Vom Pittsburger Vertrag zum ersten autonomen Slowakischen Staat

Ein slowakisches Problem gab es nach offizieller Ideologie der tschechoslowakischen Politik ursprünglich gar nicht, denn „Slowaken sind Tschechen, obwohl sie ihren Dialekt statt der Schriftsprache benutzen“. Dem entgegen ging die Konzeption des „tschechoslowakischen Volkes“ von der Existenz des tschechischen und des slowakische Zweiges aus.
Es war von Anfang an wichtig, daß bei der Gründung eines multinationalen Staates die Slawen darin eine deutliche Mehrheit haben müssen, sonst bestünde die Gefahr, daß die Tschechen in die Position eines beliebigen Volkes in dem neugegründeten Staat geraten könnten. Darüberhinaus betrachtete man die Aufnahme der Slowaken in den tschechoslowakischen Bund als ihre Rettung. Die Verbindung der Tschechen und der Slowaken zu einer künstlichen tschechoslowakischen Nation mit einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von knapp mehr als 66 Prozent schien damals keineswegs unnatürlich.

Die slowakische Politiker zu Hause und im Ausland hielten sich zunächst zurück. Am 20. Oktober 1915 beschlossen dann die Heimatverbände der Tschechen und der Slowaken in Amerika, gemeinsam vorzugehen. Das Resultat dieser Verhandlungen dokumentiert die sogennannte Cleveland-Vereinbarung. Darin erhob man Forderung nach einem souveränen föderativen Staat, der die nationale Autonomie der Slowakei garantieren sollte.

Die Anfänge der Republik wurden von Unsicherheiten auf beiden Seiten begleitet, sowohl auf der tschechischen als auch der slowakischen. Diese Unsicherheiten wurzelten vor allem in der Interpretation zweier grundlegender Dokumente, die das Zusammenleben beider Völker in einem gemeinsamen Staat betrafen – den Vertrag von Pittsburgh vom 30. Mai 1918 und die Deklaration von Sankt Martin vom 30. Oktober 1918.

In Pittsburgh in den USA vereinbarten siebzehn Exil-Slowaken, zwölf Exil-Tschechen und Tomas Garrigue Masaryk am 30. Mai 1918 die Schaffung eines „tschecho-slowakischen Staates“, der eine „Republik“ und „demokratisch“ sein sollte.
Darin wurde – man konnte sich hernach streiten, ob von bevollmächtigten Vertreten – vereinbart, „die Tschechen und Slowaken in einem selbständigen Staat zu vereinigen“, wobei die Slowaken „ihre eigene Verwaltung, ihren Landtag (Snem) und ihre Gerichte“ erhalten sollten – aber unter dem Vorbehalt, „die weiteren Einzelheiten über die Ausgestaltung des tschecho-slowakischen Staates…den befreiten Tschechen und Slowaken und ihren rechtmäßigen Vertretern überlassen“ zu wollen.. [GALANDAUER S. 299]

Hinsichtlich des Pittsburger Vertrages spricht man von zwei Versionen, der kalligraphischen Anpassung u.ä. Am 14. November unterschrieb Masaryk zum zweiten Mal die kalligrafischen Kopien den Pittsburger Vertrages [KALVODA S. 264, 451].

Es wird auch argumentiert, man habe zu der Sankt Martiner Deklaration einen geheimen Zusatz beschlossen, der die „Autonomie der Slowakei in nicht weniger als 10 Jahren“ vorsah. Laut Protokoll der Verhandlungen in Sankt Martin (Turcianský Svätý Martin) hätten die von Stodol zur Autonomie gemachten Vorschläge in der Tat am 31. Oktober 1918 noch zur Sprache kommen sollen. Doch die Mehrheit der Delegierten reiste schon am 30. Oktober 1918 nach der Wahl des Slowakischen Nationalrates und der Verabschiedung der Deklaration über die Eingliederung der Slowakei in den tschechoslowakischen Staat ab.

Weiter streitet man darüber, ob die Versammlungsteilnehmer von dem Ergebnis der Vertrag von Pittsburgh informiert worden waren. Manche Historiker sind davon nicht überzeugt [BARTLOVÁ S. 63]. Die Deklaration von Sankt Martin sprach etwa von der „Existenz der tschechoslowakischen Nation in Ungarn“, das slowakische Volk bezeichnete sie also als Bestandteil der tschechoslowakischen Nation.
Auch die Version, die Versammlungsteilnehmer hätten von der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik (Prag, 28. Oktober 1918) damals noch nichts gewußt und die Nachricht erst am Abend von Milan Hodža erfahren, der sie aus Budapest mitbrachte, wird oft zu Beurteilung der Gültigkeit der Textkorrekturen herangezogen. Diese Korrekturen wurden erst nach der Ankunft Hodžas gemacht und bestanden in der Streichung der slowakischen Forderung nach eigener Vertretung bei der Friedenskonferenz sowie des Passus, daß Österreich-Ungarn Wilsons Forderungen vom 18. Oktober 1918 nun angenommen hat und das slowakische Volk sich deshalb das Recht auf Selbstbestimmung vorbehält.

Das Ministerium für Angelegenheiten der Slowakei, das am 10. Dezember 1918 errichtet wurde, bestätigte das Ziel der Integration der Slowakei, und so war man überzeugt, daß die Tschechoslowakische Republik gar keine andere Form als die des unitarischen Staates haben kann.

Am 16. Juni 1919 bereits konstituierten Ungarn in Kaschau die Slowakische (Sowjet-) Volksrepublik, und es kam zur Unterzeichnung eines Vertrags mit Hodža über die provisorische Demarkationslinie in der Slowakei. Dieser slowakische Separationsversuch, der nur kurz vom 16. Juni 1919 bis zum 7. Juli 1919 dauerte, wurde durch die ungarische Annahme der Clémenceau-Note und den Rückzug der ungarischen Truppen aus der Slowakei beendet.

Die Frage der slowakischen Autonomie wurde zum ersten Mal im Gespräch des Andrej Hlinka und des Bischofs Dr. Kmet mit Tomas Garrigue Masaryk und dem Ministerpräsident Karel Kramár am 7. November 1919 in Prag verhandelt. In seiner Antwort auf die Anfrage des Dr. Derér in der Nationalversammlung wegen des Pittsburger Vertrages erklärte Dr. Vavro Šrobár, die slowakische Autonomie würde bedeuten, „die Slowakei nochmals den Ungarn in die Hände zu legen“, und Andrej Hlinka berufe sich zu Unrecht auf den Pittsburger Vertrag, denn da stünde geschrieben: „Die genaue Ausführung (…) bleibt (…) den befreiten Tschechen und Slowaken überlassen“. Und das sei schließlich auch geschehen , als am 30. Oktober 1918 in Sankt Martin die slowakischen Volksvertreter für die bedingungslose Einheit der tschechoslowakischen Nation gestimmt hätten. Die Interpretation des Pittsburger Vertrages rückte somit in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Autonomisten und den Fürsprechern einer gemeinsamen „tschechoslowakischen Nation“.

Die Frage tauchte in der Debatte über die Verfassung im Jahre 1920 in den Gesprächen der slowakischen Abgeordneten der Nationalversammlung mit dem Vorsitzenden der Slowakischen Liga in den USA, A. Mamatey, wieder auf. Damals erschien ein neuer Autonomieentwurf, dessen Verfasser Dr. Juriga war.
Im Jahre 1921 legte V. Tuka den Entwurf einer autonomen Verfassung vor.
Einen Verfassungsänderungsantrag, der die weitgehende Autonomie der Slowakei und der Karpaten-Ukraine vorsah, stellten am 25. Januar 1922 Abgeordnete der Volkspartei. Sie beklagten, daß die Verfassung kein Selbstbestimmungsrecht des slowakischen Volkes vorsehe.
Im Jahre 1928 kam V. Tuka erneut mit der Forderung nach einem neuen Vertrag zwischen Tschechen und Slowaken. In seinem Brief vom 12. Oktober 1929 an Pater Andrej Hlinka, Vorsitzer der Slowakischen Volkspartei, bezeichnet Masaryk den Pittsburger Vertrag als Fälschung [KALVODA S. 264].

In der Abwehr der Autonomisten kopierte dann die Prager Regierung genau ihre Vorgehensweise gegen die deutsche Minderheit und beging dabei die gleichen strategischen Fehler.

Das slowakische Volk konnte im gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken bis 1938 keine autonome Stellung erreichen.

Es passierten auch politische Fehler. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung, als in der Slowakei Mangel an geeigneten administrativen Kräften herrschte, wurden diese aus den tschechischen Ländern importiert. Sie leisteten einerseits wertvolle Hilfe, andererseits haben sie sich es nicht nehmen lassen, bei jeder Gelegenheit die „slowakische Rückständigkeit“ zu kritisieren. 150 000 tschechische Fachkräfte arbeiteten, teilweise auf Dauer, in den slowakischen Ämtern und bildeten 80 Prozent der Belegschaft (60 Prozent der Finanzbeamten und 90 Prozent der Polizisten in der Slowakei waren Tschechen), und dies zu einer Zeit, als viele der slowakischen Hochschulabsolventen arbeitslos waren.

Negativ auf die Beziehung zwischen den beiden Völkern wirkte sich die große Wirtschaftskrise aus, die den Nationalismus auf beiden Seiten noch mehr schürte. In der Slowakei wuchs das Verlangen nach Autonomie, Prag stärkte den Zentralismus („Tschechoslowakismus“). Noch in der Mitte des Jahres 1938 verlangte der Staatspräsident Edvard Beneš die strikte Ablehnung der slowakischen Nationalismus und die bedingungslose Anerkennung der tschechoslowakischen Einheit auf der Basis des „tschechoslowakischen Volkes“. Beneš hat bis zu seinem Tode Tschechen und Slowaken als ein einziges Volk bezeichnet.

Erst als die Republik von außen bedroht wurde, wuchs die Kompromißbereitschaft. Am 14. November 1938 trat das Föderationsgesetz in Kraft, es handelte sich aber bereits um die sogenannte Zweite Republik, einen (infolge der Trennung der industrialisierten Sudetendeutschen Gebiete vom tschechischen Binnenland und seine Angliederung an das Deutsche Reich) praktisch nicht mehr lebensfähigen Staat.

Am 14. März 1939 beschloß das slowakische Parlament die Gründung des eigenständigen slowakische Staates (Slovenský štat – Gesetz Nr. 1/1939 Samml.). Die neugegründete slowakische Staat wurde laut Verfassung vom 21. Juli 1939 zum „nationalen christlichen Staat“ deklariert.

Nach der Volkszählung vom 31. Dezember 1938 lebten in der Slowakei 77 488 Tschechen und 138 347 Deutsche.
Die Slowakische Regierung beschloß am 18. März 1939, alle tschechischen Beamten und Staatsangestellten zu entlassen, am 23. März 1939 wurden die tschechische Soldaten, am 24. März 1939 die Polizeibeamten evakuiert. In diesen beiden Fällen handelte es sich um organisierte Aktionen, der Exodus der Zivilangestellten blieb ihnen überlassen, und oft genug wurde sie dabei von der Hlinka-Garden noch beraubt.

Das Konzept einer Nation zweier Stämme, sollte es vom Masaryk persönlich und politisch ernstgemeint worden sein, wurde nach 1918 nicht verwirklicht, auch wenn in den Jahren 1926-1929 gewisse hoffnungsvolle Schritte unternommen wurden. Weder die Tschechen, die hier die meiste Verantwortung tragen, noch die Deutschen konnten die Last der Vergangenheit überwinden. Die Angst vor „unseren Deutsche“ führte zur Wachsamkeit der Tschechen vor jeder Bemühung der Slowaken um den politischen Ausdruck ihrer Souveränität. Was, wenn dies zu mehr Forderungen auf der Seite der Deutschen führen würde? Darüberhinaus wirkte hier das tschechische Vorurteil, daß sich Slowaken und Tschechen immer mehr annähern werden, bis sie mit ihnen schließlich verschmelzen. Für die Slowaken war dies ein Ausdruck des überheblichen Paternalismus, der sie beleidigte.

Pardubitz 2. März 2004

Franz Chocholatý Gröger

Galandauer, Vznik Ceskoslovenské republiky 1918, Praha 1988, Dokument Nr. 14, S. 299

Bartlová A. Andrej Hlinka, Bratislava 1991, S. 63:
... behaupten sie, sie hätten es erst am Anfan des Jahres 1919 anläßlich eines Besuches von Hlinka und Kmet bei Masaryk und Dr. Kramár erfahren. ...

Kalvoda Josef, The Genesis of Czechoslowakia, East European Monographis Bonderder, New York 1996,
Tschechisch: Genese ceskoslovenska, Praha 1998, ISBN 80-85846-09-8, S. 263-264, 418-419, 451

Chocholatý Franz,
Möglichkeiten einer gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik für die Tschechischen Republik und für Deutschland,
Manuskript in Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn