-West war den deutsch-slowakischen Literaturbeziehungen gewidmet. In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, dem Literaturbüro Nordrhein-Westfalen und dem Kulturamt der Stadt Düsseldorf führt das Gerhart-Hauptmann-Haus diese literarische Veranstaltungsreihe bereits seit 1989 durch. In diesem Jahr beteiligte sich auch das Heinrich-Heine-Institut als Mitveranstalter.

Im Kontext des bevorstehenden EU-Beitritts der Slowakei fanden die Bewahrung der kulturellen Vielfalt und der Stellenwert der Literatur im künftig vereinten Europa besonders viel Aufmerksamkeit von Seiten der Literaturschaffenden aus Deutschland und der Slowakei. Im Rahmen von Vorträgen, Lesungen und Diskussionsrunden wurde deutlich, daß die Literaturlandschaft beider Kulturen seit der „Wende“ gravierende Änderungen durchgemacht hat.

Besonders aufschlußreich war das traditionelle Werkstattgespräch, das – wie Dr. Walter Engel, Direktor des Gastgeberhauses, betonte – „ganz im Sinne von Martin Walser nur freundliche Gespräche“ bescherte. Schwerpunkte des von Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann, Dr. Walter Engel und Michael Serrer moderierten Austausches waren u. a. die Funktion von Literatureinrichtungen gestern und heute, die Vielzahl der bekannten und vor allem auch der „geheimen“ Gruppierungen in beiden Ländern, das Problem der „Boulevardisierung“ der Literatur in der Slowakei sowie die Schwierigkeiten der slowakischen Schriftsteller, Übersetzer und Verleger, unter den Bedingungen der Marktwirtschaft zu leben und kreativ tätig zu sein.

Das umfangreiche Programm des diesjährigen Literaturforums enthielt „Tandem“-Lesungen mit der Beteiligung von Peter Härtling – dem Träger des Deutschen Bücherpreises – und Anton Hykisch, von Prof. Dr. Ján Zambor und Dr. Roland Koch, von Anna Ondrejková und Lutz Rathenow, von Ingrid Bachér und Dr. Ivan Laucik sowie von Dr. Etela Farkašová und Rolfrafael Schröer. Informative Vorträge von Dr. Etela Farkašová, Prof. Dr. Joseph A. Kruse, Dr. Milan Žitný und Dr. Ondrej Pöß erörterten Rezeptionsfragen sowie den deutsch-slowakischen Literaturaustausch im europäischen Kontext.

Bis zum 30. November war im Gerhart-Hauptmann-Haus eine Buchausstellung unter dem Motto „Deutsch-slowakische Literaturbeziehungen“ zu besichtigen.

Dieter Göllner (KK)

 

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Vertriebenenpolitik der Zukunft
Expertentagung von Hanns-Seidel-Stiftung und Sudetendeutscher Landsmannschaft

Im Haus des Sudetendeutschen Priesterwerks St. Johann in Brannenburg am Inn führten die Hanns-Seidel-Stiftung und die Sudetendeutsche Landsmannschaft vom 14. bis zum 16. November ein Expertenseminar „Vertriebenenpolitik in der Zukunft“ durch. Siebzig Teilnehmer diskutierten mit den Referenten Professor Dr. Heinrich Pleticha (Böhmische Identität – historisches Beispiel für Regionalismus durch die Jahrhunderte), Verleger Klaus Gallas (Das Identitätsbewußtsein der aus Kleinasien stammenden Griechen), Angelika Fox vom Institut für Bayerische Geschichte (Die Sudetendeutschen im Westen), dem Direktor der Bohemia Troppau (Sudetendeutsche in Böhmen und Mähren), Prof. Dietrich Scholze (Die Selbstbehauptung der Sorben innerhalb deutscher Staatlichkeit) und Prof. Rudolf Lill (Die Selbstbehauptung der Südtiroler in Italien 1919 bis 2003). Alle Referenten betonten Überlebenswillen und Chancen von Volksgruppen und ihre starke emotionale Verbindung mit der angestammten Heimat und machten damit den Sudetendeutschen Mut. Zu den Zuhörern gehörte zeitweise auch der bekannte sudetendeutsche Kinder- und Jugendschriftsteller Otfried Preußler.

In den Vertriebenenverbänden gibt es inzwischen die zweite Generation, die Flucht und Vertreibung nicht mehr selbst erlitten hat. Seit der Wende haben sich die Heimatvertriebenen noch mehr als vorher als Brückenbauer nach Ostmitteleuropa bewährt. So geht es jetzt um eine zeitgemäße Vertriebenenpolitik des Ausgleichs und der Versöhnung. Dies unterstrich eine von Bernd Rill geleitete, ins Publikum offene Podiumsdiskussion mit dem Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt MdEP, seinem Stellvertreter Matthias Sehling MdB, dem tschechischen Journalisten Milan Klenor, dem Generalsekretär der Ackermann-Gemeinde Raimund Paleczek und dem Leiter des Münchner Hauses des Deutschen Ostens, Dr. Ortfried Kotzian.

Der Europaparlamentsabgeordnete Posselt berichtete aus dem Alltag bei den europäischen Institutionen. Neben ihm und um ihn herum sitzen bereits jetzt Polen, Tschechen und Ungarn als Beobachter mit Rede-, aber bis zum 1. Mai kommenden Jahres noch ohne Stimmrecht. Aus Tschechien werde „Inland“ mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Schon jetzt müßten die Tschechen mit zwanzigtausend Richtlinien und Verordnungen der EU fertig werden. So sei für sie die größte Herausforderung nicht die Wirtschaft, sondern die Rechtsstaatlichkeit. Die Beneš-Dekrete bleiben als Problem erhalten, aber erstmals seit 1938 sitzen wieder Tschechen und Deutsche zusammen im selben Parlament. Die Vertrauensbildung ist die Voraussetzung für die Problemlösung. „Die veränderte Lage bringt veränderte Möglichkeiten.“

Der Prager Journalist Klenor setzt alle Hoffnung auf die heranwachsende politische Generation in seiner Heimat. „Die Alten haben ein Trauma. Es wird noch eine Generation dauern, bis die Deutschen voll akzeptiert werden.“ Der Bundestagsabgeordnete Sehling beklagte die mangelnde Unterstützung durch die rot-grüne Regierung. „Der Bundeskanzler will nicht über die deutsche Minderheit in Tschechien, geschweige denn mit der Sudetendeutschen Landsmannschaft sprechen.“

Übereinstimmend war man der Ansicht, daß die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach MdB, das Tabu, das sich um Flucht und Vertreibung rankte, gebrochen habe. Die Tschechen müßten in die Lage versetzt werden, eine Lösung zu wollen, in den europäischen Institutionen muß das Interesse an einer Lösung für die vertriebenen Sudetendeutschen geweckt werden. Neben der bayerischen Schutzmacht müssen die Vertriebenen für sich selber sprechen. Dazu gehört, so Paleczek und Kotzian, für die Zukunft ein neues Image. „Krakeler auf Sudetendeutschen Tagen machen jahrelange Arbeit kaputt.“ Es ist zu überlegen: „Wo liegen unsere Stärken, was bringen wir in Europa ein? Was tut unsere geistige Elite zum Beispiel an den Hochschulen? In den Kirchen, Medien und Vereinen müssen wir stärker gehört werden. Ihr Interesse an unseren Sorgen muß geweckt werden. Wir waren zu oft gegen etwas, wir müssen für etwas sein!“ Kirchliche und kommunale Patenschaften sind zu fördern.

Wichtig ist auch in Zukunft die Unterstützung der in Tschechien lebenden Minderheit. Bei der Volkszählung vor zwei Jahren bekannten sich 38 000 Einwohner zur deutschen Nationalität. Man schätzt jedoch, daß noch einmal so viele tschechische Staatsbürger auch einen deutschen Paß haben. Deutsche Handwerker, aber auch Ärzte erhalten Kredite bis zu einer Höhe von 30 000 Euro zum Existenzaufbau. Dazu kommt weiter die Unterstützung von Kindergärten und Seniorenheimen. Gefragt wurde nach der Rolle deutscher Unternehmer in Tschechien. Einige wenige investieren in ihren Heimatregionen, obwohl es sich dort derzeit finanziell nicht lohnt. Sie zeigen ihre emotionale Bindung an ihr Herkunftsgebiet.

Professor Lill wies nochmals darauf hin, daß der Nationalismus ein europäisches Problem sei und in mindestens zehn europäischen Ländern zum schauerlichen Höhepunkt von Flucht und Vertreibung geführt hat. Das wird heute auch offiziell so ausführlich diskutiert wie selten zuvor.

Es war das erste Mal, daß die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung eine Tagung in der vom Visitator der sudetendeutschen Katholiken, Pater Norbert Schlegel, geleiteten Einrichtung durchführte. Das gediegen-gemütliche Haus mit Blick auf die Alpen erwies sich allen Ansprüchen gewachsen.

Am Rande der Tagung wurde bekannt, daß das Haus der Bayerischen Geschichte für das Jahr 2007 eine Ausstellung „Bayern und Böhmen“ vorbereitet.

Norbert Matern (KK)

 

Seite 07
Schlesier neuer Nuntius in Berlin

Papst Johannes Paul II. ernannte am 25. November Erzbischof Dr. Erwin Josef Ender zum neuen Nuntius in Deutschland. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schickt der Vatikan einen deutschen Geistlichen, einen Schlesier, als Botschafter in die Hauptstadt Berlin. Erzbischof Dr. Erwin Josef Ender wurde 1937 in Steingrund in der damaligen Erzdiözese Prag, nachmalig Breslau, geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Familie nach Flucht und Vertreibung nach Westdeutschland. In Lüdinghausen im Münsterland wuchs er auf, studierte Theologie in Rom, wo er von 1959 bis 1966 am Deutschen Priesterkolleg, dem Päpstlichen Collegium Germanicum et Hungaricum, zum Priester ausgebildet wurde, 1965 wurde er dann zum Priester für das Bistum Münster geweiht, 1990 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof.

1970 trat Ender in den diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhls ein und begleitete als Leiter der deutschsprachigen Abteilung des Staatssekretariats den Papst auf mehreren Pastoralreisen nach Deutschland, Österreich, in die Schweiz und nach Liechtenstein. Er war zuletzt Nuntius in Prag, zuvor im Baltikum (Estland, Lettland, Litauen), wo er zugleich Leiter der Apostolischen Administratur Estland und damit Oberhirte der dortigen katholischen Minderheit war, davor versah er seinen Dienst in diplomatischen Verwendungen in Somalia am Horn von Afrika, im Sudan und in der Region des Roten Meeres. Mit dem Titel Ehrenprälat wurde er 1986 ausgezeichnet, und 1990 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Titularerzbischof von Germania in Numidien (Nordafrika).

Erzbischof Dr. Erwin Josef Ender folgt als Nuntius in Deutschland Erzbischof Dr. Giovanni Lajolo, der von Papst Johannes Paul II. zum Sekretär der zweiten Sektion des Staatssekretariats, die für die Beziehungen zwischen den Staaten zuständig ist, berufen worden ist.

Michael Ferber (KK)

 

Seite 08
Glaubensstark und wachsam
Zum 70. Geburtstag von Kardinal Joachim Meisner

Als vor 20 Jahren Joachim Meisner, damals Bischof von Berlin, der gewaltsam geteilten Diözese, zum Kardinal ernannt worden war, sagte Prälat Hubertus Thienel, der erste Apostolische Visitator für die Gläubigen der Erzdiözese Breslau: „Früher hat Schlesien seine Kardinäle importiert, ich meine die Kardinäle Georg Kopp und Adolf Bertram, die aus Niedersachsen nach Breslau gekommen sind, jetzt exportiert Schlesien seinen Kardinal nach Berlin.“ Man schrieb das Jahr 1983. Wir wissen, daß Joachim Kardinal Meisner (dies die offizielle Nennung) seit 1989 Oberhirte der Erzdiözese Köln ist. Am ersten Weihnachtstag 1933 wurde er in Breslau geboren, genauer in Deutsch Lissa, das mit seinen 5000 Einwohnern 1928 in die Hauptstadt Schlesiens eingemeindet worden war.

„In Köln zu Hause, in Breslau daheim“, so wird Kardinal Meisner gelegentlich zitiert. Erst wenige Wochen ist es her, daß der Kardinal in seiner Heimatkirche in Deutsch Lissa die Ernennung zum Domherrn des erzbischöflichen Breslauer Domkapitels feiern konnte. Ehrendomherr sei die zutreffende Bezeichnung, fügt der Kardinal gleich hinzu. Von der Theologischen Fakultät der Breslauer Universität war Meisner bereits mit der Würde eines Ehrendoktors ausgezeichnet worden, und Trebnitz, der Ort, wo die Heilige Hedwig, heute Schutzpatronin Schlesiens, ein Kloster gegründet und, ihre letzte Ruhestätte gefunden hat, ernannte den Kardinal zum Ehrenbürger.

Zeitungen titeln zu Kardinal Meisner: „Streitbar und papsttreu“, „Ohne realistische Diagnose keine helfende Therapie“, „Härte hinter Verbindlichkeit“, „Der Kirche ist das Mysterium verlorengegangen“, „Ein Mann, der Mitra und Sturzhelm trägt“. Manches mag überspitzt ausgedrückt sein, aber fest steht, daß der Kölner Erzbischof ein Mann ist, der sich ohne Scheu zu Wort meldet, wenn es um Gott, Christus, die katholische Kirche, wenn es um den Glauben in unserer Zeit einer überbordenden Säkularisation geht. Daß ein Erzbischof ein gläubiger, ein glaubensstarker Mann innerhalb der Hierarchie sein muß und ist, bedarf keines Kommentars. Aber keineswegs ist es so selbstverständlich, daß dieser Mann der Kirche nicht nur auf der Kanzel predigt und zu den Gläubigen spricht, sondern auch das Ja und das Nein in die Öffentlichkeit des Alltags einbringt, das jeweils im eigenen christlichen Glauben fundiert ist, den Kampf aufnimmt und zum Streit bereit ist. Das erregt Aufmerksamkeit und, wie angestrebt wird, Nachdenken und Bekenntnis. Da wird gefragt nach der Bedeutung und Wahrnehmung des C in den beiden sich christlich nennenden Parteien, da wird auch nach innen auf die katholischen Gemeinschaften der Laien kritisch geblickt, wo dies dem Kardinal geboten erscheint.

Als der Kardinal durch den Bundespräsidenten das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband erhielt, sagte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück in seiner Laudatio: „Die Erfahrung, als Zeuge der Kirche in einem totalitären Staat (Meisner hatte fast zehn Jahre seinen Bischofssitz in Ost-Berlin) zu leben, hat Ihre Haltung zu Rolle und Aufgabe der Kirche in der Demokratie mit geprägt.“ Ob in der Unfreiheit oder in der Freiheit, Meisner ist stets tapfer und wach. Er sorgt sich, um einen Bereich seines Tuns und Wirkens aufzugreifen, um die Familie in unserer Gesellschaft, in unserem Staat. Die Bedeutung der Familie als moralische und geistige Einheit ist noch zu achten.

In einer Biographie mit dem Blick auf die Zeit im Kölner Erzbistum heißt es: „Erst wollten ihn die Kölner als neuen Bischof partout nicht haben – sein Führungsstil galt ihnen als autoritär und er selbst als verlängerter Arm des Papstes in Deutschland. Längst ist dies anders geworden. Kardinal Meisner wäre damals lieber in Berlin geblieben.“ Allerdings kann man auch heute noch gelegentlich als schlesischer Landsmann des Kölner Erzbischofs hören: „Ihr Schlesier sagt vieles zu direkt, ohne höfliche Umschweife, und wollt jede Vieldeutigkeit aussparen!“ Im „Münchner Merkur“ hieß es vor kurzem: „Nach dem Tod des Fuldaer Erzbischofs Johannes Dyba gilt Meisner als der profilierteste Vertreter des konservativen Katholizismus. Dabei nimmt der Kölner Erzbischof harsche Kritik gelassen hin. ,Ich habe die Kirche nie anders erlebt, als daß ihr der Wind ins Gesicht geblasen hat‘.“ Als Meisner einmal nach seiner größten Sorge als katholischer Oberhirte gefragt wurde, sagte er spontan, das sei die Sorge um den Priesternachwuchs.

Mit elf Jahren hat Joachim Meisner mit der Mutter, der Vater war im Zweiten Weltkrieg gefallen, und drei Brüdern, er war der Zweitälteste, Breslau verlassen und kam nach Körner bei Mühlhausen in Thüringen, wo er auch mit 15 Jahren den Schulbesuch abgeschlossen hat. Es folgte die Ausbildung zum Bankkaufmann, aber dann eröffnete sich im Norbertinum in Magdeburg die Möglichkeit zum Abitur, ein Studium der Philosophie und Theologie folgten. Den Abschluß bildete, als Meisner schon längst als Theologe in kirchlichen Diensten der Diözese Erfurt/Meiningen stand, die Promotion 1969 an der Gregoriana in Rom. Mit 43 Jahren war er bereits Weihbischof der Diözese, den sein Weg anschließend nach Berlin und Köln führte.

Die biographische Skizze sei mit einem Zitat beschlossen: „Ich habe ein Bischofskreuz, das ist aus Eichenholz aus den heimischen Wäldern, aus den Oderwäldern. In diesem Kreuz ist noch einmal ein Nephrit eingelassen. Nephrit gibt es in Europa fast nur in Jordansmühl, das liegt in der Umgebung vom Zobten. Das war für uns in Breslau 40 Kilometer südwestlich unser Wetterberg.“ Heimat Schlesien – das ist für Kardinal Meisner nicht nur eine Aussage, sondern ein Bekenntnis der Treue.

Herbert Hupka (KK)

 

Seite 10
Vom Riesengebirge bis zur Atlantikküste
Paul Gerhard Eberlein 75 Jahre – Ein Schlesier und seine Zeit

75 Jahre und ein Lebenslauf zwischen Deutschlands Osten im Riesengebirge und Europas Westen an der Atlantikküste: Das sind nicht nur die ganz persönlichen Jahresringe des Pfarrers Dr. Paul Gerhard Eberlein, das sind auch 75 Jahre der Geschichte des kaum vergangenen 20. Jahrhunderts. Doch er wäre kein echter Schlesier, wenn er an diesem von außen mitbestimmten Lebensweg nicht kräftig selbst mitgestaltet hätte.

Vorgegeben war Paul Gerhard Eberlein das millionenfach erlebte Schicksal seiner Landsleute im Osten, als die Familie nach der Flucht vor dem Krieg nicht mehr in die Heimat zurückkehren konnte. Heimat war bis dahin das Pfarrhaus von Kupferberg (bei Janowitz) im Riesengebige gewesen, wo das sechste Kind von Helmut Eberlein und seiner Frau Hildegard am 18. Dezember 1928 geboren wurde.

Württemberg wurde 1945 seine neue Heimat, sein Abitur absolvierte er in Korntal und nach einem „diakonischen Jahr“ begann er das Studium der Philosophie und Theologie im Tübinger Stift. Da hatte ihn längst schon die Lust am Schreiben gepackt. Ahnung vom Zeitungmachen hatte er in den Semesterferien bereits beim „Schwäbischen Tagblatt“ gewonnen. Als die evangelischen Kirchen in Deutschland nach dem Krieg sich der Notwendigkeit einer guten Öffentlichkeitsarbeit bewußt wurden und in Bad Boll eine „Christliche Presse-Akademie“ einrichteten, belegte der angehende Pfarrer sogleich deren allerersten Grundkurs und setzte noch einen weiteren Kurs für Rundfunkjournalismus drauf.

Das zweite theologische Dienstexamen bestand Paul Gerhard Eberlein 1956 und entschloß sich gleich darauf 1957/58 zu einem Zusatzstudium an der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. 1961 promovierte er zum Dr. theol. im Fach praktische Theologie an der theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg.

Nur sieben Jahre blieb Dr.Eberlein mit seiner Ehefrau Monika geb. Fuchs auf seiner ersten Pfarrstelle in Crailsheim-Tiefenbach. Es lockte eine Aufgabe auf einer ganz anderen Ebene, als das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland ihm die Leitung der neu geschaffenen Informationsstelle in Stuttgart übertrug. Doch schon 1969 bot sich eine neue Herausforderung: Dr. Eberlein ging für fast zwölf Jahre als deutscher evangelischer Militärpfarrer nach Fontainebleau mit Dienstauftrag für Frankreich und Portugal. Französisch mußte der Altsprachler erst lernen, dafür kann er’s heute um so besser.

Diese Zeit eines nicht alltäglichen, weitgesteckten und abwechslungreichen Wirkens lief schließlich aus in die letzten Pfarrerdienstjahre in Reichenbach an der Fils 1981-1990 und anschließend in den Ruhestand in Schwäbisch Gmünd.

Ruhestand? „Ich habe immer gern wieder etwas Neues aufgebaut“, sagt der 75jährige nach seinen so spannenden beruflichen Stationen – und das kann er nicht lassen. Er widmete sich im letzten Jahrzehnt überwiegend schlesischen Themen. Damit und mit seinen Ehrenämtern in der Landsmannschaft Schlesien hat Eberlein den Bogen zurück geschlagen zu den Wurzeln im Osten. Allein 2003 war er viermal in Schlesien, besuchte polnische Gemeinden, führte zahlreiche Gespräche, predigte auf Einladung von Pfarrer Fober in der Christophoruskirche in Breslau und organisierte mit polnischer Beteiligung ein Symposion zur Frage der „Neuen Qualität“ der deutsch-polnischen Beziehungen. Einschlägiges leistete er auch als Herausgeber des Buchs mit Predigten, Vorträgen und Aufsätzen des Bischofs Hans von Keler. Schlesien im Gedächtnis zu behalten ist auch Ziel der Zweimonatszeitschrift „Schlesischer Gottesfreund“; deren Redaktionsausschuß Dr. Eberlein bis zum Anfang dieses Jahres vorgesessen hat, wie der Mitarbeit im Verein für schlesische Kirchengeschichte und weiterer Engagements mit Vorträgen, in Gremien und Organisationen.

Wenn es ihm nicht selbst Freude machen würde, vermöchte er wohl kaum die nötige Kraft dafür zu schöpfen. Auf daß es so bleibe: Ad multos annos, Paul Gerhard Eberlein!

Ursula Schmidt-Goertz (KK)

 

Seite 11
Provinzposse in der Haupt- und Weltstadt
Und leider viel mehr als das:

Namen ostdeutscher Herkunft sind offenbar für manchen Berliner Luft oder Stein des Anstoßes
Es atmet den Mief Altwestberliner Mentalität, die jeden verdächtigt hat, er wolle den Zweiten Weltkrieg nachträglich gewinnen, weil er Breslau statt Wroclaw oder Danzig statt Gdansk zu sagen wagte. Die Hoffnung war, daß diese Denkungsweise mit den politischen Veränderungen seit 1989/90 auch im deutsch-polnischen Verhältnis endgültig der Vergangenheit angehören würde. Weit gefehlt! Lehrer und Schulleitung der Schlesien-Oberschule in unmittelbarer Nähe zum Charlottenburger Schloß mit dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten haben in ihren schulischen Gremien durchgesetzt, daß der Name Schlesien getilgt wird.

Begründung: Schlesien gehöre nicht mehr zu Deutschland, es würden polnische Gefühle verletzt, und die Schüler der Schule könnten mit dem Namen Schlesien nichts anfangen.Eine vernichtende pädagogische Bankrotterklärung, bei der man sich fragt, ist es pure Unkenntnis, Dummheit oder Unwilligkeit – wahrscheinlich alles zusammen. Hier wird die eigene Geschichte entsorgt,hier ist man nicht bereit, die heutige Bedeutung Schlesiens als historisches und touristisches Brückenland zwischen Deutschland, Polen und Tschechien den Schülern zu vermitteln. Der Vorgang erhält aber eine politische Brisanz, die weit über die eine Schule hinausgeht. Im Kommunalparlament von Charlottenburg-Wilmersdorf haben SPD, Grünen und PDS (gegen CDU und FDP) der Umbenennung zugestimmt. Das kann Folgen haben; im Bezirk gibt es eine Pommem-Oberschule, eine Masuren-Allee, ein ganzes Viertel mit ostpreußischen Straßennamen, in anderen Stadtbezirken sind ebenfalls zahlreiche öffentliche Gebäude, Straßen usw. nach ostdeutschen Landschaften und Städten benannt. Der Vorgang ist keine Provinzposse Ewiggestriger, sondem hat durchaus eine politische Bedeutung für die Hauptstadt Deutschlands. Polnische Freunden, denen ich das berichtet habe, können es nicht nachvollziehen. Zum Schluß ein Hinweis, der nicht vergessen werden darf: Mitte der neunziger Jahre vereitelten ein Regierender Bürgermeister und sein Bausenator, beide CDU, die guten Chancen, daß der heutige Ostbahnhof wieder den Traditionsnamen Schlesischer Bahnhof erhielt.

Karlheinz Lau (KK)

 

Seite 12
Was berauscht, bedarf der Nüchternheit
Der Siebenbürger Hans Ambrosi schreibt mit an der Kulturgeschichte des deutschen und des europäischen Weines

Wo sind Sie daheim?

Dort, wo gesellige Menschen leben. Die leben natürlich überall, um so mehr aber dort, wo es Wein gibt. So ist der Rheingau mir zum zweiten Siebenbürgen geworden, zum Ort, wo ich mittelbar auch das siebenbürgische Vermächtnis meiner Mediascher Altvorderen pflegen kann. Allgemein aber fühle ich mich in jedwelchem Weinland heimisch. Ich habe manche Ecke der Welt bereist und mich überall dort gut aufgehoben gesehen, wo die Leute sich mit dieser wunderbaren Pflanze und ihrem Produkt abgeben – denn so etwas prägt, und nie zum Nachteil.

Würden Sie Siebenbürgen, die Landschaft Ihrer Herkunft, denn als gesellig bezeichnen?

Es war eine Geselligkeit der ruhigen Art. Ich bin im Kokeltal, einer begnadeten Hügellandschaft im Karpatenbogen, aufgewachsen, wo man sozusagen von Natur aus Winzer wurde. Ich bin es übrigens in dritter Generation. Hier bei den Siebenbürger Sachsen hatte der Weinbau wie in den benachbarten ungarischen und rumänischen Territorien entlang der Donau und in der Moldau seine südosteuropäischen Heimstätten. In der Baum- und Rebschule meines Vaters habe ich gelernt, was Arbeit bedeutet, und zugleich, wieviel es bedeutet, wenn sie Spaß macht.

Und die Härte des Landlebens?

Landwirtschaft, speziell Weinbau, ist harte Arbeit, ohne Zweifel. Aber das Ergebnis, wenn es gelingt, ist mehr denn ein Lohn. Es bietet schließlich auch einen ganz besonderen Genuß. Außerdem waren die siebenbürgischen Winzer in der Zwischenkriegszeit weithin geachtete Meister, bei denen sich sogar deutsche Fachleute Rat und Anregung holten. Ich erinnere mich gern an die Besuche von Geschäftspartnern aus dem „Reich“ bei uns in Mediasch. Daß ich selbst allerdings einmal an Rhein und Mosel arbeiten würde, das war mir nicht in die Wiege gelegt. Der Weg hierher führte erst einmal durch die historische Katastrophe, durch Krieg, Gefangenschaft, Heimatverlust.

Waren die Entbehrungen der Preis für späteres Glück?

Ich glaube nicht, daß man das in Kategorien des Preis-Leistungs-Verhältnisses fassen kann. Glück ist erst einmal Zufall. Kein Zufall war es natürlich, daß ich mit meinem Hermannstädter Abitur in Deutschland die Gelegenheit ergriff, an der Landwirtschaftlichen Hochschule Stuttgart-Hohenheim zu studieren. Kein Zufall auch, daß ich meine Praktika in einer Weinbauschule, auf einem Weingut und schließlich in der Kellerei des Klosters Eberbach absolvierte und dann als wissenschaftlicher Hilfsassistent am Institut für Rebenveredlung und Rebenzüchtung in Geisenheim promovierte. Das alles ging auf meine Mediascher Herkunft zurück. Daß ich dann aber an die Universität Stellenbosch in Südafrika gehen und dort in der Forschung und als Kellereileiter elf Jahre lang tätig sein konnte, das läßt schon eher an eine Fügung glauben, obwohl ich es anfangs auch als Exil empfand. Es war schließlich eine ertragreiche und vergnügliche, eine glückliche Zeit.

Glück hat am Ende nur der Tüchtige?

Dabei war dies kein Ende, sondern erst der Anfang. Aber das Zitat ist nicht ganz richtig. Moltke, von dem dieses Wort stammt und der wohl wußte, wovon er redet, hat sich wesentlich vorsichtiger ausgedrückt: „Aber Glück hat auf die Dauer doch zumeist wohl nur der Tüchtige.“ Man beachte: „auf die Dauer doch zumeist wohl“. Also möglicherweise auch nicht ... Gesicherte Erkenntnisse gibt es da keine, und Spekulationen erübrigen sich. Ein Glück war, daß ich in Deutschland die Leitung der Staatsweingüter Kloster Eberbach im Rheingau, der größten deutschen Weingutverwaltung, übernehmen konnte. Daß es mir allerdings gelang, den Schritt von der Verwaltung zur Gestaltung zu tun, das war „zumeist wohl“ weniger Schicksal als ganz einfach Arbeit.

Ganz einfach Arbeit, aber bestimmt keine einfache ...

Natürlich war es ein „Karrieresprung“ und zugleich ein Sprung ins frische Wasser. Kalt will ich es nicht nennen, ich habe es zumindest nie so empfunden. Wer Wein an- und ausbaut, muß selbstverständlich fachmännisch vorgehen wie jeder Profi irgendeiner Branche, er muß auf Produktivität und Effizienz achten und hat in leitender Position einige Verantwortung. Aber er hat ein ganz besonderes und besonders reizvolles Problem, und wenn er das nicht als Herausforderung versteht, wenn er es nicht buchstäblich genießen kann, dann ist er hier fehl am Platz. Er produziert und verkauft nämlich etwas, das nie nur Ware ist. Der Wein ist zugleich ein Genußmittel und ein Luxus, er ist ein Gegenstand kunstreicher Bemühungen und ein Kulturprodukt. Er strahlt eine Aura aus, die sich nicht beziffern, wohl aber vermarkten läßt.

Hat nicht die Kirche das immer schon gewußt?

Die christliche Kirche hat dieses Erbe der heidnischen Römer mit Bedacht angetreten. Nicht zuletzt der Wein ist es auch, auf dem die 850jährige Tradition des Zisterzienserklosters Eberbach beruht. Nur aufgrund dieser Tradition, die sogar die Säkularisation vor 200 Jahren überdauert hat, war es uns möglich, dieses Kloster zu einer wichtigen Begegnungsstätte Deutschlands in Sachen Weinkultur zu machen. Im übrigen ist es unter 1500 Zisterzienserklostern das besterhaltene und bot deshalb die ideale Innenkulisse für die Verfilmung von Umberto Ecos „Namen der Rose“.

Und für Veranstaltungen, bei deren Begründung Sie auf einige Skepsis gestoßen sind, die sich aber mittlerweile aus der – neuen – Karriere des deutschen Weins nicht wegdenken lassen, von der Eberbacher Weinmesse oder den Weinseminaren der German Wine Academy bis hin zum Rheingau-Musik-Festival.

Nun, in Zeiten der globalen Beweglichkeit, des Tourismus, ist es ein guter Gedanke, die Menschen dorthin zu bringen, wo der Wein wächst, um ihnen so ein viel ursprünglicheres Erlebnis zu vermitteln, als es jede im Handel erworbene Flasche ermöglicht. Dieses Erlebnis ist nicht mehr nur ein sinnliches, sondern ein im besten Sinn geistiges, in dem Kultur und Geschichte, die Kunde von Land und Leuten, der kulinarische Genuß und die Freude an der Kunst eine erquickliche Symbiose eingehen. Wer einmal unsere Rheingau-Riesling-Route entlanggefahren ist, wird mit all den Namen, die auf den Flaschen stehen, anderes und viel mehr verbinden, als in den Flaschen drin ist. Wer einmal ein Konzert unseres Musikfestivals nebst önologischen Begleiterscheinungen erlebt hat, dem wird aufgehen, daß die hohe Kunst und die im tiefen Keller gereiften Köstlichkeiten in einem großen kulturellen Zusammenhang stehen.

Dieser Zusammenhang reichte, wie Sie erzählten, einst bis nach Siebenbürgen. Der Krieg und der kalte Krieg haben ihn zerstört. Gibt es eine Chance, daß er wiederbelebt wird?

Chancen gibt es immer, man muß sie nur wahrnehmen und dann ergreifen. In den neunziger Jahren bin ich in offiziellem Auftrag in Rumänien und an Saale-Unstrut unterwegs gewesen und habe dortige Weinbauern und andere maßgebliche Leute beraten. Die Verheerungen tun einem, der die Vorgeschichte kennt, in der Seele weh. Aber das ist jetzt kein Thema. Diese Weinlandschaften müssen und können wieder werden, was sie einmal waren. Allgemeingültige Rezepte gibt es nicht, aber auch hier gilt: Zeigt den Menschen, daß ihr etwas zu bieten habt, holt sie heran, ladet sie ein, baut ihnen goldene Brücken, weingoldene Straßen – Weinstraßen. Dieses Konzept war in Südafrika erfolgreich, und unsere Rheingau-Riesling-Route hat auch hier gezeigt: Der Weg ist das Ziel. Daß diese Anregungen weiter östlich vorerst nur reserviert aufgenommen werden und es mit der Umsetzung hapert, ist vor dem historischen Hintergrund verständlich, aber in meinen Augen fahrlässig. Unbekanntheit ist nicht Schicksal, sondern eine Unterlassungssünde.

Europa könnte auch am gemeinsamen Geist des Weines genesen?

Zur Genesung braucht es natürlich mehr; der „Geist“, das wäre ja die Software, und es ist müßig, sich darüber zu unterhalten, solange es die Hardware nicht gibt: solide Produktion, seriöse Handelsbeziehungen und eine funktionierende touristische Infrastruktur. Dies alles aber ist in kürzester Zeit zu schaffen, denn der Bedarf, ja das Bedürfnis ist vorhanden. Ich behaupte sogar, daß jemand, der die Erzeugnisse einer „fremden Scholle“ schätzen lernt, sich diese „Scholle“ auch geistig zu eigen macht. Salopp formuliert: Wenn die Toskana-Fraktion mit der Bordeaux-Fraktion und die Loire-Fraktion mit der Rheingau-Fraktion Koalitionen eingehen und es diesen gelingt, die Winzer von der Donau und beiderseits des Karpatenbogens als Juniorpartner zu gewinnen, dann steigt europäischer Geist sozusagen aus der Flasche.

Ist das nicht bedenklich?

Weingenuß hat mit Alkoholsucht nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie schließen sich aus. Trinker sind keine Genießer, denn Genuß setzt Kenntnis voraus. Diese versuche ich zu vermitteln, und so bin ich ganz nebenbei zum Autor geworden, dessen Name in vielen Büchern steht. Es sind Lexika, Monographien, samt und sonders Sachbücher, denn mein Anliegen ist fachorientiert. Das Wunder des Weins erschließt sich nur, wenn man es nüchtern angeht. Es ist so einfach wie mit der Kunst, von der Nestroy ja gesagt hat, sie ist schön, macht aber viel Arbeit.

(KK)

 

Seite 15
Patriot und Demokrat – Gedenkbuch für Dr. Herbert Czaja

Herbert Czaja – Anwalt der Menschenrechte. Herausgegeben von Christine Czaja. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 2003, 415 S., 8 Bildseiten, 26,50 Euro.

Das umfangreiche Buch über Dr. Herbert Czaja und zu seinen Ehren wird von Christine Czaja, der ältesten Tochter unter zehn Kindern, mit einem Bericht über „Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement: Krieg, Vertreibung, Neubeginn in Stuttgart und Wirken als Stadtrat“ eingeleitet. Es ist ein 26 Seiten umfassender, gründlich erarbeiteter und gewissenhaft belegter Bericht über den Lebenslauf von 1914 bis zum Einzug 1953 in den Deutschen Bundestag.

Geboren wurde Herbert Czaja am 5. November 1914 in Teschen, damals noch Österreichisch Schlesien. Aufgewachsen ist er, der Vater war Notar, in Skotschau, geographisch als ostschlesisch bezeichnet. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war der polnische Staat der Souverän, Czaja besuchte in Bielitz das deutschsprachige Gymnasium und eignete sich die polnische Sprache so gut an, daß dies bei seinem ersten und letzten Besuch nach der Vertreibung in der Heimat, September 1996, allgemein gerühmt wurde. In Krakau und Wien studierte er, promovierte über Stefan George und war mit ganz jungen Jahren bereits ein mit Direktorenaufgaben betrauter Pädagoge in Mielitz und Zakopane.

Unter den nationalsozialistischen Herren leistete er vor allem aus standfester Treue zu seinem katholischen Glaubensbekenntnis Widerstand. Dies war später auch ein Grund, weshalb er Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde er 1942 eingezogen und schwer verwundet, er verlor ein Auge. All dies wird frei von Überhöhung als aufklärender Nachtrag zu diesem Leben referiert, denn das Tun und Wirken des Bundestagsabgeordneten von 1953 bis 1990, das sind 37 Jahre, ist vielen im Lande gegenwärtig.

Zu diesem Lebensabschnitt zählt die Präsidentschaft im Bund der Vertriebenen von 1970 bis 1994 und der Vorsitz in der Landsmannschaft der Oberschlesier von 1964 bis zu seinem Tode am 18. Apri11997 in Stuttgart. Oliver Dix hat seinen Aufsatz „Die Vertriebenenpolitik von Herbert Czaja im Deutschen Bundestag und im Gesamtverband Bund der Vertriebenen“ chronologisch angelegt. Angela Luise Mannes behandelt ausschließlich „Herbert Czajas Tätigkeit im Deutschen Bundestag“, wobei Wiederholungen vorher angeführter Einzelheiten nach Möglichkeit vermieden wurden.

Die Konfliktsituation, in der sich Czaja als Opponent zur euphorischen Entspannungspolitik unter Willy Brand und Helmut Schmidt befunden hat, und dann die Gegensätze in seiner Partei, der CDU, vor allem aber zum Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher unter Bundeskanzler Helmut Kohl, werden herausgearbeitet. Allerdings kommt in beiden Darstellungen die politische Auseinandersetzung, die Czaja als Patriot und Demokrat im Parlament und in der Öffentlichkeit geführt hat, zu kurz. Hier fällt zu viel Scheinwerferlicht auf das Denkmal Herbert Czaja, während gleichzeitig der leidenschaftliche Streiter für das Recht und die geschichtliche Wahrheit, aber auch für Verständigung mit unserem östlichen Nachbarn und für dessen Freiheit unterbelichtet bleibt.

Mehrere Beiträge sind Würdigungen aus Anlaß des Todes von Herbert Czaja, darunter auch der von seinem Freund und Mitstreiter im Deutschen Bundestag, Fritz Baier. Seine Sätze machen, weil Kritik darin schwingt, dieses Gedenkbuch durchaus glaubwürdig: „Herbert Czaja war stets in besonderer Weise pflichtbewußt, zielstrebig, unbestechlich, unbeirrt, ja oftmals fast unerträglich hartnäckig, wenn es um die Durchsetzung berechtigter Anliegen ging. Er war so in verschiedenen Gremien nicht immer leicht zu ertragen, er konnte strapaziös sein. Wenn er nicht zum Bundesminister bzw. Staatssekretär berufen wurde, dann wohl aus Gründen der Arithmetik, aber insbesondere wegen seiner bekannten Hartnäckigkeit und Zähigkeit bei der Durchsetzung politischer Ideen.“

Zu bedauern ist, daß zu den fast 200 Seiten „Dokumentation“ Christine Czaja als Herausgeberin bemerkt: „Die folgenden Dokumente beziehen sich auf die Zeit ab August 1989, weil für den vorangegangenen Zeitraum auf Protokolle des Deutschen Bundestages und Veröffentlichungen im „Deutschen.Ostdienst“ verwiesen werden kann.“ Es wäre gut gewesen, in die Dokumentation, die 1948 beginnt, als Czaja Stadtrat in Stuttgart war, die wichtigsten Reden und Aufsätze (vielleicht gekürzt) wiederzugeben, denn die Jahrzehnte zwischen 1953 und 1990 waren die politisch wirksamsten. 1983 und 1987 hatte Czaja übrigens direkt seinen Stuttgarter Wahlkreis gewinnen können.

Wer über Herbert Czaja urteilen will, dem bietet dieses Buch eine Fülle von Informationen. Nicht zuletzt ruft es das Lebenswerk eines Wortführers und Anwalts der aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen in die Erinnerung zurück. Die Jahrzehnte der jüngsten Zeitgeschichte werden lebendig.

Herbert Hupka (KK)

 

 

Seite 16
Franz Hodjak: Ein Koffer voll Sand.
Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003,
244 S., 19,90 €uro

Lang ist es her, seit Dichter sich zu ihren Texten noch unter einem so einfältig stolzen Titel äußerten: „Mein Gedicht ist mein Messer“. Längst haben die Poeten derlei martialisches Gehabe aufgegeben, denn man braucht fürwahr kein Messer, um im Nebel der Welt herumzustochern. Etwas Kämpferisches hat Literatur gleichwohl immer noch – und wohl für immer: Sie ist die einzig mögliche Rache des Schriftstellers an der Welt.

Wer Franz Hodjak liest, meint schon einen Schritt weiter zu sein: Dieser Schriftsteller braucht sich nicht zu rächen, die Welt kann ihm gar nichts antun, weil er sie nicht an sich heranläßt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Franz Hodjak hat „die Welt“ erlebt, daß ihm Hören und Sehen vergangen sind, nicht aber das Sagen. Seine Lyrik und Prosa ist dermaßen wirklichkeitsgesättigt, daß sie einem, der jene Erlebnisse nicht unmittelbar nachvollziehen kann, schon wieder unwirklich erscheint. Verkürzt: Bei der Darstellung dieser Realität wird jeder Realismus automatisch zum Surrealismus.

Diese Automatik funktioniert in Franz Hodjaks Prosa, aber der Autor gewinnt daraus eine paradoxe Qualität: Es gelingt ihm, sie zu steuern! Sein „Trick“: Man muß die Wirklichkeit zu Ende denken, dann erkennt man ihr wahres, unwahrscheinliches Gesicht. Man muß die Mechanismen kraft eigenen Vorstellungsvermögens weitertreiben, ihre Drehzahl erhöhen, dann laufen sie heiß und beginnen zu stinken. Aus diesem Gestank macht Franz Hodjak gute Literatur.

„Ein Koffer voll Sand“ ist der Roman einer Flucht. Ein aus Rumänien geflohener deutscher Dichter flieht vor der Ankunft in Deutschland: „Ich flüchte ja nicht vor Verfolgern. Die Verfolger, vor denen ich nicht flüchten könnte, habe ich hinter mir gelassen, die bin ich los. Ich flüchte vor Ithaka, vor der Ankunft, und diese Flucht ist die einzige Freiheit, die mir bleibt.“ Ein Roman über die Freiheit also und über ihre Unmöglichkeit.

Die Szene: Bernd Burger fährt mit seiner Frau Melitta und der Tochter Astrid kreuz und quer durch die Region um den Bodensee. Melitta chauffiert, und Bernd Burgers Glück will, daß sie sich dauernd verfährt. So gelingt es eine Weile, jedwelches Ziel zu verfehlen, vor allem das ihnen verwaltungstechnisch zugedachte: Hamm. Denn die eben aus Rumänien ausgewanderte Familie muß dorthin zur Registrierung, um anzukommen. Solange sie nicht ankommt, kann Bernd Burger jene „einzige Freiheit“ genießen und sich und uns Anekdoten erzählen und Betrachtungen anstellen. Dabei feiert eine epische und feuilletonistische Verschwendungssucht dermaßen fröhliche Urständ, daß man fast Sorge trägt, der Autor könnte gleich den Vorrat für mehrere Bücher hier aufgezimmert haben. Doch ist diese Sorge gänzlich unbegründet, denn wie Bernd Burger werden auch Franz Hodjak unaufhaltsam weiter „Phänomene“ widerfahren, „über die er nachdenken muß“, und das heißt bei ihm: schreiben.

Wer wissen will, was Sozialismus war, findet in dieser Sammlung so viele und so mannigfaltige Geschichten darüber, daß er eines verstehen wird: Sozialismus ist nicht vergangen, denn er ist keine Gesellschaftsordnung, die eingeführt und abgeschafft werden könnte. Vielmehr ist der Geisteszustand, der ihn ermöglicht, dermaßen virulent, daß die Möglichkeit durchaus fortbesteht, ja daß jedwelche Gesellschaftsform heuchlerisch und latent menschenverachtend ist. Im Grunde ist, um in Hodjaks odysseischem Bild zu bleiben, Ithaka von Troja kaum zu unterscheiden, und was sich hier auftut, ist eine ins Negative gewendete Mythologie, die keinen Sinn verleiht, sondern im Gegenteil Sinn entzieht.

Sie materialisiert sich in dem titelgebenden „Koffer voll Sand“, „den ich brauche, wenn ich in Ithaka ankomme, wo ich nicht ankommen will, weil die Begriffe, wenn ich in Ithaka ankomme, aus ihrer Begrifflichkeit ausscheren werden, und dann brauche ich viel Sand, der begrifflos ist. (...) Ach, Melitta, sagte Bernd Burger, ich brauche viel sand, um mich mit Bedeutungslosigkeit einreiben zu können. Vor allem, da ich eine Identität annehmen muß, wohlgemerkt (,) muß, nicht will, wenn ich in Ithaka ankomme, und das besonders, nchdem ich eben eine Identität abgelegt habe, und noch nie habe ich mich so gut gefühlt wie jetzt, da ich identitätslos bin. Aber in dieser verwalteten Welt muß jeder sein, was er zu scheinen hat, damit er verwaltbar ist. Die mythischen Zeiten, Melitta, sind längst vorbei, und fortan werde ich immer einen Koffer voll Sand mit mir herumtragen, auch wenn ich nicht reise.“

Das Zitat soll auch einen Eindruck geben von der kreiselnden, mahlenden Bewegung dieser Prosa. Sie hat nicht Anfang noch Ende, sie ist nach allen Seiten offen, weder gründet noch fußt noch wurzelt sie. Melitta versteht Bernd Burgers Träume nicht und wirft ihm vor, „so falsch, wie er denke, so verrückt seien auch seine Träume. Er träume ja nur noch Gedanken, keine Träume mehr, die etwas mit der Realität zu tun hätten. Bernd Burger wollte diskret bleiben und seine Frau verschonen, etwas begreifen zu müssen, das sich ihrer Realität entzog ...“ Was Bernd Burgers Träume seiner Frau, das ist Franz Hodjaks Literatur seinem Leser: eine Zumutung, die ihren Ursprung nur vermeintlich jenseits seiner Realität hat. Erst wenn er sich der Lektüre voll aussetzt, wird er merken, daß nicht der Dichter es ist, der ihm etwas zumutet, sondern daß er im Gegenteil gerade in diesem Dichter einen Bundesgenossen hat im Zwist und Hader mit sich und der Welt.

Georg Aescht (KK)

 

Seite 17
„Unter dem Schatten deiner Flügel“

Die umfangreichen Tagebücher, von Jochen Klepper fleißig geführt und nach seinem Tode 1956 verlöffentlicht, lagen einer 45-Minuten-Sendung von Phoenix zugrunde. Nicht der Schriftsteller („Der Kahn der fröhlichen Leute“, „Der Vater“, „Kyrie“) wurde dargestellt, sondern das „Tagebuch einer Ausgrenzung“ war das Thema. Jochen Klepper, 1903 in Beuthen an der Oder als Pastorensohn geboren, hatte in Breslau theologie studiert, war dann aber in die kirchliche Publizistik umgestiegen und hoffnungsvoller Mitabeiter der „Schleischen Funkstunde“. Im Jahre 1929 schlug die Stunde des Schicksals. Auf Zimmersuche in Breslau begegnete er der dreizehn Jahre älteren, früh verwitweten Johanna Stein, Mutter einer sieben- und einer neunjährigen Tochter, jüdischen Bekenntnisses: „Wenn ich diese Frau nicht heiraten kann, will ich nie im leben eine andere.“

Diesen Satz Jochen Kleppers sprach jetzt die ältere der beiden Töchter, Brigitte Molnar, die als einzige Überlebende der vierköpfigen Familie 83jährig in London lebt. Wiederholt wurden ihre Aussagen eingeblendet. Großartig, wie sie mit wenigen Worten von der familie, vom Alltag unter düsteren Umständen, über ihren wohl eher hochgeschätzten als geliebten Stiefvater zu erzählen wußte.

Die vom nationalsozialistischen Antisemitismus ausgeworfene Schlinge zog sich immer enger. Seit 1931 lebte die Familie in Berlin, wo Klepper zunächst beim Berlioner Rundfunk und dann im Ullstein-Verlag beschäftigt war. Mit dem Beginn der Hitlerdiktatur war die „rassisch gemischte“ Familie der Unterdrückung und verfolgung preisgegeben. In den im Film zitierten Tagebuchaufzeichnungen und Briefen wurde er lebensweg unterm Hakenkreuz lebendig. Er endete mit der Selbsttötung der familie in der nacht vom 10. zum 11. Dezember 1942 in Berlin-Nikolassee. Nur die Tochter Brigitte war 1939 nach England geflohen. Hier schwang ein Ton der kritik an den Eltern mit, die im Glauben an Gott und im Vertrauen auf das Recht gemeint hatten, das Schlimmste, also Zerschlagung der Familie, Deportation und Vernichtung werde nicht eintreten.

Der Film ist mit Bedacht und Einfühlungsvermögen gedreht worden. Im Gegensatz zu manchen Streifen, die allzu vordergründig zeitgeschichtliches Kolorit anstreben, wurde hietr auf alles Laute bis hin zu brüllenden rednern und Bombengedröhn verzichtet, ohne daß das Grauenhafte dieser zeit unterschlagen worden wäre. Drehbuchautoren dieser zutiefst erschütternden Dokumentation waren Rolf Bergmann und Jürgen Buch.

H. H. (KK)

 

Seite 18
Eisfeld

Eine Ausstellung zur Geschichte der Schwarzmeerdeutschen wurde in den Räumlichkeiten der Bundesgeschäftsstelle der rußlanddeutschen Landsmannschaft in Stuttgart eröffnet. „200 Jahre deutsche Geschichte und Kultur im Schwarzmeergebiet (1803-2003)“ lautet der Titel der Präsentation, die von dem bekannten rußlanddeutschen Historiker Dr. Alfred Eisfeld und seiner Frau Olga mit Unterstützung von Mitarbeitern der Bundesgeschäftsstelle zusammengestellt wurde. Eigens dafür hat man das große Konferenzzimmer renoviert und umgebaut, Stellwände und Vitrinen angeschafft und die Beleuchtung verbessert, um die zahlreichen Ausstellungsgegenstände, vor allem Bilder, Karten und Dokumente, aber auch Gebrauchsgegenstände bis hin zu Geldscheinen aus verschiedenen Jahrzehnten, angemessen zeigen zu können. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

(KK)

 

Seite 19
„Da gibt’s einen wunderbaren Klang“
Durch den Garten die ganze Nacht“ – Eichendorffs „Taugenichts“ im Schloßpark von Lubowitz

Zum unvergeßlichen Erlebnis wurde allen an diesem Sommerabend in den Schloßpark nach Lubowitz gekommenen Einheimischen und Gästen die Aufführung der für die Bühne bearbeiteten Eichendorff-Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ durch den Schauspieler Gerd Lohmeyer und die Sängerin und Hackbrettistin Marianne Kirch aus der bayerischen Landeshauptstadt München. Es war eine traumhafte Szenerie in dem wildromantischen, langsam verdämmernden Schloßpark über dem Odertal: Rote Ziegelwände einer von Sträuchern bewachsenen und alten Bäumen umstandenen Ruine; im Scheinwerferlicht die über einem eingestürzten Gebäudeeck errichtete Bühne. Auf dem freien Rasenrund davor über 500 erwartungsvolle Zuschauer, dicht gedrängt auf den bereitgestellten Stühlen und Bänken.

Zunächst begrüßte der Eichendorff-Freund und Arrangeur des Ganzen, Norbert Willisch vom bayerischen Wissenschafts- und Kunst-Ministerium, die Anwesenden – unter ihnen Franz Albrecht Herzog von Ratibor sowie Dr. Herbert Hupka, verdienter Bürger dieser Stadt – und führte kurz in die Welt des hier geborenen und aufgewachsenen Dichters ein. Dank seiner Bemühungen war im Frühjahr eine deutsch-polnische Ausgabe der Novelle erschienen und im Oberschlesischen Eichendorff-Kultur- und -Begegnungszentrum Lubowitz vorgestellt sowie in größerer Stückzahl an Lyzeen verteilt worden. Jetzt sollten die Oberschlesier das Werk auf der Bühne erleben. Mit den Liedern „O Täler weit, o Höhen“ und „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“ stimmte der Eichendorff-Chor Ratibor darauf ein.

Wie von ungefähr aus dem Dunkel des Parks auftauchend, zog dann der den Taugenichts darstellende, ja geradezu verkörpernde Gerd Lohmeyer alle in seinen Bann: Er deklamierte und interpretierte den Eichendorff-Text stehend, sitzend, liegend, laut und leise, verhalten und atemlos und ließ so die verschiedenen Schauplätze des Geschehens vor dem geistigen Auge des Zuschauers erstehen. Mal quälte er dazu seine Geige, dann wieder entlockte er ihr liebliche Töne, wohingegen seine Partnerin, die „holde Frau Aurelie“, im wallenden weißen Gewand, feenhaft, zumeist von höherer „Warte“ aus, durch den Wohllaut ihrer Stimme und virtuoses Hackbrettspiel bezauberte.

Das Spiel machte in der Tat, wie Thomas Mann das schilderte, „daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung“. Dazu bedurfte es keiner aufwendigen Kostümierung und nur weniger Requisiten: eines Kanzleirocks mit Ärmelschonern, eines Bündels verstaubter Akten (die nicht nur heftig gestempelt, sondern – welch köstlicher Einfall – auch in Blumen verwandelt werden), eines Schlafrocks und Hutes sowie eines multifunktional verwendeten weißen Tuches, eines Kleiderständers, einer Tür mit Sichtfenster (hinter dem die geliebte Aurelie zunächst als lebendes Bild erscheint, ehe sie den Raum betritt), eines (auch als Kutschbock dienenden) Stuhls und eines Tisches (auf dem der Taugenichts u. a. die Goethe-Pose des bekannten Tischbein-Bildes vor der Landschaft der Campagna persifliert und voller Überschwang das lange nachklingende „Sie liebt mich!“ hinausschreit), schließlich einer Flasche Wein zum stillen Genießen. Aus der Illusion in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde man am Ende – passend zum Schluß der Novelle, wo der Dichter „Leuchtkugeln ... vom Schloß durch die stille Nacht“ fliegen läßt – durch das Krachen, Zischen, Prasseln eines über der Schloßruine sich entfaltenden Feuerwerks.

Die Aufführung des „Taugenichts“ am Herkunftsort Eichendorffs war ein großes, beglückendes und zum Nachdenken anregendes Ereignis. Erzbischof Nossol aus Oppeln, der die Vorstellung wegen eines kurzfristig anberaumten Termins nicht besuchen konnte, sich aber von begeisterten Angehörigen davon berichten ließ, sieht darin „ein herrliches Geschenk an die Heimat“ und einen Beitrag „zum Aufleben der Hochkultur in Oberschlesien“. Dafür ist den Akteuren, Organisatoren und Geldgebern (insbesondere dem Haus des Deutschen Ostens München aus dem Geschäftsbereich des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen) von Herzen zu danken.

Dr. Kühnemann vom Joseph von Eichendorff-Konversatorium Oppeln fragte in einer kleinen Nachbetrachtung kritisch: Wie begleiten eigentlich unsere Medien solch herausragende Ereignisse? Er mußte dazu feststellen: Die „Nowiny Raciborskie“ berichtete kurz über das „spektakuläre Ereignis“ „in märchenhafter Szenerie“. Die Oppelner Tageszeitungen nahmen dagegen keine Notiz davon. Das „Schlesische Wochenblatt“ (die Wochenzeitung der Deutschen in Polen) brachte zwar einen ausführlichen Bericht – jedoch erst auf Seite 5; aufgemacht war das Blatt mit Nebensächlichkeiten. In den Oppelner deutschsprachigen Fernseh- und Radioprogrammen Fehlanzeige. Sein herbes Urteil über die Behandlung kultureller Themen in den deutschsprachigen Medien im sogenannten Oppelner Schlesien: „Taugt wenig“.

(KK)

 

Seite 21
Bernard Schultze

2003 wurde das 50jährige Jubiläum der Künstlergruppe „Quadriga“ mit einer Ausstellung im Städelschen Kunstinstitut zu Frankfurt am Main gefeiert, damit die Kunstproduktion, die in Deutschland der Hinwendung zum Informel unmittelbar vorausging, anschaulich gemacht werde. Drei der vier Mitglieder des Verbandes, Karl Otto Götz, Otto Greis und Heinz Kreutz, stammen aus Westdeutschland. Bernard Schultze wurde 1915 im westpreußischen Schneidemühl geboren. Nach seinen Studien an den Kunstakademien in Berlin und Düsseldorf übersiedelte er nach Frankfurt am Main. Er wurde mit zahlreichen Kunstpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Lovis-Corinth-Preis der Künstlergilde. Seit 1968 lebt Schultze in Köln.

Hier veranstaltet gegenwärtig die Anwaltspraxis, Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft Linklaters, Oppenhoff und Rädler am Hohenstaufenring 62 eine beachtliche Einzelausstellung. In den zehn großen Konferenzzimmern sind Gemälde aus den Jahren 2002 und 2003 zu sehen, in den weiten Fluren Grafik der neunziger Jahre. An diesem etwas unüblichen Ausstellungsort kann man sich die ersten Eindrücke davon verschaffen, was die anläßlich des 90. Geburtstages von Bernard Schultze im Jahr 2005 geplante Retrospektive des Kölner Museums Ludwig alles bieten wird.

Mit seinem berühmt gewordenen „abstrakten“ Aquarell läutete Wassily Kandinsky 1910 das Zeitalter der gegenstandsfreien Kunst, des abstrakten Expressionismus ein. Von den Nazis wurde die Entwicklung dieser Kunstrichtung in Deutschland natürlich massiv behindert und konnte sich erst nach dem Krieg fortsetzen. Bernard Schultze begann mit abstrahierten Landschaften, in den 60er Jahren dann folgte die „Bukolische Migof-Welt“, deren Grundfiguren „desfigurierte“ Schaufensterpuppen waren. Im Tachismus (tache heißt auf französisch Flecken) hat das malerische Werk Schultzes seinen Platz. Nur selten erinnern Bilder wie die „Deutsche Landschaft“ von 2002 an die äußere Wirklichkeit. Nicht selten tauchen auch bei abstrakten Kompositionen realistische Titel in Kombination mit Phantasienamen auf: „Profil des Herrn Flüsterzunge“, „Schwarzes Wolkentier“, „Innere Landschaft“.

In den sechziger Jahren kam durch die verfremdeten Schaufensterpuppen, die „Migofs“, die menschliche Gestalt dazu: „Meine zerstörten, wuchernden Mannequins verkörpern die Welt des ‚memento mori’.“ Der merkwürdige Name der Figuren „bedeutet gar nichts, soll aber wegen seiner lautmalerischen Qualität Assoziationen auslösen“.

Bernard Schultzes Ölgemälde bieten ein Fest für die Augen. Die mannigfachen, meist leuchtenden Farben schaffen Kontraste und zaubern rhythmische Bewegungen hervor, die auch in die Tiefe gehen oder auf den Betrachter zukommen. Schultzes ostpreußischer Kollege Rolf Cavael (1898-1979) wünschte sich für die gegenstandsfreie Kunst den Begriff „absolut“ statt „abstrakt“ und stellte die Malerei damit neben die „absolute Musik“. Das meint man in dieser Ausstellung nachvollziehen zu können.

Die Kölner Exponate strahlen Freude, Frieden und Optimismus aus und sind weit entfernt vom besagten „memento mori“ der „Migofs“ – und auch vom gegenwärtigen Geschehen auf unserem Globus. Sie scheinen überdies durch ihre Frische und Dynamik im Frühling und Sommer des bald 90jährigen Seniors der zeitgenössischen deutschen Kunst zu wurzeln. Die ungebrochene Schaffenskraft des Altmeisters dokumentiert aber auch seine Treue zum gediegenen Handwerk, die der Spontaneität und der zauberhaften Expressivität keinen Abbruch tut.

Günther Ott (KK)

 

Seite 22
Herbstsalon mit Musik, Kunst und Literatur
Großer Abend der „Werkstatt“ in Düsseldorf

Mit Musik, Kunst und Literatur trat die West-Ost-Künstlerwerkstatt im Gerhart-Hauptmann-Haus zum Jahresende vor ihr Publikum. Es gehörte zu den schönen Besonderheiten des Eröffnungsabends in der Bismarckstraße, daß alle fünf ausstellenden Künstler anwesend und ansprechbar waren. Ein Zeichen dafür, daß Kunst nicht für sich allein geschieht.

Bilder, Keramik, Video-Installation sowie das begleitende literarische und musikalische Programm haben zusammen jene gewisse Atmosphäre ergeben, die auf Vernissagen erwartet wird. Die Gäste wurden von Dr. Walter Engel, dem Direktor des Hauses, begrüßt, der auch Barbara Olschner (Mezzosopran) und Georg Fischer-Varvitsiotis (Klavier) vorstellte, die in den Abend einleitend Werke von Beethoven und Mendelssohn Bartholdy vortrugen, in einem zweiten Teil dann Stücke des französischen Komponisten Ernest Chausson.

Dr. Johannes von Geymüller, Kunsthistoriker und Galerist in Essen, verstand es, die jeweilige Persönlichkeit der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler zu charakterisieren, auf die Exponate im einzelnen einzugehen und die Gesamtheit der Ausstellung in Idee und Gestaltung zu präsentieren. Die Anordnung der Exponate im Saal und im Treppenhaus hatten die Aussteller selbst besorgt, wobei ein Ambiente gelang, das allein schon einen Besuch im Gerhart-Hauptmann-Haus lohnte. Demgemäß war der Eröffnungsabend vor allem von der bildenden Kunst geprägt, die auch in der „Werkstatt“ die zahlenmäßig stärkste Gruppe stellt.

Im Eingangsbereich des Ausstellungssaales fesselten die großen Tafelbilder von Hildegund Rißler (geboren in Freiwaldau/Ostsudeten) und ihre sorgfältig gruppierten Objekte den Blick. Ohne plakativ zu wirken, greifen die Exponate gesellschaftliche Zustände auf („Der Erfolgreiche“, „Die Gesellschaft der Individualisten“, „Voll programmiert“), ebenso aber auch das persönliche Naturerlebnis, ohne ins Herkömmliche zu verfallen. Die gestalterische Phantasie ist zu spüren sowie der subtile Umgang mit dem Material (Acryl, Pastell, Holz, Papier). Gepa Klingmüllers „Textile Stelen“ (Kreide auf Baumwolle) brachen mit ihrer bewegten Chromatik die Raumtiefe auf und ergaben einen nahezu akustisch wahrnehmbaren Zusammenklang. Die thematische Vision der aus Halle an der Saale stammenden Künstlerin, ihre zeichnerische Ausdrucksstärke und ihr Mut zur Farbe teilten sich dem Betrachter in einer nachwirkenden Bildreihe mit („Kraft“, „Lichte Form“, „Innenleben“). Sieben zum Teil großformatige Farbholzschnitte (Handabzug) stellte Marie-Luise Salden (Elbing) aus – in ihrer Grundstimmung und Ausformung feinfühlig abgestimmte Blätter mit poetischer Substanz und transzendenter Gedankentiefe. Zu dem ausgestellten Blatt „Reminiszenzen“ lag ein Albumblatt (zum Mitnehmen) aus, das einen dem Holzschnitt zugeordneten Text von Franz Heinz enthält. Es verweist auf die kreative Gegenseitigkeit, zu der die „Werkstatt“ ihren Mitgliedern Gelegenheit bieten will.

Diese vielgestaltige Präsentation wurde von dem Oberschlesier Josef Cyrus ergänzt, der seinen Dokumentarfilm „Der Alte und der Ochse“ als Video-Installation vorführte. Ein mit naturalistischen wie mit urwüchsig-bäuerlichen Elementen ausgestatteter Streifen, der den aus Oberschlesien stammenden Regisseur und Produzenten als eigenwilligen Künstler ausweist.

Peter OYen aus der Eifel stellte bunte Keramik aus, die, in den Saal verstreut, sich wie Fundstücke ausnahmen und Szenerie belebten. Seine Gemälde sind Ausdruck einer Suche nach dem Sinn und Hintersinn des Daseins. Aus der Eifel angereist war auch Andreas Züll – Kneipenpoet und mehr. Das Publikum bekam einen Einblick in die Lyrik des Neunzehnjährigen. Er leitet nicht ohne Leidenschaft den Literaturkreis in Kaill/Steinfeld, mit dem die „Werkstatt“ Arbeitskontakte unterhält. Das gilt auch für den Literaturkreis ERA in Ratingen, der mit Karin Schrey und Irmgard Stürmer zwei ebenso unterschiedliche wie bemerkenswerte Autorinnen vorstellte.

Für die Werkstatt lasen die Banater Autoren Uwe Erwin Engelmann (Gedichte) und Franz Heinz (Prosa) – gesellschaftsbezogene und alltagsbedingte Texte mit persönlicher Note.

(KK)