Die Schule und die Schule des Lebens
Bayrische Schüler befragen im Rahmen eines Wettbewerbs Zeitzeugen zu Flucht und Vertreibung

„Erst 14 Jahre alt, hatte ich keine Vorstellung, wozu die ‚Bestie Mensch‘ fähig ist. Die große Sportstätte war umstellt von Bewaffneten in Zivil oder in einer Phantasieuniform.
An Gebäuden und Ecken des Platzes waren Maschinengewehre postiert. Die Ankömmlinge wurden von prügelnden tschechischen Männern und auch Frauen empfangen. Jeder wurde gefilzt und alles brauchbar Erscheinende vom ‚Empfangskomitee‘ weggenommen. Es waren sechs bis sieben Tausend Männer, meist Alte, Kranke und Jugendliche, die hier zusammengetrieben wurden.“

Mit diesen Worten berichtete der aus Kleinostheim bei Aschaffenburg kommende Horst Theml über seine Erlebnisse in seiner Heimatstadt Komotau. Die stark ausgeprägte Authentizität der Aussagen enthält eine besondere pädagogische Note. Der Zeitzeuge erzählt über einen Lebensabschnitt in seiner Jugend, der den Zuhörern, Schülerinnen und Schülern, gegenwärtig ist. Sie befinden sich im selben Alter, in dem der Berichterstatter Flucht und Vertreibung erleben und erleiden mußte. Ein Kernanliegen des in diesem Beitrag vorzustellenden bayerischen Zeitzeugenprojektes ist es, dokumentiertes Geschichtswissen aus Lehrbüchern nicht etwa zu ersetzen, sondern durch das persönliche Erleben zu ergänzen.

Siegfried Münchenbach, Dozent an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen, hatte das pädagogische Ziel für einen Lehrgang deutlich gemacht, bei dem in drei Tagen 36 bayerische Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten mit 12 Zeitzeugen konfrontiert wurden, um auf diese Weise die Möglichkeiten der „Zeitzeugenarbeit im Unterricht“ kennenzulernen. „Schülerinnen und Schüler erfahren bei solchen Gesprächen, wie tief der Gang der Geschichte in das menschliche Loben eingreifen kann“, führte Siegfried Münchenbach aus.

Die Initiative zu diesem Projekt ging von der bayerischen Staatsministerin für Unterricht und Kultus, Monika Hohlmeier, aus, die dabei einen Beschluß des Bayerischen Landtags zum Thema, Vertreibung der Sudetendeutschen und anderer nach dem 2. Weltkrieg: Behandlung im Unterricht umsetzen wollte. Unabhängig von der Tatsache, daß in Bayern „die Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs nach wie vor in einer wohl von keinem Land in Deutschland übertroffenen Intensität betrieben“ wird, führte Ministerin Hohlmeier in einem Schreiben an den Präsidenten des Bayerischen Landtags, Johann Böhm, aus, sei „das Wissen der Schüler in diesem Bereich nicht zuletzt die Grundlage für weitere wichtige Erkenntnisse über das weltweite Problem der Vertreibung.“

Im Rahmen der Neukonzeption des bayerischen Schülerwettbewerbs „Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn“, der im Jahre 2002 auf eine 25jährige Geschichte und außergewöhnliche Ergebnisse zurückblicken kann, wurden erstmalig Zeitzeugeninterviews von Schülern in die aktuellen Wettbewerbsunterlagen aufgenommen. Der Landesbeauftragte für den Schülerwettbewerb, Robert Leiter, setzte mit seiner Arbeitsgruppe eine umfassende Werbeaktion unter den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen in Bayern unter dem Titel „Zeitzeugen gesucht'“ in Gang, „um die Hintergründe und Umstände von Flucht und Vertreibung sowie die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern näher zu erhellen“, wie es im Flugblatt zu lesen war.

Über 250 Zeitzeugen erklärten ihre Bereitschaft, sich in der bayernweiten Datenbank registrieren zu lassen und für interessierte Schulklassen zur Verfügung zu stehen.

Der in der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen veranstaltete Lehrgang war eine Kooperationsveranstaltung mit dem Haus des Deutschen Ostens München. Über diese nachgeordnete Behörde des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen wurden vor allem die fachwissenschaftlichen und inhaltlichen Aspekte der historischen Vorgänge in die Veranstaltung eingebracht. Ortfried Kotzian, Direktor des Hauses des Deutschen Ostens in München, führte die Lehrgangsteilnehmer mit dem Referat Flucht, Vertreibung, Integrationen – Merkmale einer Epoche europäischer Geschichte“ in die Gesamtthematik ein, stellte seine Ausführungen zu Flucht und Vertreibung in den Kontext europäischer Entwicklungen und versuchte, Hintergründe und Motive des „Vertreibungsphänomens“ im 20. Jahrhundert darzulegen.

Der Referent stellte als Strukturierungsmerkmal für die Vertreibung der deutschen Bevölkerung Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie der Sowjetunion seine Wellentheorie vor: Die erste Welle, bei der Deutsche aus dem Osten „entheimatet“ wurden, bildeten die Umsiedlungsaktionen Hitlers unter dem Stichwort „Heim ins Reich!“, bei denen sich Deutschbalten, Wolhynien-, Galizien-, Bukowina-, Bessarabien- und Dobrudschadeutsche an eine ‚neue Heimat‘ meist im Gau Wartheland, in Westpreußen oder in Ostoberschlesien zu gewöhnen hatten, und die Deportationen der Rußlanddeutschen nach Sibirien durch Stalinsche Gewaltpolitik, die während des Zweiten Weltkrieges stattfanden. Die zweite Welle wurde durch die große Flucht der Schlesier, Pommern, Ostpreußen, Sudetendeutschen und Südostdeutschen zum Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst. Die dritte Welle bildeten die „wilden“ Vertreibungen kurz nach Kriegsende, die durch die Rache der Sieger gekennzeichnet und mit zahlreichen Greueltaten verbunden waren. Die vierte Welle ist mit den Stichworten des Artikels XIII des Potsdamer Protokolls „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ umschrieben und betrifft die „offiziellen“ Vertreibungen des Jahres 1946, den „Odsun“ (Abschub). Als fünfte Welle nannte der Referent schließlich alle Nach-Aussiedlungen, die auf den Heimatverlust der Deutschen durch Verbote und Vereinsamung zurückzuführen sind, also die Aussiedlung und Spätaussiedlung aus den Ländern des Ostblocks und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion von 1950 bis zur Gegenwart.

Der Landesbeauftragte Robert Leiter präsentierte die Möglichkeiten, Zeitzeugeninterviews als Wettbewerbsbeitrag bei „Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn“einzureichen. Die Wettbewerbsunterlagen können weiterhin beim zuständigen Referenten des Staatsinstituts für Schulpädagogik und Bildungsforschung (ISB), Studienrat Martin Sachse, Arabellastr. 1, 81925 München, unter dem Stichwort „Zeitzeugenprojekt“ angefordert werden. Das ISB hatte auch unter seiner Leitung eine CD-ROM erstellt, auf der 25 Jahre Schülerwettbewerb „Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn“ mit sämtlichen Fragen und Antworten in spielerischer Weise verarbeitet wurden und alle Fragen aller Wettbewerbsjahre in einem „Irrgarten“, in einer „Lernreise“ in den Osten Europas und in einer „Zeitreise“ durch die Geschichte erneut gelöst werden können. Damit ist nicht nur die Geschichte des Schülerwettbewerbs in Bayern dokumentiert, sondern der gesamte bisher verarbeitete Lehrstoff mit Hilfe der „neuen Medien“ schülergerecht aufbereitet, zu neuer Aktualität und zu neuem Lernanreiz erhoben worden.

Der Historiker Georg Schmidbauer, der für die Ausstellung „In Bayern angekommen ... Flucht – Vertreibung – Integration“ des Hauses der Bayerischen Geschichte eine umfassende Videodokumentation mit Zeitzeugenbefragungen erstellt hat, erläuterte den Lehrgangsteilnehmern und Zeitzeugen die Befragungsmethodik „Oral History“ als historische Quelle mit ihrer Bedeutung und ihren Grenzen.

In Kleingruppen übten schließlich die Lehrerinnen und Lehrer das Zeitzeugengespräch. Die Verwunderung über den Ablauf dieses Erzählnachmittages beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Zeitzeugen stellten übereinstimmend fest, daß sie nie mit so viel Interesse an ihrem Schicksal gerechnet hätten. Einige meinten gar, es sei für sie Ermutigung zu erfahren, daß es Menschen gebe, die von diesen traurigen Erlebnissen ihrer Jugend hören wollten und die für ihr Denken und Fühlen Verständnis und Interesse jenseits politischer Wertungen aufbringen könnten.

Für die Lehrkräfte war die Erkenntnis wichtig, daß sich Schicksale nicht durch die Generalisierungen der Schulgeschichtsbücher erfassen lassen. Pauschale Sichtweisen treffen eben nicht das differenzierte Bild, das sich trotz aller Gleichschaltungstendenzen auch damals noch bot. Geschichte hat nicht nur mit Machtstrukturen, mit Verläufen oder Phänomenen zu tun; im Mittelpunkt der Geschichte stehen Menschen mit ihren unterschiedlichen Gedanken und Schicksalen.

Ein besonderes Schicksal vermittelte der Zeitzeuge Hugo Fritsch, der in einer abendlichen Lesung aus seinem Buch „Hugo, das Delegationskind“ in einfachen Worten seine Kindheit erzählte, zu vermitteln wußte, wie er in wenigen Wochen während der wilden Vertreibungen aus dem Sudetenland Vater, Mutter und sämtliche Geschwister verlor und als Vollwaise interniert wurde, bis ihn das Internationale Rote Kreuz aus der Tschechoslowakei herausholte.

Die Eindrücke des „Zeitzeugenlehrgangs“ waren so tief, daß sich die Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen und das Haus des Deutschen Ostens spontan entschlossen haben, für Zeitzeugen und jene Lehrkräfte, die nicht an dieser Veranstaltung in Dillingen teilnehmen konnten, Tagesseminare anzubieten.

Für den 14. Januar 2003 werden 60 Zeitzeugen und 20 Lehrer ins Sudetendeutsche Haus nach München eingeladen, und am 3. Februar 2003 trifft sich dieselbe Anzahl im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Damit werden nahezu alle Zeitzeugen, die sich für das Projekt zur Verfügung gestellt haben, die Gelegenheit einer Vorbereitung auf ihren schulischen Einsatz erhalten. Zudem plant das Bayerische Kultusministerium mit der Firma USM (United Soft Media) die Produktion einer DVD in der Reihe „Gegen das Vergessen“ zum Thema „Flucht, Vertreibung und Integration“, die allen bayerischen Schulen zur Verfügung gestellt werden, aber auch im Handel beziehbar sein wird. Sie soll der Öffentlichkeit mit der Vorstellung der Preisträger des Schülerwettbewerbs „Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn“ im Juli 2003 vorgestellt werden.
Ortfried Kotzian (KK)