Das Ostpreußenblatt 1995-04-22 – Folge 16 – Seite 5


Aufruf:
Prager Intellektuelle für Versöhnung
„Die Vertreibung beim Namen nennen“
– Heftige Attacken aus Politik und Medien –

Am 27. März 1995 wurde in Prag ein Aufruf tschechischer und deutscher Intellektueller unter dem Titel „Versöhnung 95“ veröffentlicht. Unter den tschechischen Unterzeichnern des Appells finden sich prominente Zeitgenossen wie der ehemalige Ministerpräsident Petr Pithart der ehemalige Vizepräsident des tschechoslowakischen Parlaments Jan Sokol, der Politologe und Historiker Emanuel Mandler und viele andere mehr oder weniger bekannte Namen. Der Aufruf verläßt die altbekannten tschechischen Positionen, die in letzter Zeit z. B. auch der Staatspräsident Havel in seiner viel Aufmerksamkeit erregenden Ansprache an der Karlsuniversität wiederholte.

Zu den wichtigsten geschichtlichen Thesen des Aufrufs gehören die namentliche Bezeichnung der Geschehnisse der Jahre 1945-46 als Vertreibung und die Anerkennung der Tatsache, daß das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen bei der Gründung der Tschechoslowakei nicht beachtet wurde. Weiter wird die tschechische Regierung aufgefordert, umgehend Verhandlungen mit der sudetendeutschen Repräsentanz aufzunehmen. Zum Gegenstand der Verhandlungen sollten alle Fragen gemacht werden, die für offen gehalten werden. Der Appell schlägt weiter vor, ein gemeinsames Aktionsprogramm für die Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Sudetendeutschen sowie eine gemeinsame Stellungnahme zur Geschichte zu erarbeiten.

Das Dokumentzeigt, daß Gruppen, die ein differenzierteres und objektiveres Geschichtsbild vertreten, endlich den Mut aufbringen, ihre Vorstellungen öffentlich zu artikulieren. Die Unterzeichner haben mit heftigen Angriffen zu rechnen, die von weiten Teilen der tschechischen Presse bereits gestartet wurden. Keine politische Partei stellte sich hinter den Aufruf, der Ministerpräsident Klaus distanzierte sich umgeend. Einige Zeitungen finden wieder einmal den willkommenen Anlaß, über den Verrat von nationalen Interessen zu schreiben. Für Disziplinarmaßnahmen gegen die Unterzeichner hat sich bereits der Rektor der Karlsuniversität Prof. Malý, ausgesprochen. Deswegen muß der Aufruf als ein mutiges Zeichen verstanden werden, das nicht ohne Beachtung verhallen sollte. Die Wochenzeitung „Literárni noviny“ veröffentlichte in der Ausgabe vom 6. April einen offenen Brief an die sudetendeutschen Landsleute, der als Begleitung zu dem am 27. März veröffentlichten Aufruf „Versöhnung 95“ gedacht ist. Der Text des Briefes ist so interessant, daß er eine ungekürzte Übersetzung verdient:

„Geehrte Landsleute,
Der Versuch einer neuen Etappe der tschechisch-deutschen Beziehungen, den Vaclav Havel im Jahre 1989 eingeleitet hatte, geriet in der letzten Zeit ins Stocken und manchem scheint es, daß er zum Stillstand kam. Suchen wir nicht die Schuld nur auf der einen oder anderen Seite. Es ist möglich, daß mdie zwischenstaatliche Politik heute wirklich nichts mehr machen kann. In der erstarenden Atmosphäre der letzten Jahre nämlich kann jede entgegenkommende Geste als ein Ausdruck der Schwäche begriffen werden und kann bei manchen Menschen unerfüllbare Hoffnungen wecken.

Das diesjährige Jubiläum wird wieder nicht nur an das Ende des Nazismus und an die Beendigung des furchtbaren Krieges erinnern, sondern auch an die darauffolgende Gewalt. Die Vertreibung der Sudetendeutschen gehört vielleicht der Geschichte an, sie bleibt für uns aber eine Tat, die wir nicht rechtfertigen können. Diejenigen von Ihnen, die sich eine lebendige Beziehung zu der alten Heimat bewahrt haben, halten wir nach wie vor für unsere Landsleute. Aller nicht im Sinne des Münchener Abkommens, das aus Ihnen Bürger eines anderen Staates machte, sondern als solche, die in diesem Lande geboren wurden und viel für das Land geleistet haben. Das Recht auf Heimat, worüber man unter Ihnen oft spricht, begreifen wir als das Recht jedes Menschen, sich irgendwo heimisch zu fühlen und dort als ein Landsmann empfangen zu werden, nicht als ein Fremder oder sogar Eindringling.
Wir beachten, daß Ihnen das Schicksal dieses Landes nicht gleichgültig ist, und fühlen uns mit Ihnen in dieser Angelegenheit mit Banden verbunden, welche sich nicht in juristischen und politischen Begriffen ausdrücken lassen.
7. März 1995
Jan Sokol, Dana Nemcová, Václav Petruška Šustrová, Petr Pithart, Vladimir Just, Aleš Opatrný, Anastáz Opasek, Petr Príhoda, Otokar Mika, Oto Mádr, Petr Placák“.

ML 2004-01-04