Aus dem Abseits herausgeholt
Flucht und Vertreibung wird Pflichtlehrstoff in Baden-Württemberg
"Die ostdeutschen Vertriebenen sind für die Erweiterung der EU nach Ostmitteleuropa Brückenbauer und daher wertvollstes Saatgut für das geeinte Europa".
Mit diesen Worten begrüßte der Landesbeauftragte für Vertriebene und Flüchtlinge, Staatssekretär Willi Stächele MdL, am 9. Mai 2000 in der Villa Reitzenstein, dem Dienstsitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten in Stuttgart, 26 Vertreter der ostdeutschen Vertriebenenpresse, darunter der "Kulturpolitischen Korrespondenz".
Im Mittelpunkt der Arbeitstagung stand die höchst erfreuliche Aussage Stächeles, daß die Vertreibung der Ostdeutschen aus ihrer angestammten Heimat künftig Pflichtlehrstoff an den baden-württembergischen Schulen werden wird. Angesichts der traurigen Aktualität von Vertreibungen in Europa unserer Tage sei eine entsprechende Vereinbarung mit der Kultusministerin Annette Schavan bereits getroffen worden: Die Jugend könne nur dann Lehren aus der Geschichte für ihr eigenes Leben ziehen, wenn sie wisse, was die Vertreibung ihrer Eltern und Großeltern aus dem deutschen Osten, aus Eger und Stettin, aus Breslau, Danzig, Königsberg und Stolp wirklich bedeutet habe und noch heute, durch den Heimatverlust, bedeute.
Deshalb erhielten die Organisationen der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg gerade jetzt, da sie durch eine verantwortungslose Kulturpolitik des Bundes in die Bedeutungslosigkeit, ja bis in die Verzweiflung getrieben würden, jedenfalls von Suttgart aus eine neue, zukunftsverheißende Aufgabe. Es verstehe sich von selber, daß die bisherigen Landesmittel für die Vertriebenenförderung in Höhe von 9,4 Millionen DM aufrechterhalten blieben. Zur Vorbereitung des neuen Pflichtlehrstoffes an den Schulen werde eine eigene Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem "Bund der Vertriebenen" und dem "Haus der Heimat" in Stuttgart erarbeitet werden, wofür auch die vor etwa 30 Jahren von der Stiftung "Haus der deutschen Ostens" in Düsseldorf nach Baden-Württemberg übernommene Informationsschau über die Deutschen im Osten "Leistung und Schicksal" (das Begleitbuch ist 1967 bei Böhlau in Köln erschienen), die damals der heutige Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Professor Dr. Eberhard G. Schulz, wissenschaftlich gestaltet hat, herangezogen werden kann.
Die baden-württembergische Initiative, die Vertreibung der Ostdeutschen neu im Bewußtsein der Jugend zu verankern, ist eine der lobenswertesten Taten im Vertriebenenbereich seit Jahrzehnten. Sie verfolgt sicherlich auch den Zweck, die Vertriebenen verstärkt wieder am politischen Geschehen als aktive Partner teilhaben zu lassen, sie also aus der Wahlenthaltung und aus dem politischen Abseits herauszuholen. Die Landtagswahl 2001 wirft also bereits jetzt ihre Schatten voraus.
"Völlig zu Unrecht", so Staatssekretär Stächele abschließend, "sind die deutschen Vertriebenen jahrzehntelang geradezu offiziell vergessen und verdrängt worden, obwohl wir ihnen doch in allen Teilen Deutschlands den raschen Wiederaufstieg nach der Niederlage von 1945 aus den Trümmerwüsten unserer Städte verdanken."

Ein Beitrag von Albrecht Jebens aus der
"Kulturpolitischen Korrespondenz"
1112/1113 vom 30. Mai 2000