Gegen Stalins goldene Wörter

Während Zehntausende der Ermordung Liebknechts und Luxemburgs gedachten, traf sich am 12. Januar 2003 eine kleine Gruppe zu einer angemeldeten Demonstration am Treptower Park in Berlin. Vor dem Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten sprachen Sibylle Dreher vom Frauenverband im BdV und Theo Mittrup vom BSV „Wir schwimmen gegen den Strom – gegen den mainstream –, denn wir wollen uns nicht schuldig machen, daß wir nichts gesagt hätten, wenn die Politik allzu sehr an der Macht und nicht an den Menschen orientiert ist. Vom Standpunkt von Recht und Unrecht ist das Vergehen gegen vier Opfer genauso schlimm wie gegen 40 000 oder vier Millionen. Ein Unrechtsstaat ist in keinem Fall hinnehmbar, und deshalb wehren wir uns gegen Unrecht und Ungleichbehandlung von Gedenkstätten und Mahnmalen“, so die Worte Sibylle Drehers. Theo Mittrup erinnerte an Solschenizyn, Kopelew und andere sowjetische Offiziere, die ihren Einsatz für eine humane Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung mit Verbannung in den GULag bezahlten.

Am Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten – das zur Zeit auf Kosten der Bundesregierung aufwendig restauriert wird – sind in goldenen Lettern Stalins Zitate zur Ehrung der Roten Armee wieder gut lesbar, z.B.: „Zwei Jahrzehnte schützte die Rote Armee die friedliche Aufbauarbeit des Sowjetvolkes ...“, „Die in unserem Lande verankerte Ideologie der Gleichberechtigung der Rassen und Nationen, die Idee der Völkerfreundschaft hat den vollen Sieg über die Hitler-faschistische Ideologie des bestialischen Nationalismus und Rassenhasses errungen.“

Bei diesen Worten erinnerten sich die anwesenden Vertriebenen, die nach Sibirien Verschleppten und die ehemaligen Kinder, die bei der Flucht von der Sowjetarmee überrollt worden waren, an die bestialischen Szenen, die sie bis heute nicht vergessen können: Die Rotarmisten mißhandelten, vergewaltigten, mordeten, raubten und internierten die Deutschen – Kinder, Frauen und Greise. Sie waren aufgehetzt und benahmen sich wahrlich nicht im Geiste von Völkerfreundschaft und Gleichberechtigung aller Nationen“.

Es ist eine Sache, der Gefallenen zu gedenken – das ist selbstverständlich, und dafür legten die Demonstranten auch Blumen nieder. Es ist aber eine andere Sache, den Diktator und Massenmörder Josef Stalin mit seinen Zitaten zu präsentieren, die aus einer Zeit der Stalinverehrung stammen, die längst vorbei ist.

Es ist unerläßlich, daß die Menschen, die in der Anlage des Ehrenmals ihre Spaziergänge machen, auf Hinweisschildern über die wahren Taten Stalins informiert werden, nämlich die Unterdrückung von Millionen von Menschen in einer kommunistischen Diktatur und seine Verantwortung für den Tod von 42 Millionen Menschen. Bei der Demonstration gab es keinen Zulauf und keine Medienpräsenz, aber wir haben unsere Stimme erhoben und das Anliegen am nächsten Tag unseren Volksvertretern im Bundestag kundgetan. Wir wollen nicht mehr hinnehmen, was uns an menschenverachtender Ideologie in unserem Land unkommentiert präsentiert wird. Für eine solche Demonstration wird man nicht mehr eingesperrt, sondern von der Polizei geschützt – das ist die Freiheit, die wir uns nehmen!

Darüber hinaus hat eine damals nach Sibirien Verschleppte Strafanzeige gegen den Bundeskanzler als Vertreter der Regierung nach § 86 StGB „Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen“ gestellt. In Deutschland ist die KPD und in den GUS-Staaten die KPdSU verboten – auf sowjetischen Ehrenmälern aber darf die stalinistische Propaganda weiter unkommentiert zu lesen sein. Diese Freiheit geht zu weit und deshalb wurde am Treptower Park demonstriert.

Hilde Berlyser

 Entnommen dem „Stacheldraht 2003/1“ – Mitteilungsblatt des Bundes der Stalinistisch Verfolgten eV.