Die Geschichte ist kein Eisberg

So mancher Schriftsteller wußte das schon vor Günter Grass und vor dem „Spiegel“, wie eine QKR-Tagung über Vertreibungsliteratur zeigte

Auch wenn das Vertreibungsschicksal der Deutschen aus dem Osten von der Politik und der Offentlichkeit jahrzehntelang verdrängt wurde, den Schriftstellern kann man ein solches Versäumnis nicht nachsagen. Die 2002 von Günter Grass veröffentlichte Novelle „Im Krebsgang“ bedeutete keineswegs einen Tabubruch. Sie verhalf dem Thema allerdings zu einer bis dahin kaum vorhandenen öffentlichen Aufmerksamkeit, die sogar das dem Vertriebenen-Schicksal sonst wenig aufgeschlossene Magazin „Der Spiegel“ zu umfangreichen Berichten und einer ganzen Sonderausgabe über Flucht und Vertreibung veranlaßte. Tatsächlich haben sich viel früher sehr viele Schriftsteller der menschlichen Schicksale im Zusammenhang mit den dramatischen Völkerverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg angenommen. Grass selbst hat in seinem weltberühmt gewordenen Roman „Die Blechtrommel“ (1959) der Ausweisung seines Protagonisten Oskar Matzerath aus Danzig eine beeindruckende Partie gewidmet.

Wie umfassend, reichhaltig und vielfältig die Vertreibungsliteratur in Deutschland war und ist und daß das Thema auch von polnischen Schriftstellern aufgegriffen wird, machte auf beeindruckende Weise ein anderthalbtägiges Seminar der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (OKR) im Haus Schlesien in Königswinter-Heisterbacherrott bei Bonn deutlich. Namhafte Gelehrte aus Deutschland, Österreich und Polen gaben einen Einblick in einen Literaturbereich, der durch die unterschiedlichen geographischen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten unerwartet vielfältig ist.

Der Präsident des OKR, der in Duisburg Philosophie lehrende Prof. Dr. Eberhard G. Schulz, der die Tagung leitete, gab eine völkerrechtliche und menschenrechtliche Beurteilung der Vertreibung und stellte damit diesen Akt je nach Beurteilung der Situation des Deutschen Reiches nach 1945 (Fortbestand oder Untergang) als die nach dem Völkermord schwerste Verletzung des Rechtes der Staaten bzw. der allgemeinen Menschenrechte dar. Insbesondere stellte er fest, daß die Flucht aus den Kampfgebieten durch die Verweigerung der Rückkehr an die rechtmäßigen Wohnorte zur Vertreibung geworden sei, so daß es insoweit zwischen Flucht und unmittelbarer Vertreibung in Form einer Ausweisung zwar einen Erlebnisunterschied, aber keinen Unterschied in der Rechtsverletzung gebe.

Er bezeichnete das Vergleichen der eigenen Kenntnisse und Urteile mit denen anderer als eine der Aufgaben des Seminars. Schon das Ausmaß von Flucht und Vertreibung, die Menschen in zweistelliger Millionenhöhe betrafen, innerhalb und außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, mit Millionen Toten und unendlichem Leid, mache diese Ereignisse zu einem wichtigen Thema der Literatur.

Daß Schriftsteller diesen Stoff begierig aufgegriffen haben, schilderte der Kieler Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Dr. Bodo Heimann in einem einleitenden Überblick über „Das Schicksal der Vertreibung in der deutschen Nachkriegsliteratur“. Er wies darauf hin, daß sich etwa 100 deutsche Autoren mit dem Thema befaßt, es in rund 50 Romanen, zahlreichen Erzählungen, Kurzgeschichten, Gedichten und Dramen bearbeitet haben. Diese Literatur sei qualitativ hochstehend, breitgefächert und stehe durch Selbstüberwindung und Einbeziehung der Leiden anderer auf hohem moralischen Niveau.

Heimann teilte die Schriftsteller, die sich zwischen der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 und der Uberwindung der deutschen Teilung im November 1989 mit dem Vertreibungsthema auseinandergesetzt haben, in drei Gruppen ein: die noch im 19. Jahrhundert geborenen und teils schon vor dem Zweiten Weltkrieg berühmten wie Agnes Miegel (geboren 1879), Gottfried Benn (1886) und Edwin Erich Dwinger (1898), diejenigen, die den Krieg als junge Menschen erlebt haben, und diejenigen, die zur Zeit des Krieges und der Vertreibung Kinder oder noch nicht geboren waren.

Am größten ist die Gruppe der Schriftsteller, die das Vertreibungsgeschehen aus eigenem Erleben in jungen Jahren kennen. Dazu gehören Ilse Langner, Ruth Storm, Ernst Günther Bleisch, Dagmar von Mutius, Hans Lipinsky-Gottersdorf, der schlesische Lyriker Jochen Hoffbauer, der beim Seminar einen Leseabend mit eigenen Werken gestaltete, Günter Grass, Heinz Piontek, Dagmar Nick, Siegfried Lenz, Christa Wolf, Horst Bienek und schließlich die Hessin Christine Brückner.

Als repräsentativ für die nach 1933 geborenen Schriftsteller erwähnte Heimann Ursula Höntsch und Monika Taubitz. Auch Ulla Lachauer mit „Paradiesstraße – Lebenserinnerungen einer Bäuerin“ ordnete Heimann dieser Gruppe zu.

Einen höchst interessanten Kontrapunkt zur Vertreibungsliteratur in Deutschland bot die Ubersicht über „Flucht und Vertreibung in der polnischen Nachkriegsliteratur“ des Germanistikprofessors Dr. Eugeniusz Klin aus Grünberg/Zielona Gora. Für die polnische Literatur sei bemerkenswert, so Klin, daß die Vertreibung der Polen aus dem Osten mehrfach literarisch verarbeitet wurde, obwohl auch dieses Thema im kommunistischen Polen strenger Zensur unterworfen war. Die Vertreibung der Deutschen aus den zu Polen gekommenen Gebieten jenseits von Oder und Lausitzer Neiße sei hingegen absolut tabu gewesen. Klin sprach von einer deutlichen „Asymmetrie der gegenseitigen Wahrnehmung“.

Zu den wenigen Mutigen, die die Vertreibung der Ostpolen thematisiert haben, zählte Klin den 1937 geborenen Wlodimierz Odojewski, dessen Romane „Insel der Rettung“ (1950 geschrieben, 1964 herausgegeben) und „Verdeckt und verweht“ (1967) auf großen Widerstand der kommunistischen Zensur stießen. In den Gedichten von lzabella Skalka-Langier werden die „angeschwemmten“ Ostpolen mit den heimatverbliebenen Oberschlesiern konfrontiert und verglichen.

Die deutsch-polnische Schicksalsgemeinschaft werde von mehreren polnischen Schriftstellern ins Bewußtsein gehoben, so Klin. Zu ihnen gehören Ernest Dyczek, Miroslaw Spychalski und Stanislaw Bieniacz. Auch wenn diese deutsch-polnische Schicksalsgemeinschaft im Hinblick auf die Vertriebenen oft nur ansatzweise angesprochen werde und die Wahrnehmung der unsäglichen Leiden auf beiden Seiten unzureichend sei, so sei die literarische Darstellung von Flucht und Vertreibung doch ein gemeinsames Band, das für die deutsch-polnische Verständigung stärker genutzt werden sollte, forderte Klin.

Ein ganz besonderes Schicksal hatte die Vertreibungsliteratur in der DDR. Darüber referierte der aus Bad Rodach in Thüringen stammende, lange Zeit in einem DDR-Gefängnis inhaftierte und von der Bundesregierung freigekaufte Publizist Dr. Jörg Bernhard Bilke. Im offiziellen Sprachgebrauch der Sowjetisch Besetzten Zone Deutschlands und der späteren DDR gab es keine Flüchtlinge und Vertriebenen (obwohl vorübergehend bis zu 6 Millionen dort lebten). Bei den ersten literarischen Bearbeitungen dieses Themas handelte es sich um Einzelromane, die an der Ideologie der DDR orientiert waren, wie „Die Tage werden heller“ von Benno Völkner, „Als die Uhren stehenblieben“ von Werner Steinberg und „Böhmen am Meer“ von Franz Fühmann. Erste kritische Ansätze seien in den Romanen „Schlesisches Himmelreich“ (1968) von Hildegard Maria Rauchfuß, „Kindheitsmuster“ (1976) von Christa Wolf und „Tod am Meer“ (1977) von Werner Heiduczek zu finden.

1984, zehn Jahre später als in Westdeutschland, habe in der DDR eine zweite Phase der Vertriebenenliteratur eingesetzt, in der sich auch nichtvertriebene Schriftsteller wie Volker Braun, Günter de Bruyn, Joachim Bader und Bernd Jentzsch mit dem Thema auseinandersetzen. Es erscheinen außerdem „Auf der Suche nach Karalautschi – Report einer Kindheit“ von Elisabeth Schulz-Semrau, „Wir Flüchtlingskinder“ von Ursula Höntsch, „Der Puppenkönig und ich“ von Armin Müller, „Ausharren im Paradies“ von Renate Feyl und „Am Brückenwehr - Zwischen Kindheit und Wende“ von Hanns Cibulka. All diesen Schriftstellern ist gemeinsam, daß sie bei Flucht und Vertreibung sehr jung waren und in der DDR über diese Ereignisse nie etwas erfahren haben. Sie mußten sich die Kenntnisse erarbeiten.

Welche Vielfalt und Fülle die westdeutsche Nachkriegsliteratur zum Thema Flucht und Vertreibung hervorbrachte, wurde augenfällig durch die Referate über die einzelnen Vertreibungsgebiete.

Die aus Hinterpommern stammende Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Roswitha Wisniewski, Vizepräsidentin des OKR, die über Vertreibung in der pommerschen Nachkriegsliteratur referierte, verwies zunächst auf Beispiele der sogenannten berichtenden Literatur wie „Die Stunde der Frauen“ von Christian Graf von Krockow, „Das Tagebuch aus Pommern 1945 - 46“ der Käthe von Normann, „Gelebter Glaube“ von Wolfgang Knauft, „Ich lebe, also hoffe ich“ von Hilde Klieche und Marie Lammers „Lebenswege in Ost- und Westdeutschland“.

Als umfassendste literarische Verarbeitung der Vertreibung aus Pommern gilt die bereits erwähnte Romantrilogie der aus Hessen stammenden Christine Brückner, nicht nur ein einmaliges literarisches Denkmal für Pommern, sondern auch eine „Phänomenologie der Flucht“ als existentielle Seinsweise des Menschen.

Einen Einblick in die sehr umfangreiche Literatur der Schlesier gab der Tagungsleiter Prof. Dr. Eberhard G. Schulz. Mit Lesebeispielen ging er auf die Tagebuchaufzeichnungen von Ruth Storm ein. Im zweiten Band seiner großen Autobiographie „Stunde der Uberlebenden“ gibt Heinz Piontek einen dramatisch gestalteten Vertreibungsbericht auf Grund von Erzählungen eines Verwandten über einen Treck aus dem Kreis Kreuzburg. Der zuerst 1985 in der DDR veröffentlichte Roman „Der Puppenkönig und ich“ des in Weimar lebenden Autors Armin Müller verknüpft persönliches Erleben mit dem allgemeinen Vertriebenenschicksal.

Die aus Mährisch Schönberg stammende, heute in Innsbruck lebende Referentin Dr. Christine Michelfeit, die die Vertreibung der Sudetendeutschen in der Literatur vorstellte, erwähnte als verblüffende Entdeckung eine Erzählung des in Südböhmen beheimateten Fritz Mauthner mit dem Titel „Der letzte Deutsche von Blatna“, bereits 1887 geschrieben, in der fast prophetisch die Vertreibung der böhmischen Deutschen vorgedacht worden sei. Darüber hinaus ist aber auch die sudetendeutsche Nachkriegsliteratur überaus umfangreich. Sie reicht von literarischen Arbeiten Josef Mühlbergers bis zu Romanen wie „Jenseits der Grenze“ von Herbert Schober, „In ordnungsgemäßer und humaner Weise“ von Gottfried Strohschneider, „Wie Rauch vor starken Winden“ von Herbert Schmidt-Kaspar oder „Nacht über Sudeten“ von Bruno Herr. Den Lebenslauf einer einzelnen Person im zeitgeschichtlichen Rahmen erzählen „Das Licht im Fenster“ von Caroline Friederike Strobach, „Bezaubernde Felicitas“ von Marianne Wintersteiner und nicht zuletzt die Werke des 1932 geborenen Peter Härtling. Auch Gertrud Fussenegger, Ortfried Preußler, Ilse Tielsch und Gudrun Pausewang haben sich in ihrem umfangreichen literarischen Schaffen dem Thema Flucht und Vertreibung zugewandt.

Eine besondere Sicht auf das Seminarthema bot das Referat von Dr. Peter Mast aus München über den Einfluß der Bekennenden Kirche auf die literarische Verarbeitung von Flucht und Vertreibung. Dieses Schicksal wurde als Ergebnis der inneren Entwurzelung des Menschen gesehen, als Sühne für Schuld, die die Vertriebenen stellvertretend für ihr Volk und die Welt auf sich nehmen sollten. Als erste Autoren, die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen literarisch verarbeitet haben, nannte der Referent Jürgen Thorwald („Es begann an der Weichsel“), Edwin Erich Dwinger („Wenn die Dämme brechen“), Ernst Wiechert („Missa sine nomine“), Hans Graf von Lehndorf („Ostpreußisches Tagebuch“) und Marion Gräfin Dönhoff („Namen, die keiner mehr nennt“). Der von der Bekennenden Kirche vermittelte Sühnegedanke finde vor allem in dem Roman „Heimatmuseum“ (1978) von Siegfried Lenz seinen Niederschlag.

Der gewiß nicht lückenlose Überblick, den das OKR-Seminar bot, gab einen überwältigenden Eindruck von der Vielzahl, der Qualität und den unterschiedlichen Sicht- und Herangehensweisen der Autoren. So folgten den Dokumentationen die Erlebnisberichte und schließlich die dichterisch gestalteten, fiktionalen Bearbeitungen, die neben der Schilderung des unermeßlichen Leids, aber auch der Hilfsbereitschaft, Freundschaft und des Gottvertrauens, das Nachdenken über die Hintergründe, über das Leiden der anderen und die Aussöhnung einbezogen. Und das Thema Flucht und Vertreibung beschäftigt die Schriftsteller offensichtlich bis heute. Wie Dr. Jörg Bernhard Bilke berichtete, waren auf der jüngsten Leipziger Buchmesse acht neue Titel zu diesem Thema zu entdecken, davon fünf Romane aus der Enkelgeneration. Für sie gilt der „Spiegel“-Titel zu dieser literarischen Entwicklung: „Die Enkel wollen es wissen“

Ute Flögel (KK)

Kulturpolitische Korrespondenz 1167 vom 10. Mai 2003 Seite 2 bis 6