Ein Fanal des Bombenkriegs
Stettin erlitt schon am 21. April 1943, was vielen Städten bevorstand und auch heute nicht ausgestanden ist.
„Terrorangriffe britischer Bomber richteten sich gegen Stettin und Rostock. Bomben-einschläge in Wohnvierteln und Krankenhäusern verursachten Verluste unter der Bevölkerung und zum Teil erhebliche Gebäudeschäden. Nachtjäger und Flakartillerie der Luftwaffe schossen nach den bisherigen Feststellungen 30 der angreifenden feindlichen Bombenflugzeuge ab. Ein weiteres wurde an der Kanalküste zum Absturz gebracht.“ So heißt es im Wehrmachtsbericht vom 21. April 1943, und so stand es nüchtern und kalt am 22. April 1943 in der „Pommerschen Zeitung“ und im „Stettiner General-Anzeiger“.
Doch hinter den wenigen Zeilen im Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht vom Vortag verbarg sich das schreckliche Schicksal der Bevölkerung der pommerschen Metropole, die den ersten schweren Nachtangriff britischer Bomber erleiden mußte.
499 Bomber vom Typ Lancaster und Halifax hatten einen fast tausend Kilometer von London entfernten Ort nicht nur erreicht, sondern die Todeszonen mit Leuchtmarkierungen exakt gekennzeichnet und die Stadt am Oderstrom schwer getroffen.

Das zufriedene Bomberkommando unter der Führung von Luftmarschall Arthur C. Harris war der Meinung, der Angriff habe sich gelohnt, schließlich seien 400 000 Quadratmeter der Innenstadt Stettins zerstört worden.
Die Briten nahmen den Verlust von 22 viermotorigen Maschinen mit je zwölf Mann Besesatzung in Kauf. Für die Menschen in Stettin war dieser erste schwere Bombenangriff ein Alptraum. Sie glaubten, in das Tor zur Hölle zu schauen. Keiner, der diese Nacht miterlebte, hat das Bellen der Flaksalven, das Krachen der Bomben, den Lärm der zusammenbrechenden Mauern, Dächer und Hausfassaden, den beizenden Rauch der Großfeuer und den süßlichen Geruch verbrannter Leiber jemals vergessen.
In diesem Inferno, entfacht von einer Last von 782 Tonnen Spreng- und Brandbomben, kamen 586 Menschen – darunter 89 Kinder – auf grausame Weise um. Die Stadt beklagte ferner mehr als 300 Schwerverwundete, mehr als 300 Vermißte, die verschüttet waren und niemals gefunden wurden, und etwa 25 000 Obdachlose. 1008 Wohngebäude waren total zerstört worden, 629 Häuser schwer beschädigt. Die vielen Toten wurden nach einer Trauerkundgebung auf dem Skagerrakplatz auf dem Hauptfriedhof in einem Ehrenhain beigesetzt. Dieser erste große Nachtangriff auf die pommersche Provinzhauptstadt verdeutlichte die vergrößerte Schlagkraft der britischen Bomberflotte. Danach wurde ein großer Teil der Stettiner Schulkinder im August 1943 nach Anklam und in andere Orte Pommerns gebracht. Zum Entsetzen vieler Eltern gerieten die nach Anklam evakuierten Kinder am 9. Oktober 1943 in einen Tagesangriff der US-Luftwaffe.
Getroffen wurden am 21. April 1943 in Stettin das Städtische Krankenhaus in der Apfelallee, das Fliedner-Kinderkrankenhaus in der Turnerstraße, das Amtsgericht in der Elisabethstraße, das Kino „Scala“ in der Falkenwalder Straße, das berühmteste Hotel der Stadt, „Preußenhof“ in der Luisenstraße, das Restaurant „Kaiserhallen“ am Kaiser-Wilhelm-Platz, das Herzogsschloß, die Lastadie, die Silberwiese, die Chemische Produktenfabrik in Pommerensdorf, Wohnviertel in Scheune, in der Sternbergstraße, am Torneyer Bahnhof, in der Berliner Straße, in der Schnellstraße. Ferner waren unter anderem betroffen die Große Ritterstraße, der Roßmarkt, die Kleine und die Große Wollweberstraße sowie die Mönchenstraße.
Das britische Kommando startete den unter dem Decknamen Sewin geführten Angriff auf Stettin im Anflug über Dänemark. Die Wucht des Bombardements, von grünen Zielmarkierungen in der Südstadt geleitet, verursachte 276 Feuer mit Flammensäulen bis zu 4000 Metern Höhe. Die Stettiner Feuerwehr war von diesem Inferno überfordert und bat um Hilfe aus Berlin. Doch die Feuerwehr der Reichhauptstadt, die selbst einen schweren Angriff erwartete, verweigerte sie. Da über Stettin in jener Nacht nahezu Windstille herrschte, wurde die Stadt an der Oder vor der völligen Zerstörung durch einen Feuersturm bewahrt. Die apokalyptischen Reiter sollten erst im folgenden Jahr ihr Zerstörungswerk vollenden.

Hans-Gerd Warmann Kulturpolitische Korrespondenz 1166 Seiten 7+8 (2003-04-20)