Versöhnung mit den Sündenböcken
Die Vertriebenen und die historische Versöhnung mit Polen und Tschechien:
Günter Grass und Adam Michnik stoßen die Diskussion an.
Ausgerechnet Günter Grass! Die Polen feiern ihn seit langem als "wahren und großen Freund". Weil er Enkel einer Kaschubin ist, gilt er fast als einer der ihren. Die Verleihung des Nobelpreises an ihn wurde bejubelt. Jetzt hat Grass die polnischen Schriftsteller ermahnt, ein immer noch stark tabuisiertes Thema literarisch aufzuarbeiten: die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihm assistierte der frühere Dissident und jetzige Chefredakteur der liberalen Gazeta Wyborcza, Adam Michnik. Er nannte es eine große Verfehlung, daß die Polen solange das deutsche Kulturerbe, darunter Denkmäler und Friedhöfe, hätten verwahrlosen lassen. Beide sprachen auf einer Konferenz in Grass' Geburtsstadt Danzig zum Thema "Polnische, deutsche und europäische Probleme mit dem Gedächtnis". Die Gazeta Wyborcza, die größte Tageszeitung im ehemaligen Ostblock, berichtete darüber auf ihrer Titelseite.
Damit haben sich zwei prominente europäische Linksintellektuelle in einer Weise zu Wort gemeldet, die in Deutschland politisch nicht korrekt ist. Im innerdeutschen Diskurs ist seit langem das Thema Vertreibung auf die gern in die Nähe von Nazis gerückten "Vertriebenenfunktionäre" und die Landsmannschaften sowie deren Durchdringung und Unterstützung durch konservative Christdemokraten reduziert. Es reicht nur, sich die gerade erst verflogene Aufregung um das traditionelle Pfingsttreffen der Sudetendeutschen zu vergegenwärtigen. Was war geschehen? Die Landsmannschaft forderte eine "symbolische Entschädigung" für ihre Mitglieder, die nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Jahre lang in der Tschechoslowakei Zwangsarbeit leisten mußten.

Der Paradigmenwechsel
Dazu ist festzustellen: Diese Forderung ist moralisch nicht illegitim. Kollektive Zwangsarbeit ist ebenso wie die Vertreibung Unrecht, Kollektivstrafen widersprechen jeglicher abendländischer Rechtsnorm. Eine andere Frage ist, ob die Forderung politisch klug ist.
Die Argumentation der Bundesregierung, die Forderung liege nicht im Interesse der Bundesrepublik, ist durchaus stichhaltig; denn sie könnte weitere Reparationsforderungen von tschechischer Seite zur Folge haben. Die potentiellen begründbaren Ansprüche aus Prag würden jegliche Forderung der Sudetendeutschen bei weitem übersteigen.
Trotzdem entbehrt die namentlich von Außenminister Joschka Fischer wiederholte Behauptung, die organisierten Sudetendeutschen gefährdeten "die Versöhnung zwischen den Nachbarvölkern", der Logik. Denn historische Versöhnung kann nicht stattfinden, wie auch Grass und Michnik feststellten, wenn düstere Kapitel der Vergangenheit tabuisiert werden. Seit dem Alten Testament gilt das unbequeme Motto: "Versöhnung nur durch Wahrheit!" Es ist also verkehrt, die Landsmannschaft der Sudetendeutschen aus dem deutsch-tschechischen Dialog oder die organisierten Schlesier, Pommern, Ostpreußen aus dem deutsch-polnischen Dialog ausgrenzen zu wollen. So kompliziert und heikel es nun mal ist, ohne diese Gruppen bleiben alle Politikerworte von Versöhnung leere Phrasen.

Die Sudetendeutschen haben gemeinsam mit den anderen Heimatvertriebenen den größten Preis für den deutschen Besatzungsterror in Osteuropa gezahlt. Die Vertriebenen waren die Sündenböcke, durchaus im alttestamentarischen Sinne – für die Norddeutschen und Westdeutschen, für Schwaben und Bayern, die genauso Hitler bejubelten, aber weder den Terror der Roten Armee noch Lagerhaft noch den Verlust der Heimat erleben mußten. Daß die Vertreibung eine Folge der Naziverbrechen war*, daß sie in einem kausalen Zusammenhang dazu steht, wird auch von den meisten Vertriebenen nicht mehr in Frage gestellt. Deshalb haben die Landsmannschaften die jetzigen Grenzen längst anerkannt – oder, um im Bild zu bleiben, ihr Opfer akzeptiert. Weder für Polen noch für Tschechen stellen sie noch eine politische Bedrohung dar; auch die Forderung nach "symbolischer Entschädigung" für eine kleine Zahl früherer Zwangsarbeiter kann diese Bedrohung nicht sein.
Dennoch sehen sich die Vertriebenen zum zweiten Mal zum Sündenbock gemacht: Sie werden als Gegner der Aussöhnung mit den Nachbarn geschmäht, obwohl auch sie längst ihren Beitrag zum Dialog mit den Nachbarn leisten, indes kaum wahrgenommen vom offiziellen Berlin, Prag und Warschau.

Auf deutscher Seite liegen die Gründe auf der Hand: Für alle Westdeutschen war es bequem, jene Sündenböcke zu haben, die im materiellen Sinne Schuld beglichen. Immerhin dankten sie es zunächst den Vertriebenen mit politischer Solidarität: Die Vertreibung wurde in allen politischen Lagern als großes Unrecht angeprangert. Mit der Achtundsechziger-Generation vollzog sich indes ein Paradigmenwechsel: Die Vertreibung wurde nun als gerechte Strafe für die Kriegsverbrechen der Vätergeneration angesehen, die das den Vertriebenen angetane Unrecht um ein Vielfaches übersteigt. Gleichzeitig befürwortete diese Generation den Ausgleich mit den Opfern der deutschen Aggression, mit Polen, Tschechen und auch Russen. Wer angesichts der Debatte über Auschwitz auf Vertreibungsverbrechen hinwies, galt als Revanchist und Entspannungsgegner.

Noch immer scheint, daß nur diese Kategorisierung heute als politisch korrekt gilt. Noch immer werden führende Köpfe der organisierten Vertriebenen als Gegner einer Verständigung mit den Nachbarn angegriffen. Dabei stoßen die deutschen (altlinken) Kritiker und polnische wie tschechische Nationalisten in das gleiche Horn – ein kurioses Bündnis –, während die Liberalen bei den Nachbarn, siehe Michnik, keine Berührungsängste vor den Vertriebenen haben. Daß überdies in Polen und in Tschechien mittlerweile eine Vertreibungsdebatte eingesetzt hat, wird von jener Polit-Generattion kaum wahrgenommen.

Freilich gibt es entscheidende Unterschiede zwischen der polnischen und der tschechischen Debatte um die Nachkriegsjahre: In Polen ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs entstanden, mehr als ein Dutzend Bücher, Hunderte von Aufsätzen und Artikeln sind dazu erschienen; Außenminister Wladyslaw Bartoszewski zitierte 1995 vor dem Bundestag das berühmte Wort des Dissidenten Jan Jozef Lipski: „Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir anderen hinzugefügt haben."

In Tschechien findet die Debatte hingegen weitgehend im geschlossenen Zirkel der Historiker statt. Der frühere Dissident und jetzige Präsident Vaclav Havel hat vor einem Jahrzehnt den Versuch gemacht, eine öffentliche Debatte anzustoßen, mit dem Hintergedanken, seine Landsleute müßten eine Katharsis erfahren, um eine demokratische Gesellschaft aufbauen zu können. Doch Havel wurde von allen Seiten heftig angegriffen. Inzwischen erklärt er, die Sudentendeutschen hätten 1938 ihren Staat verraten. Die Frage, wie sehr sie damals, zum Zeitpunkt des Münchner Abkommens, von der nationalistischen Führung in Prag unterdrückt wurden, ist tabu.

Die Polen sind gegenüber den Tschechen psychologisch in einer deutlich besseren Ausgangslage: Sie können darauf verweisen, daß es die Siegermächte waren, die die Zwangsaussiedlung der Deutschen verfügt haben; sie haben daher nicht, wie die Tschechen, eigene Staatsbürger vertrieben**. Zudem wird die Gewissenserforschung der Polen, wie Lipski es nannte, begünstigt durch die Tatsache, daß das Land tief religiös geprägt ist. Polnische Katholiken fänden eine gemeinsame Sprache mit den organisierten Vertriebenen, deren Führung stets in den Kirchen verankert war. Die ethischen Kategorien Schuldbekenntnis, Vergebung und auch Verzicht sind beiden Seiten nicht fremd. Überdies verbindet die gemeinsame Erfahrung des Leides – auch Polen verloren ihre Heimat, Ostpolen wurde der UdSSR einverleibt.***

Derartige Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Sudetendeutschen und Tschechen nicht. Die Gazeta Wyborcza Michniks ließ polnische Historiker zu Wort kommen, die noch einen anderen Grund dafür sehen, warum sich die tschechische Gesellschaft so schwer tut. Der Alltag im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren sei neben dem Besatzungsterror in hohem Maß von Kollaboration geprägt gewesen. Je mehr ein Volk mit den Deutschen im Krieg kollaboriert habe, desto heftiger seien Aggression und Antipathie nach dem Krieg ausgefallen. Exzesse, wie es sie im Sommer und Herbst 1945 dutzendweise im Sudetenland gab – Massenmorde, Massenlynchjustiz –, sind aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße nur in Einzelfällen überliefert. Lipskl, ein Schicksalsgenosse Havels als Dissident, erklärt daher, daß die tschechische Gewissenserforschung noch ausstehe.

Schweigen und Trotzreaktion
Die deutsche Politik hat angesichts dieser Gemengelage nur einen kleinen Spielraum, aber es gibt ihn: die Förderung gemeinsamer Veranstaltungen, die gemeinsame Aufarbeitung neuer Schulbuchempfehlungen; die Zusammenarbeit bei der strafrechtlichen Verfolgung von Tätern. Dies bewegt sich jenseits der operativen Politik.
Auch deshalb ist die Forderung der Sudetendeutschen nach einer Entschädigung – und sei sie nur symbolisch – nicht klug; sie engt die Diskussion auf das Materielle ein. Doch es geht um mehr, es geht um das menschliche Bedürfnis, erlittenes Leid und auch Verzicht anerkannt zu sehen. Wie jeder, dem Unrecht widerfahren ist, verlangen und erwarten die Vertriebenen, daß ihr Schicksal von den Nachbarn nicht geleugnet und von den Landsleuten im Westen, für die sie stellvertretend bestraft worden sind, nicht bagatellisiert wird. Viele Erfahrungen belegen, wie ein Dialog zum Akt des Verzeihens führen kann, zur Verständigung – und auch zum Verzicht auf materielle Forderungen. Dies zeigt auch der lebhafte Dialog zwischen Polen und den deutschen Schlesiern, Pommern und Ostpreußen. Deren Landsmannschaften fordern keine finanzielle Entschädigung.

Die Forderung der Sudetendeutschen ist daher auch als Trotzreaktion auf die Verweigerung des Dialogs durch die tschechische Führung zu sehen. Hier kann und muß Berlin vermitteln, auch wenn hinter den Sudetendeutschen der innenpolitische Gegner steht. Es geht nicht um Innenpolitik, auch nicht um Kampagnenfähigkeit für irgendwelche Wahlen. Es geht um die Beseitigung von "Problemen mit dem Gedächtnis", letztlich um Wahrhaftigkeit als Voraussetzung für eine Versöhnung
THOMAS URBAN in der Süddeutschen Zeitung von 20. August 2000.

* Kommentar 1 zu der Behauptung, die Vertreibung der Ost-, Südost- und Sudetendeutschen sei eine Folge von Naziverbrechen:
Solche Behauptung ist eine Geschichtsklitterung ersten Ranges. Wer von den Vertriebenenfunktionären sich diesen Unsinn zu eigen macht, sollte ersteinmal lesen lernen und sich die Wahrheit erklären lassen.
Bereits 1917 haben größenwahnsinnige Tschechen (darunter auch der erste Präsident der nachmaligen Tschechoslowakischen Republik Tomas Masaryk) kundgetan, daß sie das gesamte Land bis Berlin, bis Nürnberg und Regensburg beanspruchen und daß sie alle Deutschen aus ihrer 700jährigen Heimat in den Böhmischen Ländern vertreiben wollen. (Die Beweise liegen vor in tschechischer und deutscher Sprache, auch eine englische Fassung des Buches "Unser Staat und der Weltfrieden" von Hanus Kuffer – tschechisch 1917/18, deutsch 1922, englisch 19?? – liegt in Bibliotheken aus.) Mit den allergrößten Lügen und Taschenspielertricks haben Masaryk und seine Genossen die Feindstaaten der Mittelmächte dazu bringen können, daß sie die tschechischen Anmaßungen für bare Münze nahmen und die "Mißgeburt Tschechoslowakei" (Original Kuffner, nicht mein Wortschatz!) in die Welt setzten. ML 2000-09-28

**Kommentar 2:
Die Tschechen haben in den Sudetendeutschen nicht eigene Staatsbürger vertrieben, sondern sie haben sich an den schutzlosen Angehörigen eines Nachbarstaates vergriffen.
Infolge der völkerrechtsmäßig einwandfreien Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich (durch die Abtretung der tschechischen Regierung und die Verfahrensregelungen im Münchener Abkommen unbezweifelbar rechtens) waren die Sudetendeutschen Bürger des Deutschen Reiches geworden – wenn sie nicht für die Tschechoslowakei optiert hatten und in die kleine Tschechoslowakei ausgewandert waren –. Diesen Staatsbürgern des Deutschen Reiches wurde nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. und 9. Mai 1945 die Tschechoslowakische Staatsbürgerschaft ungefragt aufgezwungen dadurch, daß die Tschechische Regierung wiederum, wie bereits zum 28. Oktober 1918, gegen jedes Völkerrecht verstoßend, die historischen Grenzen des Böhmischen Königreichs als die Grenzen der Tschechoslowakischen Republik beanspruchten. Durch die deutschfeindlichen Benesch-Dekrete wurden die Deutschen – ebenso wie die Magjaren – von allen ihren irdischen Gütern befreit, von der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft ebenfalls und Hunderttausende auch von ihrem Leben. Alles ungefragt. ML 2000-09-28

***Kommentar 3:
Das 1945 wiederum von der Sowjetunion an Weißrußland zurückgegebene Land östlich von San und Bug (nahezu übereinstimmend mit der vom Völkerbundskommissar Curzon in den späten Zwanzigerjahren (?) festgestellten Sprachgrenze) war mehrheitlich nicht von Polen, sondern von Weißrussen und Ukrainern bewohnt, mit großen Minderheiten von Polen und kleinen "Einsprengseln" von Deutschen, Tschechen, Ungarn, Litauern. Aus diesen Gebiten sind etwa 1 Millionen (?) Polen ausgewiesen und mit ihrem Hab und Gut ausgesiedelt worden. Einige davon sind in den menschenleer getriebenen deutschen Ostgebieten angesiedelt worden. Hierbei ist als günstigstes Mißverhältnis zwischen den Ausgetriebenen und den angesiedelten Ostpolen etwa 12:1 festzustellen. Vielleicht auch 20:1. Das heißt: um einem heimatlos gewordenen Ostpolen Platz zu machen, wurden mindestens 12 Deutsche verjagt oder totgeschlagen! ML 2000-09-28