2004-05-24 Politik De facto und de jure im Gebiet Kaliningrad

Amerikanische Rußland-Experten haben Dokumente vorbereitet, in denen die „neue Politik“ der USA gegenüber der Kaliningrader Exklave klar festgelegt wird. Von diesen Dokumenten ausgehend gelangt man zu dem Schluß, daß das Hauptziel dieser Politik in der Abtrennung des ehemaligen Ostpreußens von Rußland besteht. Zuerst de facto und dann auch de jure. Die erste Etappe dieses Programms ist praktisch schon erfüllt worden. Nach dem Beitritt der Baltikum-Staaten zur Nato und zur EU befindet sich das Gebiet Kaliningrad im Grunde in der Situation einer doppelten Blockade – einer militärischen und einer wirtschaftlichen. Dabei kann Rußland nach Ansicht der amerikanischen Experten weder die eine noch die andere durchbrechen.

In Erinnerung daran, daß Rußland Atomwaffen besitzt, setzt Washington diesmal offenbar nicht auf militärische Gewalt, sondern auf die Wirtschaft. Als Mittel zur Erreichung des Hauptziels dienen mehrere hundert russisch-polnischer, -deutscher, -dänischer, -finnischer und sonstiger Joint Ventures, die sich in der Exklave etabliert haben. Nach Ansicht von Experten bilden einzig diese Unternehmen, die erhebliche Steuer- und Zollvergünstigungen genießen, die Grundlage der regionalen Wirtschaft.

Für die weitere „Europäisierung“ Kaliningrads werden westliche Experten in nächster Zeit vorschlagen, die Region in die Schengen-Zone aufzunehmen. Aber unter der Bedingung der vollen Entmilitarisierung der Exklave. Dabei werden sie ihre Vorschläge an die russischen Initiativen binden. Es sei daran erinnert, daß gerade Moskau 1997 eine Abrüstungsinitiative für Nordeuropa unterbreitet hatte.

Die Erklärung des russischen Präsidenten hatten damals die Staatschefs aller skandinavischen und Baltikum-Länder unterstützt. Aber in der Praxis hatte nur Moskau seine Truppengruppierung wesentlich – um 40 Prozent – reduziert, wobei die Nato laut Militärexperten ihre Gruppierung in der Region hingegen um 25 bis 30 Prozent, hauptsächlich um die Streitkräfte Polens und der baltischen Staaten, ausbaute.

Nun wird Rußland nach der Meinung der US-Experten nichts anderes übrig bleiben, als die Weiterentwicklung seiner eigenen Friedensinitiative zu unterstützen.

Die wirtschaftliche Selbständigkeit der Region wird die politischen Kräfte anheizen. Dann werden ein Referendum und die Scheidung der „ungleichen Ehe“ mit Rußland folgen.

Die Appelle Moskaus an die OSZE, die als Garant der Unabänderlichkeit der Grenzen in Europa gilt, werden nichts bringen. Die Schlußakte von Helsinki, in der das Prinzip der Unabänderlichkeit der Nachkriegsgrenzen in Europa verankert ist, bedeutet heute nach der Meinung von Politologen kaum mehr als der Wiener Kongreß von 1814.

Diese Prognose steht in vieler Hinsicht im Einklang mit dem Bericht „Globale Tendenzen für den Zeitraum bis 2015“, der Ende April in der Internet-Seite der CIA veröffentlicht wurde. Auf der Landkarte, die dem Bericht beigefügt ist, sind interessanterweise weder das Gebiet Kaliningrad noch die Kurilen eingezeichnet. Die Experten führen diesen Umstand darauf zurück, daß Kaliningrad und die Kurilen zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr Rußland gehören sollen.

Für die russische Regierung waren die Ideen der amerikanischen Experten bezüglich Rußlands keine Überraschung. Im Gegenteil, im Außenministerium, im Verteidigungsministerium und in anderen zuständigen Behörden arbeitet man gegenwärtig an Maßnahmen zur Verteidigung der nationalen Interessen.

Im militärischen Bereich bestehen diese Maßnahmen in der „Politik der Zurückhaltung“ im Nordwesten. So planen russische Militärexperten unter anderem für die nächsten zwei bis drei Jahre eine Verstärkung der Ostseeflotte, der Fliegergruppe und der Luftabwehr des Leningrader Militärbezirkes.

Im Bereich der Wirtschaft steht eine Beschränkung und dann auch die Einstellung des russischen Gütertransits über die Häfen Klaipeda (Memel), Tallinn(Reval) und Ventspils (Windau) der Baltikum-Staaten bevor. Dabei werden sich die auf Gütertransporte in der westlichen Richtung orientierten russischen Speditionsfirmen auf die Nutzung der russischen Ostseehäfen umorientieren müssen. Für deren Entwicklung planen Sankt Petersburg, Kaliningrad (Königsberg), Primorsk (???) und Ust-Lugansk (???) eine wesentliche Erhöhung der Kapitalanlagen und Subventionen.

An der „diplomatischen Front“ sind zwei Ziele abgesteckt worden: die weitere Erweiterung der militärpolitischen Präsenz der USA und der Nato im Baltikum einzudämmen und die Anstrengungen zu aktivieren, um mit Litauen schnellstens ein zwischenstaatliches Abkommen über Transittransporte durch das litauische Territorium abzuschließen. Die bestehenden Abkommen, die der Chef der Rodina-Fraktion Dmitri Rogosin als Sprungbrett für die Duma-Wahlkampagne benutzt hatte, sind nach der Bewertung der russischen Diplomaten nichts anderes als „gute Absichten“ Litauens. „Vilnius kann diese Abkommen jederzeit kündigen, da diese nicht den entsprechenden staatlichen Status haben“, sagen die Experten im russischen Außenministerium. Daß es Rußland gelingen wird, eine Transportroute über die Ostsee und den Luftraum darüber zu organisieren, ist kaum wahrscheinlich. Nach Berechnungen des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums würden Transporte über diese Route unwahrscheinlich teuer sein.

Generaloberst Viktor Sawarsin, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Duma, der mehr als vier Jahre als russischer Vertreter bei der Nato tätig war und die Allianz „von unten“ kennt, kommentiert die künftige Situation rund um die Kaliningrader Exklave so:

„Der negativste Aspekt der Nato-Erweiterung ist, politisch gesehen, der Umstand, daß die Allianz die Kaliningrader Exklave von Rußland abgeschnitten hat. Damit wurden Voraussetzungen dafür geschaffen, Rußland unter Druck zu setzen – unter Androhung der Stationierung zusätzlicher Nato-Truppen auf dem Territorium der neuen Mitgliedstaaten. Übrigens sind die Sperrflüge der Nato-Kampfjets im Luftraum der Baltikum-Staaten als erstes Beispiel dieses Drucks anzusehen.

In militärpolitischer Hinsicht gibt es noch mehr negative Aspekte. Es handelt sich vor allem um die wesentliche Erweiterung der Infrastruktur und die Schaffung günstiger Bedingungen für die Stationierung großer vorgeschobener Truppengruppierungen der Nato. Um die Erhöhung der Reichweite der taktischen Fliegerkräfte der Nato bis auf 1 600 Kilometer, die dazu führte, daß praktisch alle Ziele im europäischen Teil Rußlands jetzt für die Nato-Kampfjets erreichbar sind. Und nicht zuletzt um die Teilung des Stützpunktes der russischen Ostseeflotte in zwei Teile: Kaliningrad und Finnischer Meerbusen. Im Grunde ist die russische Ostseeflotte jetzt im Finnischen Meerbusen eingesperrt, während ihr Kaliningrader Teil im Falle eines Militärkonfliktes mit der Nato schnell zerschlagen werden kann, da er von allen Seiten eingeschlossen ist“.
(Vitali Strugowez, militärischer Beobachter der RIA „Nowosti“)

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