HNA 204 Seite 27, 1993-09-02

LANDKREIS SCHWARZEN BERG
Sechs Wochen ‚Freie Republik‘

VON JÖRG SCHURIG

Der Landkreis Schwarzenberg im Erzgebirge blieb 1945 sechs Wochen lang unbesetzt. Warum, wissen Historiker auch heute noch nicht genau.

Es muß doch irgendjemand kommen, die können uns doch nicht vergessen haben." Der Kommunist Paul Korb ist am Morgen des 9. Mai 1945 wie viele Einwohner von Schwarzenberg in Sachsen völlig ratlos. Zwar war die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sogar bis ins Erzgebirge vorgedrungen. Doch die Sieger zeigten auch in den folgenden Tagen keinerlei Interesse, in den Landkreis Schwarzenberg einzumarschieren. An dessen westlicher Grenze blieben die Amerikaner stehen, im Osten verharrte die Rote Armee. Schwarzenberg blieb sechs Wochen lang unbesetzt.

Dringliche Probleme
Die inzwischen legendäre Bezeichnung "Freie Republik Schwarzenberg" tauchte erst später in der Geschichtsschreibung auf. »Davon war im Mai und Juni 1945 überhaupt keine Rede", erinnert sich der 88jährige Paul Korb, damals "Innenminister" in der aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Parteilosen bestehenden Regierung. Es habe viel dringlichere Probleme gegeben, als an Eigenstaatlichkeit und eine Schwarzenberger Verfassung zu denken.

"Wir wußten damals genau, daß der besatzungslose Zustand nur eine Frage der Zeit sein würde. Als die Russen Ende Juni hier einmarschierten, waren viele von uns sogar froh, daß uns Aufgaben abgenommen wurden und es endlich wieder klar definierte Verantwortlichkeiten gab." Nicht alle werden das damals so gesehen haben. Bestimmt hätten die meisten der rund 300 000 Einwohner im Landkreis lieber die Amerikaner als Besatzungsmacht gesehen.

Warum Schwarzenberg inmitten des späteren Uran-Abbaugebietes wochenlang keinen Besatzer fand, ist bis heute nicht endgiiltig geklärt. Der Dichter Stefan Heym läßt in seinem Buch "Schwarzenberg" Kopf oder Zahl einer Münze darüber entscheiden, ob die Amerikaner in den Landkreis einmarschieren. Paul Korb glaubt an einen geographischen Irrtum, an eine Verwechselung des Flusses Mulde: "Es gibt hier drei Mulden. Die Amis haben vielleicht anstelle der vereinigten Mulde schon den gleichnamigen Fluß bei Zwickau als Endpunkt ihres Vormarsches in Südsachsen betrachtet."

Neuere Forschungen legen nahe, daß dem besatzungslosen Zustand wahrscheinlich Absprachen zwischen der Wehrmacht und der amerikanischen Armee vorausgingen. Für diese Annahme gibt es einige Belege. Nach Angaben des Publizisten Henry Köhler gab es zum Ende des Krieges mehrfach Kontakte zwischen Vertretern der Wehrmacht und der 3. US-Army. Dabei ging es unter anderem um eine "geordnete Übergabe"   noch geschlossener deutscher Verbände der Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner. Wenn schon Gefangenschaft, dann amerikanische. Dafür war allerdings die Mithilfe der US-Armee nötig.
Ein unbesetzter Landkreis konnte die ideale Pufferzone sein, um den Abzug deutscher Soldaten, Wirtschaftsexperten und Wissenschaftler in die bereits im September 1944 in London festgelegten Westzonen Deutschlands zu regeln. Laut Köhler ist es denkbar, daß die Amerikaner das westliche Erzgebirge nicht nur bewußt unbesetzt ließen, sondern dies auch den Russen verschwiegen. Die blieben, wie vorher wohl abgesprochen, an der Ostgrenze des Landkreises in Annaberg stehen. Stadtkommandant Hauptmann Mologow soll damals gesagt haben: "Ich habe Befehl bis Annaberg und nicht weiter."

Aktionsausschuß
Die Frage, warum gerade ihr Landkreis unbesetzt blieb, wurde für die 17 000 Schwarzenberger schnell vom harten Alltag verdrängt. Mit der Besetzung des Rathauses war am 11. Mai zunächst die alte Macht in der Person des Bürgermeisters gestürzt. Ein antifaschistischer Aktionsausschuß, der schon bald in den kleineren Orten des Landkreises Nachahmung fand, versuchte das Leben in Gang zu halten. Das bedeutete vor allem, Ruhe und Ordnung zu bewahren, Plünderungen in der von Hunger geplagten Region zu verhindern, Post, Energieversorgung und Verkehr zu organisieren.
Bei manchen Problemen wurden die Sowjets in Annaberg konsultiert, Treffen mit den Amerikanern gab es nach Aussagen von Korb seltener. Als dann die Sowjets eingerückt waren, mußten sich auf Anordnung der Kommandantur vom 24. Juni alle Aktionsausschüsse im Landkreis auflösen. Die "Republik für sechs Wochen" war Geschichte.

In Büchern nicht erwähnt
Paul Korb schaut nicht wehmütig auf diese Tage zurück. "Wir haben damals den Beweis erbracht, daß deutsche Antifaschisten auch ohne Besatzungsmacht aus dem Chaos heraus demokratische Strukturen aufbauen können." Traurig ist er darüber, daß die sechs Wochen keinerlei Erwähnung in den Geschichtsbüchern der DDR fanden. "Das war wohl für die in Moskau geschulte Führungscrew um Walter Ulbricht eine Prestigefrage. Es durfte nicht sein, daß da im Erzgebirge schon welche Revolution gemacht hatten."
(dpa)

Bildunterschriften:
Blick über Schwarzenberg mit Schloß und Kirche. Im Mai 1945 war hier zwar auch die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands angekommen, doch die Sieger zeigten keinerlei Interesse, in den Landkreis einzumarschieren.
und:
Der 88jährige Paul Korb war 1945 für sechs Wochen "Innenminister" der legendären "Freien Republik Schwarzenberg" im Erzgebirge. Warum der Ort inmitten des späteren Uran-Abbaugebietes zunächst keinen Besatzer fand, ist bis heute nicht endgültig geklärt. (dpa-Funkbilder)

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HNA 116 Seite 11, 1995-05-19

"REPUBLIK" SCHWARZENBERG
Zwischen Legende und Wirklichkeit

JÖRG SCHURIG

Als "Republik" Schwarzenberg ging der damalige Landkreis im Erzgebirge in die Geschichte ein: Rund sechs Wochen lang blieb das Gebiet nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unbesetzt.

SCHWARZENBERG. Der Autor Stefan Heym bat das „Problem Geschichtsschreibung“ in seinem Buch "Der König David Bericht" einst zum Thema gemacht. Mit seinem 1983 erschienen Roman "Schwarzenberg" trug er später selber zur Legendenbildung bei. Die Geschichte der "Freien Republik Schwarzenberg" geistert 50 Jahre nach ihrer Zeit meist als Mischung von Dichtung und Wahrheit durch die Medien.
Die historischen Abläufe von damals sind freilich ein Kuriosum und laden geradezu ein zum Fabulieren: Vom 9. Mai bis zum 24. Juni 1945 blieben 2000 Quadratkilometer Deutschland – der damalige Landkreis Schwarzenberg im Erzgebirge – von den Siegertruppen unbesetzt. In Selbstverwaltung versuchte ein Aktionsausschuß aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Parteilosen dort die Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu meistern.

Ein Irrtum?
Bislang ist nicht geklärt, warum die Amerikaner an der Westgrenze des Landkreises stehenblieben und die Russen im Osten verharrten. Die Meinungen reichen von Zufall bis geographischem Irrtum. Der Historiker Henry Köhler vermutet, daß es noch vor Ende des Krieges Absprachen zwischen Wehrmacht und Amerikanern gegeben habe, um mittels einer Pufferzone deutschen Soldaten den geordneten Übergang in die Kriegsgefangenschaft im Westen zu ermöglichen.
Der 90jährige Paul Korb, damals »Innenminister" im Schwarzenberger Aktionsausschuß, will der Legende um die Republik vorbeugen. "Der Begriff Regierung ist nie gefallen und zum Ausarbeiten einer Verfassung – wie sie bei Heym im Buche steht – hatten wir gar keine Zeit", sagt Korb. Eigenstaatlichkeit sei weder gewollt noch möglich gewesen.
Die Geschichte vom Entstehen der "Republik" liest sich wie ein Krimi mit komischen Elementen. Zunächst hatte es am 9. Mai in der Schwarzenberger Bevölkerung Verwunderung darüber gegeben, daß nach der Kapitulation Deutschlands niemand in der Stadt einmarschierte. "Die können uns doch nicht vergessen haben", beschreibt Korb das Gefühl vieler. Als sich nach drei Tagen noch immer nichts rührte, entschloß sich ein Dutzend Bürger zum Handeln. Zunächst mußte Verstärkung her.

Machtübernahme
Am Abend des 11. Mai versammelten sich rund 120 Erzgebirgler vor dem Schwarzenberger Rathaus. Dort wartete noch immer der von den Nazis eingesetzte Bürgermeister Ernst Rietzsch hilflos auf Weisungen. Nach Darstellung von Korb war die Machtübernahme nach einem kurzen Dialog beendet. Auf die Frage von Rietzsch: „Meine Herren, was geht hier los?“, antworteten die Revoluzzer entschlossen mit „Raus!“
Am Tage darauf wurde der Aktionsausschuß ins Leben gerufen. Der „Regierung“ gehörten 15 Männer und eine Frau an. Eine offizielle Eintragung darüber läßt sich im Schwarzenberger Kreisarchiv jedoch erst unter dem Datum vom 5. Juni finden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der Ausschuß an diesem Tage offiziell an die Seite des neuen Bürgermeisters Willy Irmisch berufen.
Als wichtigste Aufgaben erkannte die selbsternannte Exekutive die Probleme Ernährung, Verkehr sowie Ordnung und Sicherheit. "Außenpolitisch" wurde dabei vor allem mit der russischen Kommandantur im knapp 20 Kilometer entfernten Annaberg zusammengearbeitet. So nahmen Schwarzenberger "Republikaner" gemeinsam mit russischen Soldaten den ranghöchsten sächsischen Nazi, Gauleiter Martin Mutschmann, in seiner Villa in Tellerhäuser fest.
War das Leben in Schwarzenberg anfangs noch relativ autonom – der Kreis unterhielt für den Geschäftsverkehr mit einem Zudruck auf gewöhnlichen Banknoten selbsthergestelltes Geld und Briefmarken – , wurden die Amtsgeschäfte der Regierenden später mehr und mehr russisch geprägt. In einer gemeinsamen Beratung mit den Aktionisten am 20. Juni befahl die russische Kommandantur gar, die Moskauer Zeit für Schwarzenberg einzuführen. Vier Tage später wurde die Auflösung aller bestehenden Aktionsausschüsse bekanntgegeben.

Viele waren froh
Paul Korb: "Wir wußten genau, daß der besatzungslose Zustand nur eine Frage der Zeit ist. Viele von uns waren froh, als es endlich wieder genau definierte Verantwortlichkeiten gab." Nicht alle Schwarzenberger werden das damals so gesehen haben und hätten viel lieber die Amerikaner als Besatzungsmacht begrüßt. Der Traum von der Republik – falls es ihn bei einigen denn wirklich gegeben hat – war jedenfalls vorbei.
Nach den Worten Korbs bleibt Schwarzenberg dennoch der Beweis, daß deutsche Demokraten auch ohne Besatzungsmacht aus dem Chaos heraus demokratische Strukturen aufzubauen vermochten.
(dpa)

Bildunterschriften:
Blick auf Schwarzenberg mit der um 1150 entstandenen Burg und der St.-Georgen-Kirche. Vor 50 Jahren erlangt dioe Erzgebirgsstadt Berühmtheit, als der zeitweise unbesetzte Lankreis die "Republik Schwarzenberg" ausrief.
und:
Der 90jährige Paul Korb war unmittelbar nach Kriegsende Innenminister der "Republik Schwarzenberg". (dpa-Funkbilder)