Der Traum der Ränder
Mitteleuropa – eine Vision erfüllt sich und lebt als Utopie weiter
 

In den achtziger Jahren nahm ein Begriff seinen glänzenden Aufstieg, den man für tot gehalten hatte: Mitteleuropa. Gern wurde er im deutschen Original und in Anführungsstrichen genannt. Es war ein Begriff aus der historischen Versenkung, versenkt durch den Kalten Krieg. Mitteleuropa war in den achtziger Jahren ein Intellektuellenwort, ein fast schon philosophisches, angesichts des öden politischen Jargons der Zeit. Es waren ja auch Schriftsteller, die Mitteleuropa wieder ins Gespräch brachten. Schriftsteller aus dem «Ostblock»: Milan Kundera, György Konrád, Danilo Kiš. Flankiert wurden sie von Einzelgängern aus dem Westen: Claudio Magris, Karl Schlögel.

Trotz seiner kulturellen Aufladung, die beispielsweise den Ungar György Konrád sogar von «Antipolitik» sprechen ließ, war es ein politischer Kampfbegriff. Er stellte die Blockbindung der Sowjetsatelliten in Frage, behauptete dagegen deren Zugehörigkeit zu Europa. Es war aber nicht mehr eine simple antikommunistische oder systemkritische Positionierung wie der Budapester Aufstand oder der Prager Frühling, man argumentierte diesmal geopolitisch.

Rückkehr der Geopolitik
Mit dem Begriff Mitteleuropa kehrte die Geopolitik zurück, aber auch die Bürgergesellschaft, die civil society. Die Verfechter der Mitteleuropa-These, von Ljubljana/Laibach bis Krakau, zielten auf beide Welten, Ost und West. Dem Sowjetimperium sollte klar gemacht werden, daß man mit Rußland grundsätzlich
nichts gemeinsam habe. Am deutlichsten war darin der Tscheche Milan Kundera. In seiner Position kam die Absage der Tschechen an Rußland zum Ausdruck, einer Tschechoslowakei, die sich die territoriale Absicherung gegen Deutschland mit der sowjetischen Besatzung erkauft und sich damit die Unterdrückung der eigenen Identität eingehandelt hatte, die Niederschlagung des «Prager Frühlings». Aus den Worten Kunderas spricht die Erfahrung dieser Niederlage.

In Slowenien wiederum war es ein Aufbegehren gegen das Eingebundensein in Titos Balkanstaat. So war der Mitteleuropa-Begriff auch nach seinem Wiederauferstehen gegen den sowjetisch dominierten Panslawismus, den man als antieuropäisches Projekt empfand, gerichtet. Darüber hinaus versuchte man mit dem Begriff im Westen Staat zu machen. Mitteleuropa ist aber ein Konzept, das der Westen wenig schätzt, es spielte im Westen kaum jemals eine nennenswerte Rolle. Die Ostvölker wollten aber nur sagen: Wir gehören zu Europa. Spätestens damit erhielt der Begriff den Status einer Metapher. Als dieser Status erreicht war, konnte die Phantasie ihren Lauf nehmen. Als Ostmitteleuropäer bezeichneten sich Völker wie die Slowenen, Ungarn, Tschechen, Slowaken und Polen. Niemand hat sich jemals als Westmitteleuropäer bezeichnet. Warum auch?

Der Name Ostmitteleuropäer diskreditierte zwangsläufig die Bezeichnungen Osteuropa und Osteuropäer. Ein solcher wollte praktisch keiner mehr sein. Osteuropa war plötzlich die Sowjetunion. Der Mitteleuropa-Begriff zielte auch auf die innere Verfaßtheit der jeweiligen Länder. Mit der civil society wandte er sich gegen den homo sovieticus, gegen den bolschewistischen Autoritarismus.

Die frustrierten Ostmitteleuropäer haben sich am Ende der siebziger Jahre und im Jahrzehnt danach des herrenlosen Begriffs bemächtigt. Dieser war historisch deutsch und österreichisch besetzt. In seiner österreichischen Variante, in der habsburgischen, erfuhr er, in der Formulierung des Prager Schriftstellers Johannes Urzidil, seine «hinternationale» Bedeutung. Mitteleuropa war die Folie der habsburgischen Bürgergesellschaft und gleichermaßen des habsburgischen Imperiums. Es war imperial und zivil zugleich. Sein Nachleben wurde bereits in den zwanziger Jahren zum Gegenstand der Nostalgie. Damals installierte sich Mitteleuropa im Gedächtnis als «Kakanien». Im preußischen Deutschland dagegen war es von Anfang an ein ideologisches Instrument des Imperialismus. Friedrich Naumann formulierte seine Mitteleuropa-Thesen während des Ersten Weltkriegs, um eine deutsche Vorherrschaft im Osten zu begründen. Preußen ordnete den Begriff dem eigenen Nationalismus unter. Diese Manipulation des Konzepts hat es gewissermassen mit Polen gemeinsam, das ebenfalls den nationalen Hut darüberstülpte. Bezeichnend ist, daß der Mitteleuropa-Begriff für die Opposition in der DDR keine Rolle spielte und daß er in Polen nicht die Geschichtsmächtigkeit aufwies, die er in Prag oder Budapest hatte. Die polnischen Zentren des historischen Mitteleuropa befanden sich, wie Lemberg/Lwow, entweder außerhalb der Staatsgrenzen, oder sie standen, wie Krakau, nicht im Mittelpunkt der sozialen und politischen Bewegungen. Diese hatten in Danzig und Warschau andere Quellen und einen deutlicheren Bezug zu Frankreich und Amerika als zur unmittelbaren Nachbarschaft.

Man kann sagen, daß die Wiederbelebung des Begriffs Mitteleuropa einen Vorgriff auf das Jahr 1989 darstellt. Als der Sowjetblock verschwunden war und die Ostmitteleuropäer in die Freiheit und Marktwirtschaft entlassen waren, verblaßte die Idee umgehend wieder. Man brauchte Mitteleuropa nicht mehr. Dessen letzte politische Erscheinungsform war in der Übergangszeit der frühen neunziger Jahre die Vereinbarung von Visegrád, zwischen Ungarn, der noch existierenden Tschechoslowakei und Polen. Die neuen Ziele hießen EU und Nato, sie sind so gut wie erreicht. Damit aber sind die betreffenden Länder Teil des offiziellen Westens und können Mitteleuropa in die Kaffeehauskultur verabschieden.

Mitteleuropa unterschlägt gerne seine Realität. Es taucht mit Vorliebe als Projekt auf, als Vision. Von Habsburg, dem es weitgehend seine Existenz verdankt, redet es fast nie. Die nostalgisch gestimmten Ostmitteleuropäer meinen bis heute nicht das Imperium, sondern die Alltagskultur. Während sie die Bürgergesellschaft beschwören, behalten sie auch ihre eigenen nationalen Projekte im Kopf. Darin besteht bis heute die Ambivalenz des Begriffs.

Wo Europa nicht ist
Mitteleuropa ist immer dort, wo Europa noch nicht ist. Wo der Westen noch nicht ist. Zu beobachten ist dies neuerdings in den Ländern, die vorerst außerhalb der EU geblieben sind, in Rumänien, in der Ukraine und in Serbien. In deren ehemaligen habsburgischen Gebieten, Banat, Siebenbürgen, Galizien und der Vojvodina. Überall in diesen Gegenden haben sich in den neunziger Jahren regionale Identitäten verstärkt artikuliert. Sie werden gegen den Zentralismus in Stellung gebracht, gegen die jeweiligen Metropolen Kiew, Bukarest und Belgrad, die man gleichermaßen als ausbeuterisch und orientalisch-balkanisch, im Grunde als barbarisch oder nichteuropäisch empfindet. Sowohl die politischen Bewegungen wie die kulturellen Projekte berufen sich auf die mitteleuropäische Vergangenheit, die sie identifikatorisch einsetzen. Das gilt für die Regionalisten der «Koalicija Vojvodina» im serbischen Novi Sad/Neusatz, die die Autonomie wieder hergestellt haben, und auch für die nationalistische ukrainische Bewegung in Lemberg/Lwiw, die sich der längst russifizierten Ostukraine entgegenstellt, sowie die in den letzten Jahren aufgetretene Regionalpartei «Liga Transilvania-Banat» im rumänischen Siebenbürgen.

Aufschlußreich sind die kürzlich auf Deutsch erschienenen Essays des Ukrainers Juri Andruchowytsch (vgl. NZZ 2003-08-19), in denen der mitteleuropäische Hintergrund seiner Stadt Iwano-Frankiwsk, des ehemaligen kakanischen Stanislau, als «letztes Territorium» beschworen wird. In Temeswar/Timisoara, im rumänischen Banat, betreiben Schriftsteller und Intellektuelle seit etlichen Jahren ein Projekt mit dem Titel «Das Dritte Europa». Es bringt mitteleuropäische Bücher und Themen in die rumänische Öffentlichkeit und in die Debatte ein.
Der Mitteleuropa-Begriff ist damit ein Stück weiter nach Osten gewandert. Er frißt weiter am Territorium Osteuropas, und seine Kraft als Metapher scheint auch in seinem neuen Wirkungsbereich Bestand zu haben. Dabei kann er als Phantasieprodukt wirken und zur Selbsttäuschung der Betroffenen angesichts der desolaten Realität in ihren Ländern führen, gegebenenfalls auch zur Verstärkung der inneren Spannungen der jeweiligen Nationen beitragen, sich gar zu einem Lega-Nord-Phänomen auswachsen, das die Loyalität zum Zentrum lautstark in Frage stellt. In der Metapher Mitteleuropa hat vieles Platz: ein grenzüberschreitendes urbanes Lebensgefühl, föderales Denken, aber auch Provinzialismus und sogar schriller Nationalismus.

Der Mitteleuropa-Bezug kann aber auch eine Stärkung der Bürgergesellschaft an der Peripherie Europas mit sich bringen. Wenn das gelingen sollte, wäre es ein gewichtiger Beitrag zur regionalen Stabilität.

Richard Wagner
Quelle: Neue Zürcher Zeitung (2003-10-31) übermittelt in „Gut Quednau“