„Das haben wir von den Deutschen“
Denn sie sind ein Teil unserer Identität:
Das neue Interesse der Tschechen an den Vertriebenen
Von Richard Szklorz

Bis heute steht in Karlsbad auf den meisten Kanaldeckeln die deutsche Inschrift „Stadtgemeinde Karlsbad“. Wahrscheinlich ist das dem Umstand zu verdanken, daß es in den Nachkriegsjahrzehnten an Kapazitäten für die Kanaldeckelproduktion gefehlt hat. Ansonsten war man in Böhmen nämlich sehr darum bemüht, alles, was irgendwie an deutsche Anteile in der Vergangenheit des Landes erinnerte, zu tilgen. Aus welchen Gründen auch immer die Kanaldeckel blieben, sie erinnern die Bewohner täglich daran, daß es in ihrer Stadt einmal eine andere, ihnen nicht vertraute Realität gegeben hat.

Die Vertreibung der Deutschen in den Jahren 1945/46 wurde in der kommunistischen Ära tabuisiert. Doch dadurch sei das Problem mit den ehemaligen Mitbewohnern nur eingefroren worden, meint Milan Augustin, Direktor des Staatlichen Bezirksarchivs im westböhmischen Karlsbad: „Es ist vor allem unser Problem, das Problem der Tschechen. Solange wir die Kanaldeckelinschriften mit Haß lesen, solange wir die Geschichte und Kultur der Sudetendeutschen nicht auch als unsere eigene annehmen, bleiben wir Fremde im eigenen Land.“

Milan Augustin ist mit seiner Sichtweise nicht allein. Das Verschwinden „unserer Deutschen“, wie die Sudetendeutschen in Tschechien genannt werden, beschäftigt den geschichtsbewußten Teil der tschechischen Gesellschaft zunehmend. Der Blick auf die binationale Geschichte wird inzwischen als eine Chance verstanden, sich mit einem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen und sich von ihm bereichern zu lassen. An vielen einst von Deutschen bewohnten Orten bemühen sich Einzelne mit außergewöhnlicher Intensität um die Aufarbeitung „blinder Flecken“ in der neueren Geschichte ihrer Region.

Einer davon ist Zdenek Mateiciuc, Sohn eines Neusiedlers in Odry, einem Industriestädtchen am Oberlauf der Oder, von der es einst seinen ursprünglichen deutschen Namen Odrau erhielt. Wie ein Besessener sammelt er alles, was an die früheren Zeiten seiner Stadt erinnert. Unzählige Kartons mit Archivdokumenten, alten Fotos, Briefen stapeln sich auf der Dachetage seiner Firma. Oft unternimmt er sogar komplizierte Suchaktionen, um Menschen, die diese Sachen zurücklassen mußten, oder ihre Nachkommen ausfindig zu machen. „Es ist nicht immer einfach, da sie häufig ihre Adresse gewechselt haben. Aber oft ist es mir mit Hilfe der Heimatvereine in Deutschland und ihrer Mitteilungsblätter gelungen“, erzählt Mateiciuc.

1945/46 verloren ganze Landschaften innerhalb von Monaten ihre ursprünglichen Bewohner. Die aus dem Landesinneren zugezogenen tschechischen Neusiedler hatten keine Beziehung zur Geschichte und zu den Traditionen der Orte, die nun in ihren Besitz übergegangen waren. Man verschwieg, daß hier noch vor kurzer Zeit Deutsche siedelten, wohnte aber in ihren Häusern, bestellte ihre Felder, benutzte ihren Hausrat – eine kollektive Lebenslüge. Jedes tschechische Kind, das im „Grenzland“ lebt, wie die Sudetengebiete bis heute bezeichnet werden, kannte den Satz: „To máme po Nemcích“ - „Das haben wir von den Deutschen“. Das konnte alles mögliche sein: Küchengeschirr, Betten, Spielsachen, ein Fahrrad, der Kinderschlitten, alles, was zum Inventar eines Hauses gehört. Denn bis auf 30 Kilo an Allernötigstem, das sie mitnehmen durften, mußten die Deutschen alles zurücklassen.

Heute öffnet sich vor allem die junge tschechische Akademikergeneration der verschwiegenen Vergangenheit, wie etwa Jan Cibulka, Student der Politischen Wissenschaften an der Universität im mährischen Olmütz. Vor einiger Zeit verfaßte er eine viel beachtete Studie über die Repression gegen die deutsche Bevölkerung in seiner Region nach Kriegsende. Auf die Frage, was ihn dazu bewegt habe, antwortet er leicht ironisch, eigentlich sei es die Wanduhr im Haus seiner Eltern gewesen, von der es hieß, man habe sie „von den Deutschen“. Der tägliche Blick auf die Uhr habe bewirkt, daß er anfing, sich für diese Menschen und die dramatischen Umstände ihres Verschwindens zu interessieren.

Besondere Verdienste um die Wiedererlangung der historischen Wahrheit haben sich die jüngeren Historiker und Archivare mit zahlreichen Publikationen und Regionalstudien erworben. Auch einem besonders heiklen Thema wird nicht mehr ausgewichen: der Vertreibungsmaschinerie und den damit zusammenhängenden Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Eine der wichtigsten Arbeiten zu diesem schmerzlichen Kapitel lieferte der Ostrauer Historiker Tomáš Stanek, dessen Studie „Verfolgung 1945“ inzwischen auch auf deutsch vorliegt.

Längst haben auch die tschechischen Germanisten entdeckt, daß es in ihrem Land nicht nur die Prager deutsche Literatur gab, mit der so berühmte Namen wie Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod oder Rainer Maria Rilke verbunden werden. Die Palacký-Universität in der alten barocken Stadt Olmütz hat sich mit ihrer „Arbeitsstelle zur Erforschung deutschsprachiger mährischer Autoren“ zum Vorreiter dieser Rückbesinnung gemacht. Dabei geht es nicht nur darum, die mährische Verwurzelung etwa einer so bedeutenden Schriftstellerin wie Marie von Ebner-Eschenbach bewußt zu machen. Auch weniger bekannte deutschsprachige Autorinnen und Autoren wurden dem Vergessen entrissen. Ein von dieser Abteilung herausgebrachtes „Lexikon deutschmährischer Autoren“ enthält über 120 Biografien, darunter zum ersten Mal auch diejenigen von Autorinnen und Autoren, die nach 1945/46 als Folge antideutscher Vertreibungsmaßnahmen das Land verlassen mußten.

Besonders bekannt wurden in den letzten Jahren die Aktivitäten der Brünner Gruppe „Antikomplex“, die sich den Kampf gegen die Fremdenfeindlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat. Ihre Mitglieder sehen in dem immer noch verkrampften Umgang der Tschechen mit ihrem deutschen Erbteil ein großes Hindernis zur tschechischen Identitätsfindung. Aus ihrer Arbeit ging die Wanderausstellung „Verschwundenes Sudetenland/Zmizelé Sudety“ hervor. Sie wurde bereits an mehreren Orten der Tschechischen Republik und vor kurzem in Berlin gezeigt.

Unzählige Projekte, die aus der engen Zusammenarbeit von sudetendeutschen Vertriebenenvereinen und von Bürgern und Gruppen in Tschechien entstanden sind, haben die beteiligten Menschen auf beiden Seiten näher gebracht. Vom Erfolg dieser „Volksdiplomatie“ zeugen restaurierte Kirchen, historische Gebäude, Friedhöfe und Gedenksteine in den teils immer noch durch das Verschwinden der ursprünglichen Bevölkerung geschädigten Landschaften.

Dennoch wäre es übertrieben, schon von einem gesellschaftlichen Trend zu sprechen. Noch ist es vor Wahlen in Tschechien bislang gang und gäbe gewesen, mit antisudetendeutschen Ressentiments auf Stimmenfang zu gehen. Andererseits steht das heute ethnisch fast „reine“ Tschechien vor dem Dilemma, auf die Geschichte eines einst binationalen Landes zurückzublicken. Bei der Reflexion des kulturellen Erbes geht es nicht nur um Wanduhren, Kanaldeckel, alte Fotos oder Kinderschlitten der Deutschen, sondern um das Überdenken des eigenen tschechischen Selbstverständnisses. Denn dieses Selbstverständnis hat sich über Generationen hinweg ethnisch definiert – und die komplizierte und eigentlich unzertrennliche Verwobenheit beider Gruppen ignoriert.

2005-01-10

http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/index.asp?gotos=http://archiv.tagesspiegel.de/toolbox-neu.php?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/10.01.2005/1582444.asp