Adolf Hampel
SCHEITERT DIE DEUTSCH-TSCHECHISCHE VERSÖHNUNG?

Es ist kein Zufall, daß die militärische Intervention der NATO zur Durchsetzung des Heimatrechtes von zwei Millionen Kosovo-Albanern in der Tschechischen Republik ein sehr zwiespältiges Echo findet. Es kann für das nationale Selbstgefühl nicht besonders schmeichelnd sein, daß die NATO einige Tage nach der Aufnahme des eigenen Landes einen Luftkrieg gegen Vertreibungen unternimmt, die der eigene Staat in noch größerem Umfang und mit vergleichbarer Brutalität vor 54 Jahren durchgeführt hat und – was am erschreckendsten ist – heute noch für „nicht widerrechtlich“ hält.

Die innertschechische Diskussion um die deutsch-tschechische Erklärung hat gezeigt, daß die Mehrzahl der tschechischen Politiker und Bevölkerung sich weigert, die „Abschiebung“ der seit Jahrhunderten im Land ansässigen Deutschen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen.

Was in den Jahren 1945/46 mit den übrigen drei Millionen Sudetendeutschen geschehen ist, kann sich die Weltöffentlichkeit angesichts der Elendszüge und -transporte aus dem Kosovo heute besser vorstellen als je zuvor. Traktoren und Pferdewagen durften die Sudetendeutschen allerdings nicht mitnehmen. Es ist verräterisch, wenn der tschechische Botschafter in Bonn sich darüber empört, daß „ausgerechnet in einer deutschen Zeitung“ ein Vergleich zwischen Milosevic und dem damaligen Präsidenten der Tschechoslowakei, Beneš, gemacht wird (FAZ 1999-04-13). Wo sollte denn ein so passender Vergleich gemacht werden, wenn nicht in einer deutschen Zeitung?

Beneš, der die Vertreibung eines Drittels der Bevölkerung der böhmischen Länder geplant, bei den Alliierten durchgesetzt hat und rücksichtslos durchführen ließ, hat ähnlich wie Milosevic Zehntausende Tote zu verantworten. Wenn diesem Politiker heute in der Tschechischen Republik Denkmäler errichtet werden, Straßen und Brücken nach ihm benannt werden, ist dies ein Zeichen dafür, daß weite Kreise der tschechischen Öffentlichkeit an einer Versöhnung mit den Vertriebenen überhaupt nicht interessiert sind.

Der ungarische Schriftsteller György Konrad wagt es, in den Vertreibungen der Deutschen Ähnlichkeiten mit den Judendeportationen der Nazis aufzuzeigen: „Die
nazistischen Deportationen können nicht die Aussiedlung der in Ungarn gebürtigen Schwaben legitimieren. Die Tat ist eine ähnliche, nur Täter und Opfer sind andere...
Reiseziel der deportieren Juden war das Konzentrationslager und mit großer Wahrscheinlichkeit der Tod, das der Volksdeutschen Westdeutschland und Österreich,
trotzdem sind unterwegs viele gestorben. Dennoch sind die beiden Ereignisse nicht jeweils das Gegenteil des anderen, sondern vielmehr verwandt miteinander“ (FAZ  1998-11-14).

Im Unterschied zur nazistischen Judenverfolgung hatten die Vertreiberländer keinen unerbittlichen Plan zur Ausrottung derer, gegen die sie schwere Verbrechen vorbereiteten und begingen. Sie betrieben „nur“ das, was heute ethnische Säuberung genannt wird.

Die Feindseligkeiten und wechselseitigen Verbrechen, die das Verhältnis der Deutschen zu den mittelosteuropäischen Vertreiberländern belasten, liegen mehr als 50 Jahre zurück. Deutschland hat gegenüber allen von Hitler vergewaltigten Ländern die deutsche Aggression und Okkupation sowie die damit verbundenen Verbrechen ohne Wenn und Aber verurteilt. Einzelne Vertreiberstaaten haben ebenfalls die Vertreibung als schweres Unrecht gebrandmarkt.

Unzweideutig hat das ungarische Parlament am 14. März 1990 festgestellt, „daß die 1944 begonnene Verschleppung und die dann folgende Aussiedlung der Ungarndeutschen ein die Menschenrechte schwer verletzendes ungerechtes Verhalten war“.

Mit dem tschechischen Volk, mit dem die in Böhmen, Mähren, Schlesien lebenden Deutschen ein besonders enges Beziehungsnetz hatten, bahnte sich über die demokratische Opposition schon vor der Wende eine so enge Zusammenarbeit an, daß wir, die wir daran beteiligt waren, annahmen, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus würden sich die Beziehungen zwischen unseren Völkern einvernehmlich und freundlich entwickeln.

Bald zeigte sich aber, daß uns die Schatten der Vergangenheit wieder einholten. Nach langwierigen Besprechungen und Verhandlungen rangen sich die Regierungen beider Länder am 21. Januar 1997 zu einer gemeinsamen Erklärung durch, die eine „dauerhafte und zukunftgerichtete Versöhnung“ zum Ziele hat.

Am 4. und 5. Dezember 1998 kam in Dresden zum ersten Mal das deutsch-tschechische Gesprächsforum, wie von der gemeinsamen Erklärung vorgesehen, zusammen. Die Präsidenten beider Staaten riefen dabei auf, das wechselseitig begangene Unrecht der Vergangenheit angehören zu lassen und die Beziehungen beider Völker auf die Zukunft auszurichten, wie es in § 4 der Erklärung heißt.

Auch betroffene heimatvertriebene Sudetendeutsche könnten dieser edlen Aufforderung nachkommen, wenn da nicht im gleichen Paragraphen der Respekt vor der Rechtsauffassung der anderen Seite zur Pflicht gemacht würde. Diese auf demf Gesetz 115 fußende Rechtsauffassung betrachtet alle an Deutschen verübten Taten zwischen dem 30. September 1938 und deni 28. Oktober 1945 als nicht widerrechtlich. Tatsächlich wurde die Wirkung dieses Gesetzes auch auf Taten, die nach dem 28. Oktober 1945 verübt wurden, ausgedehnt. Die Aufforderung, diese Rechtsauffassung zu respektieren, heißt nichts anderes, als eine juristische Rechtfertigung von massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinzunehmen. Zwar bedauert die tschechische Seite in § 3 der Erklärung, „daß es auf Grund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen und daß infolgedessen diese Taten nicht bestraft wurden“. Angehörigen von gefolterten und erschlagenen Opfern dieser Exzesse wird damit gesagt: Wir bedauern den Mord an deiner Mutter, an deinem Vater oder an deinem Kind. Aber dieser Mord war keine widerrechtliche Tat. Der uns bekannte Mörder bedarf für seine Straffreiheit keiner Amnestie und keiner Verjährung. Die deutsche Seite hat sich in der Erklärung verpflichtet zu respektieren, daß die tschechische Seite diese Rechtsauffassung hat.

Die Opfer gehen in die Zehntausende. Prozesse und Verurteilungen der Täter hat es nicht gegeben. Im Ungeiste dieser Rechtsauffassung kann Miloslav Sladek, Vorsitzender der tschechischen Republikaner, erklären: „Man hätte alle Sudetendeutschen erschlagen sollen. Dann hätten wir heute mit ihnen keine Probleme.“ Für tschechische Richter stellt diese Aussage auch 1998 keinen Straftatbestand dar.

Einerseits die Exzesse zu bedauern und andererseits an diesem Terrorgesetz festzuhalten, gleicht dem Wunsch: Wasch mich, aber mach mich nicht naß! Um dieses Kunststück fertigzubringen, wird die heilige Kuh der zu respektierenden Rechtsordnung erfunden. Die Nürnberger Rassegesetze gehörten auch einmal zur deutschen Rechtsordnung. Die Tschechoslowakei sorgte durch die der Vertreibung vorausgehende Behandlung der Deutschen für die Vergleichbarkeit mit Nazimethoden, indem sie die nazistischen Judengesetze – nicht die nazistischen Tschechengesetze – auf die Deutschen anwendete: Tragen eines Diskriminierungszeichens „N“; Konfiskation des gesamten beweglichen und unbeweglichen Eigentums; Kennzeichnung der Lebensmittelkarten; Verbot, auf dem Gehsteig zu gehen; unbezahlte Zwangsarbeit, Verbot des Schulbesuchs u. a. mehr.

Die Zeit, vor allem die soziale und wirtschaftliche Integration in die Bundesrepublik Deutschland, aber auch das Mitleid mit den von den Kommunisten unterdrückten und ausgeplünderten Tschechen, ließen die Bitterkeiten verblassen und Wunden heilen. Die Enttäuschung kam nach der Wende. je mehr der Kommunismus als der gemeinsame Feind aus dem Blickfeld geriet, desto deutlicher gaben demokratisch gewählte tschechische Politiker zu verstehen, daß sie die Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen als adäquate Reaktion auf die nazistische Okkupation betrachten, ja daß sie gemäß Gesetzt Nr. 115 die Ermordung von Zehntausenden Deutschen für nicht widerrechtlich halten. Der tschechische Regierungschef Zernan wird zudem nicht müde, die Sudetendeutschen als Hochverrät~r zu beschimpfen und mit Rechtsextrernisten und Kommunisten zu vergleichen.

Wie soll unter diesen Voraussetzungen angesichts wechselseitigen Unrechts der goldene Schlüssel zur Versöhnung, „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, funktionieren? Wir Sudetendeutschen haben genug Gründe, die Tschechen wegen der nazistischen Verbrechen und wegen unserer Mitwirkung daran um Vergebung zu bitten. Schwieriger wird es mit der Möglichkeit der Vergebung. Muß nicht der Täter beleidigt sein, wenn ihm etwas vergeben wird, was er selbst für nicht widerrechtlich hält? Die Beibehaltung einer derartigen (Un-) Rechtsordnung blockiert bei Betroffenen die angestrebte Annäherung und Versöhnung. Andere können sich offensichtlich leicht darüber hinwegsetzen.

Wer breiten Kontakt mit Betroffenen pflegt, kann feststellen, daß eine große Bereitschaft besteht, sich über Enteignung, Vertreibung und sogar über den Verlust von Angehörigen hinweg mit den tschechischen Nachbarn und einstigen Mitbürgern zu versöhnen. Aber es ist für sie eine Überforderung zu respektieren, daß die andere Seite diese Verbrechen nicht für widerrechtlich hält! Es ist reiner Zynismus, die Betroffenen dazu zu verpflichten. Der Respekt vor dem eigenen Staat und der eigenen Bevölkerung muß sehr niedrig sein, wenn man ihnen eine derartige Rechtsordnung zumutet. Andererseits müssen sich die tschechischen Bürger fragen lassen, wie sie in einem Staat, der massenhafte Verbrechen für nicht widerrechtlich hält, ihre eigenen Menschenrechte gesichert sehen können.

Nicht glücklicher als eine tabuisierte „Rechtsordnung“ ist die Erklärung, daß die Vertreibungsdekrete inzwischen „erloschen“ seien. Auch dieser Begriff setzt voraus, daß die Dekrete einmal Verbrechen gegen die Menschlichkeit legitimiert haben.

Vergangenheitsbewältigung mit Formulierungstricks zu versuchen, ist dem Ernst des Befundes nicht angemessen. Vor über zehn Jahren waren sich tschechische und deutsche Demokraten schon nähergekommen, wenn sie sich noch zu Zeiten der kommunistischen Diktatur in Prager Wohnungen trafen: Dana Nemcova, Jan Sokol, Pater Zverina, Pater Vaclav Maly, Pavel Bergmann, Rudolf Battek, zusammen mit Mitgliedern der sudetendeutschen Ackermann-Gemeinde. Wir hatten ein gemeinsames Ziel: Die Verteidigung der Menschenrechte und Menschenwürde aller Menschen, ganz gleich welcher Nation. Unser gemeinsamer Kampf galt aller menschenfeindlichen Politik und allen menschenfeindlichen Dekreten, ganz gleich, ob sie in München oder Prag, in Jalta oder Potsdam unterzeichnet waren.

Viele Pioniere der deutsch-tschechischen Versöhnung sind tief enttäuscht. Die Erwartungen, die sie jahrzehntelang motivierten, unter Risiken und erheblichen persönlichen Opfern an Zeit und Geld den Kontakt mit tschechischen Demokraten zu suchen und zu pflegen, sind nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht in Erfüllung gegangen. Ihre Erwartungen zielten nicht auf eine Restitution von Hab und Gut. Sie wehren sich aber dagegen, daß die Einsicht in die Unumkehrbarkeit der Geschichte zu einer Rechtfertigung vergangener Verbrechen pervertiert wird.

Die Arbeit, die sie unter schwierigen Bedingungen geleistet haben, war jedoch nicht vergebens. Sie haben dazu beigetragen, daß unsere östlichen Nachbarn die Sowjetunion bzw. Rußland nicht als Schutzmacht gegenüber deutschem „Revanchismus“ betrachten müssen. Damit haben sie Hindernisse auf dem Weg zu einer europäischen Völkergemeinschaft beseitigt. Neben dieser Genugtuung verbleibt die bittere Erfahrung, daß die Tschechische Republik sich als unfähig erweist, den sudetendeutschen Heimatvertriebenen eine moralische Wiedergutmachung zu leisten.

Abschließend möchte ich noch feststellen, daß die Frage nach der deutsch-tschechischen Versöhnung von der Frage nach den deutsch-tschechischen Beziehungen zu unterscheiden ist. Das Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik ist kaum noch zu überblicken. In allen Lebensbereichen haben sich die Beziehungen mächtig entwickelt: Wirtschaft, Sport, Kunst, Theater, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Schulen. In vielen dieser Bereiche wird die Frage nach der Versöhnung überhaupt nicht gestellt.

Anders verhält es sich in den Personenkreisen, die von der jeweils anderen Seite Leiden zu erdulden hatten, und bei jenen, die sich mit ihnen solidarisieren. Die Hoffnung der „Pragmatiker“ auf eine biologische Lösung der Versöhnungsfrage ist nicht nur zynisch, sondern auch unrealistisch. Es wird immer Menschen geben, denen die moralischen Fundamente einer Gesellschaft viel bedeuten. Wenn die Tschechische Republik auf diesen Personenkreis verzichtet, verliert sie sehr viel. Solange sie aber die Vertreibung der Sudetendeutschen für rechtens erachtet, wird sie diesen Personenkreis nicht gewinnen können; so lange wird es auch eine Versöhnung mit den Vertriebenen nicht geben können.

Katholischer Arbeitskreis für zeitgeschichtliche Fragen im Auftrag des Zentralkomitees der deutschen Katlioliken; Bonn, 21. Juni 1999.
Quelle: ISBN 3-87336-015-2 Gerhard Hess Verlag, Ulm.