Wechselstrom läßt Europas Boden zittern

(df) Ständig wird der Untergrund der Kontinente durch feine Schwingungen erschüttert, deren Ausschlagsweiten nur einige hunderttausendstel bis zehntausendstel Millimeter betragen. Ein großer Teil dieser mikroseismischen Schwingungen mit Frequenzen von einigen Sekunden stammt aus dem Nordmeer, wo sie zum Teil durch starke Brandung an der norwegischen Felsenküste, aber auch in Tiefdruckgebieten über der freien Wasserfläche durch einen unbekannten Übertragungsmechanismus ausgelöst werden. Diese Schwingungen sind so typisch, daß man sie im Zweiten Weltkrieg, als Informationen über die mitteleuropäische Großwetterlage nicht vorlagen, sogar für die Wettervorhersage zu nutzen versuchte.

Neben dieser vom Meer kommenden Bodenunruhe enthalten aber die Seismogramme fast überall in Europa auch eine sehr deutliche Spitze im Bereich von 2,0 bis 2,1 Hertz, die bisher unerklärt geblieben ist. Nach Untersuchungen von E. Wielandt, ETH Zürich, und A. Plesinger, Prag, entsteht diese Erscheinung durch Schwermaschinen, die von Wechselstrom-Synchronmotoren angetrieben werden. Durch eine sehr weitgehende Feinuntersuchung eines Seismogramms aus der Bebenstation Bühlerhöhe im Schwarzwald gelang der Nachweis, daß diese markante Bodenbewegung bei rund zwei Hertz aus zwei verschiedenen Komponenten besteht. Die eine ist außerordentlich stabil und gleichmäßig und liegt bei 2,083 Herz; die andere ist etwas weniger stabil und bewegt sich ebenfalls um diese Frequenz. Zeitweise überlagern sich beide Komponenten, wobei sich zeigte, daß diese Verschiebungen mit der jeweiligen Tageszeit in Verbindung stehen.

Immer wieder ist der Verdacht geäußert worden, daß diese Bodenunruhe eine künstliche Ursache habe und durch irgendwelche Einflüsse der Technik oder des Verkehrs hervorgerufen werde. Nun ist es nach Einrichtung einer seismischen Station in Ludwigshafen gelungen, dieses Rätsel zu klären. Dort fand sich die «stabile» Komponente der Zwei-Hertz-Schwingung besonders ausgeprägt, und man konnte einen großen Kolbenkompressor als ihre Quelle identifizieren, der sehr intensive Vibrationen bei 2,083 Hertz lieferte. Diese Frequenz entsteht durch den Antrieb des Kompressors mit einem elektrischen Synchronmotor, der – wie alle derartigen Maschinen – 24polig ist und so die 50-Hertz-Schwingungen des Wechselstromnetzes in Schwingungen von 2,083 Hertz umsetzt. Wie die beiden Wissenschafter berichten, liefert das zusammengeschaltete westeuropäische Wechselstromnetz die stabile Komponente, während die etwas weniger stabile aus dem östlichen Verbundnetz stammt. Zwar sind im zweiten Fall einzelne Motoren noch nicht als Quelle solcher Schwingungen identifiziert, doch arbeiten auch dort überall starke 24polige Synchronmotoren. Die 2-Hertz-Mikroschwingung des Untergrunds kann also als eine Art seismischer Umweltverschmutzung bezeichnet werden. Allerdings läßt diese Erklärung noch einige wesentliche Fragen offen. So ist es keineswegs selbstverständlich, daß man die Überlagerung zwischen den Schwingungen der Wechselstromnetze aus West und Ost selbst noch in einer Station in den Vogesen nachweisen kann. Daß solche Wellen trotz ihrer bescheidenen Energie überraschend weit wandern, wird auch durch Bebachtungen aus Norwegen und den USA bestätigt. Wie man vermutet, ist diese weite Ausbreitung nur durch irgendwelche heute noch unbekannte Eigenschaften der Untergrundgesteine möglich, die diese Schwingungen nicht als Oberflächenwellen übertragen – sie wurden in einem französischen Observatorium noch in 3048 Metern Tiefe registriert. Man hofft nun, diese Mechanismen eventuell durch eine genaue Kartierung der Ausbreitungsgebiete zu erkennen und dadurch zugleich genauere Informationen über den tieferen Untergrund Europas zu erhalten.

(NZZ 008 Seite 26, 1977-01-11)