Unerlaubte Gegenaggression
Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als naturrechtliches und als pragmatisches Problem       von Prof. Dr. Peter Koslowski

Mit dem Aufgreifen eines Themas wie der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa ist heute kaum etwas zu gewinnen. Europa, aber auch Deutschland und Österreich selbst gehen meist mit einem Achselzucken über die Tatsache der totalen Vertreibung von 10 Millionen Menschen und die entschädigungslose Enteignung all ihres Eigentums hinweg. Es wird hingenommen, daß Europa keine Anstalten macht, das Problem der Fortdauer dieser Enteignungen irgendwie zu thematisieren oder zu heilen.

Die Begründung, die für diese Duldung von Unrecht an den deutschen Vertriebenen gewöhnlich gegeben wird, ist die, daß die Vertreibung der Deutschen die gerechte Strafe für die Gewalttaten Nazideutschlands gewesen und daher hinzunehmen sei. Es wird ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen dem von den Deutschen begonnenen Angriffskrieg und der sozusagen verdienten Strafe ihrer Vertreibung aus Ostmitteleuropa hergestellt und dieses historische Ursache-Wirkungs-Verhältnis zugleich als Verhältnis der Begründung und Rechtfertigung angesehen.

Mit dieser Rechtfertigungsfigur der Vertreibung als Wirkung des deutschen Kriegsangriffes ist eine zweite Argumentationsfigur verbunden, die das Theorem von der Ursache des Kriegsbeginns in Deutschland und der verdienten Wirkung und Strafe der Vertreibung ergänzt. Dieses zweite Argument ist für die Rechtfertigung der Vertreibung insofern notwendig, als bekannt ist, daß das Begehen einer Untat nicht das Begehen einer zweiten Untat als Antwort auf die erste Untat rechtfertigt. Die gesamte Idee des Rechts gründet vielmehr in der Überzeugung, daß eine Untat nur durch das Recht und nicht durch eine zweite Untat beantwortet und bestraft werden kann. Die Beantwortung einer Untat durch eine andere Untat ist das Prinzip der Rache, das in die Ewigkeit des Rächens in Kettenreaktion führt. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als Antwort auf den Angriff Deutschlands auf Ostmitteleuropa und die Besetzung etwa der Tschechoslowakei kann nur als Rache gedeutet, nicht aber als Rechtshandlung gerechtfertigt werden – es sei denn, es kommt die zweite Argumentationsfigur hinzu: das Argument, daß die Verbrechen der Deutschen so ungeheuerlich gewesen seien, daß die Strafe der Vertreibung durchaus nicht unverhältnismäßig, sondern vielmehr gerecht und nicht bloße Rache gewesen sei. Aber selbst wenn man die These akzeptierte, daß die Verbrechen, die Deutsche begangen haben, ein Ausnahme-Verbrechen darstellten, könnte dadurch keine Ausnahme-Vergeltung gerechtfertigt sein, weil man sich damit auf dieselbe Stufe mit der ursprünglichen Tat stellen würde.

Niemandem dürfte es normalerweise einleuchten, daß die Besetzung eines Landes durch ein anderes Land die besetzte Nation später berechtigt, alle Bürger des eigenen Landes, die zur Nation des früheren Besetzerlandes gehört haben, aus dem Land zu jagen und ihres Eigentums zu berauben. Die Tschechische Republik ist jedoch der Meinung, daß aufgrund der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Eigentumsrechte der ehemaligen tschechischen Bürger deutscher Abstammung verwirkt worden seien und daß dies auch durch die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 bestätigt worden sei, die diese Eigentumsansprüche für erledigt und null und nichtig erklärt habe. Die deutsche Regierung unter Bundeskanzler Kohl war dagegen der Meinung, daß die Eigentumsrechte fortbestehen.

Folgewirkung des Kriegsbeginns durch Deutschland
Einen Ansatzpunkt für das Verständnis der tschechischen Einschätzung der Rechtslage in der Vertreibungs- und Eigentumsfrage bietet der Motivenbericht des tschechischen Ministerpräsidenten von 1997, Dr.Václav Klaus, an das tschechische Parlament. Klaus rechtfertigte die tschechische Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Erklärung damit, daß die deutsche Regierung mit der Erklärung anerkannt habe, daß zwischen den Kriegsereignissen und der Aussiedlung der Einwohner Tschechiens deutscher Abstammung nach dem Krieg ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Die deutsche Regierung hat es leider versäumt, dieser Zusatzerklärung entgegenzutreten, so daß der Eindruck entstehen konnte, sie schließe sich der Deutung des Motivenberichts an.

In der Deutung des Motivenberichts wird die Vertreibung und Zwangsenteignung als Kriegsfolge interpretiert, die als solche hinzunehmen ist, zu den sogenannten "Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs" gehört. Auch die deutsche Regierung neigt dazu, die Vertreibung von Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Tschechien, Polen und Rußland als dessen Folgewirkung anzusehen, die hinzunehmen und nicht weiter zu hinterfragen ist – um des Friedens in Europa willen. Dadurch ist jedoch die Gefahr gegeben, daß bei einer solchen Betrachtung die Rechte der Betroffenen, aber auch die Zivilrechtsordnung in Europa auf der Strecke bleiben. Man versucht, einen Versöhnungsprozeß einzuleiten und gleichzeitig fundamentale Normen des Naturrechts außer Kraft zu setzen. Ein echter Versöhnungsprozeß kann jedoch nur gelingen, wenn man an den Normen des Naturrechts festhält und das Recht nicht massiv politischen Nützlichkeitserwägungen unterwirft.

Das Naturrecht verbietet die erzwungene und entschädigungslose Enteignung und erst recht die Vertreibung von Individuen oder Gruppen. Es verbietet sowohl die Enteignung innerhalb eines Landes durch einen Souverän, als auch die Enteignung eines anderen Landes durch Siegermächte als Folge eines Krieges. Der Sieger kann nur Reparationen, nicht aber entschädigungslose Enteignungen oder "Bevölkerungstransfer" verlangen. Weder ein Monarch noch die Volkssouveränität hat das Recht, rechtmäßigen Eigentürnern durch politischen Beschluß ihr Eigentum wegzunehmen und sie aus ihrem angestammten Land zu vertreiben. Dies gilt auch für die Eigentumsrechte von Verbrechern und insbesondere für die Eigentumsrechte von Kindern von Verbrechern. Auch das Vermögen von Verbrechern kann nur im Rahmen des Strafverfahrens und nur nach dem Gesetz, nicht aber als Rache eingezogen werden.

Die Rechtsfigur der entschädigungslosen Enteignung des deutschen Eigentums und des daraus abgeleiteten Rechtes auf Vertreibung hat der polnische Staat in den ehemaligen deutschen Ostgebieten angewendet. Nach polnischer Auffassung hat der polnische Staat 1945 alles deutsche Eigentum auf den polnischen Staat übertragen, der dadurch zum rechtmäßigen Gesamteigentürner dieses Eigentums wurde und seinerseits als Eigentürner dieses Kollektiveigentums Teile davon an die einzelnen polnischen Individualeigentümer verteilen konnte und dies auch getan hat. Hier wird die Rechtsfigur der Inbesitznahme herrenlosen Eigentums durch einen Staat unzulässigerweise auf die Enteignung bereits existierender Privateigentümer übertragen und die Vertreibung zur Quantité négligeable gemacht.

Auch wenn man sich die nationalistische Deutung des Rechts als Kollektivrecht im Gedankenexperiment zu eigen macht, deren Spuren in der heutigen tschechischen und polnischen Rechtsauffassung leider nicht zu übersehen sind, kommt man zu keiner rechtlichen Rechtfertigung der Vertreibung und Enteignung der ehemals tschechischen Bürger deutscher Abstammung in Tschechien und der Deutschen auf dem Gebiet des heutigen Polens. Die Tatsache, daß das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, kann die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei und dem heutigen Polen nach Kriegsende nicht rechtfertigen. Zunächst hat ja die Vertreibung alle getroffen, gleichgültig, ob sie für oder gegen den Krieg waren. Aber selbst wenn man – noch einmal im Gedankenexperiment – annehmen wollte, daß alle Bewohner des Sudetenlandes und der deutschen Ostgebiete den Zweiten Weltkrieg gewollt hätten, würde dies ihre Vertreibung nach dem Krieg nicht rechtfertigen und nichts an dem Unrechtscharakter der Vertreibung und Enteignung ändern, weil die Reaktion der Vertreibung der deutschen Bürger in keinem angemessenen Verhältnis zur Handlung der Eröffnung des Krieges durch das Deutsche Reich stand.

Ich möchte hier betonen, daß ich die Einverleibung deutschen Territoriums in den polnischen Staat und der Gebiete der Tschechoslowakei, die zwischen 1938 und 1945 zum Deutschen Reich gehörten, in die Tschechoslowakei nicht kritisiere. Sie sind sozusagen normale Kriegsfolge und nicht zu beanstanden. Die Kriegsfolgewirkung des Verlustes von Staatsgebiet ist jedoch, wie der wiederholte Wechsel Elsaß-Lothringens zwischen Frankreich und Deutschland zeigt, nicht mit der Vertreibung der gesamten Bevölkerung und der Enteignung ihres Eigentums in den eroberten Gebieten zu verwechseln. Eine solche Vertreibung und Enteignung ist im allgemeinen schon deshalb nicht möglich, weil sie die Einheit des Rechts im neuen Territorium nicht wahrt und die Rechtssicherheit der Bevölkerung des Gesamtstaates gefährdet.

Daß der polnische und der tschechische Staat es wagen konnten, die Bevölkerung von ihren neugewonnenen Gebieten zu vertreiben und zu enteignen, ist nur durch zwei Phänomene zu erklären, durch die Affekthandlung der spontanen Rache an den Kriegsbeginnern und Besatzern und durch die Fortschreibung dieser quasi im Affekt begangenen Vertreibung und Enteignung durch den darauffolgenden "Nationalkommunismus", der die Möglichkeit schuf, die Enteignung auf eine dauerhafte Basis zu stellen, weil ja alle Privateigentümer enteignet wurden – allerdings wurden nicht alle Enteigneten auch wieder am Kollektivvermögen des polnischen und des tschechoslowakischen Staates beteiligt, sondern die ehemaligen deutschen Eigentümer aufgrund ihrer Nationalität vom Kollektiveigentum der "Volksrepubliken" ausgeschlossen. Dieser nationalistische Grundzug der Volksrepublik Polen und der CSSR rechtfertigt es, die philosophischen und rechtlichen Grundlagen der beiden Staaten in den Jahren 1945 bis 1989 als ,,Nationalkommunismus" zu beschreiben. Diesen Begriff haben kroatische Philosophen zur Kritik der rechtlichen Grundlagen der Staaten des Warschauer Paktes entwickelt.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit muß beachtet werden.
Das Naturrecht versucht, auch dort noch Pfade des Rechts zu suchen, wo sich die Menschen tief in Unrecht verstrickt haben. Aufgrund seines Bewußtseins vom erbsündlichen Charakter der gesamten Menschheit ist es dagegen gefeit, den Übeltäter rechtlos zu machen und den Ankläger für stets gerechtfertigt zu halten. So können etwa Deutschland als Aggressor des Zweiten Weltkriegs deshalb nicht für völlig rechtlos und die östlichen Nachbarn Deutschlands als Erleidende dieser Aggression für stets im Recht seiend erklärt werden. Vielmehr muß gefragt werden, welche Rechte die deutsche Bevölkerung trotz des Unrechts ihrer politischen Führung auch am Ende des Zweiten Weltkriegs noch besessen haben muß.

Eine Richtschnur zur Beurteilung dieser Frage kann die naturrechtliche Norm der Handlung mit doppelter Wirkung geben. Nach dem Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung muß derjenige, der sich gegen einen Aggressor verteidigt, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel bei der Verteidigung beachten. Es gibt kein Recht, auf eine Aggression mit einer Gegenaggression zu antworten, die in keinem Verhältnis zum Akt des ursprünglichen Aggressors steht. So darf man auf eine Bedrohung durch einen Dieb selbst im Fall der Notwehr nicht einfach mit dem Totschlag des Diebs antworten. Man kann nicht sagen, man habe um der Hauptwirkung der Selbstverteidigung gegen einen Aggressor willen die Nebenwirkung, ihn zu töten, billigend in Kauf genommen. Die Nebenwirkung des Totschlags im Falle der Notwehr ist nur dann duldbar, wenn die Reaktion angemessen zur Aggression war und keine andere Handlungsoption möglich war.

Wendet man dieses Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung auf die Verteidigung in einem Krieg an, so wird erkennbar, daß keine unbeschränkte Vergeltung erlaubt ist. Die Vertreibung und Enteignung der Deutschen stellt daher trotz der Verbrechen der nationalsozialistischen Politik eine unerlaubte und unverhältnismäßige, durch das Naturrecht nicht gedeckte Gegenaggression und damit ein Unrecht dar. Man darf auf die Besetzung des eigenen Landes als Akt der Aggression nicht mit der unbeschränkten Gegenreaktion und Gegenaggression der totalen Vertreibung der gegnerischen Bevölkerung antworten. Die Länder Rußland, Polen und Tschechoslowakei waren nicht berechtigt, die Aggression Deutschlands mit der Kollektivvertreibung der Bevölkerung ganzer Landstriche zu erwidern. Naturrechtlich und völkerrechtlich waren Reparationen, Besetzungen, Konfiskationen, ja Annexionen, nicht aber die totale Vertreibung und entschädigungslose Enteignung der Bevölkerung des Kriegsgegners erlaubt.

Als spontane Akte waren die Vertreibungen vielleicht hinzunehmen, nicht jedoch konnte die Fortdauer dieser Vertreibungen gerechtfertigt werden. In der Tat erwarteten die meisten Menschen in den polnischen Westgebieten die Rückkehr der deutschen Eigentümer nach der Beruhigung der Lage. Daß diese Rückkehr nicht zugelassen wurde, war nur durch die Kollektiventeignung der gesamten polnischen und tschechischen Nation durch den Kommunismus und die Anerkennung der Zugehörigkeit zur Kollektiveigentümerschaft allein nach dem Kriterium der nationalen Abstammung, nach einem ,"blutsmäßigen" Kriterium, möglich. Der Nationalkommunismus der Volksrepubliken rückte damit in eine fatale Nähe zum ,"Nationalsozialismus" der Volksgemeinschaft Nazideutschlands.

Bei der Frage deutschen Eigentums in Polen und Tschechien, aber auch im "Kaliningrader Oblast" handelt es sich nicht nur um eine politisch zu regelnde Frage zwischen zwei Nationen, sondern um eine Frage des internationalen Zivilrechts und Naturrechts, das vom Willen des tschechischen, polnischen und russischen Souveräns einerseits und des deutschen Souveräns andererseits ganz unabhängig ist, weil seine Geltung sich nicht dem Willen dieser Souveräne verdankt. Außerdem haben sich die Verfassungen dieser Länder auf die Achtung der Person- und Eigentumsrechte selbst festgelegt und damit an diese Rechtsnormen gebunden.

Die Frage der Restitution des Eigentums ehemaliger deutscher Bürger der Tschechoslowakei und der Deutschen in den polnischen Westgebieten ist kein Rechtsproblem zwischen den betroffenen Staaten, sondern eine Rechtsfrage innerhalb der Tschechischen Republik und der Republik Polen. Sie ist primär eine innere Angelegenheit der Rechtsordnung und Rechtskultur dieser Länder, in zweiter Hinsicht eine Kernfrage der internationalen Zivilrechtsordnung Europas und erst an dritter Stelle eine Frage der deutsch-tschechischen und der deutsch-polnischen Beziehungen. Es ist daher zu fordern, daß die zivilrechtliche Eigentumsfrage aus den durch den beidseitigen Nationalismus belasteten politischen Beziehungen herausgenommen und internationalen Rechtsorganen überwiesen wird.

Die ehemaligen deutschen Bürger der Tschechoslowakei und der heutigen polnischen Westgebiete wären gut beraten, wenn sie ihre Eigentumsansprüche nicht als ethnische Gruppe, sondern als freie Assoziation von Individuen geltend machten. Voraussetzung für diese zivilrechtliche Regelung der Eigentumsfrage ist jedoch eine für viele Vertriebene schwierige Einsicht; die Einsicht nämlich, daß ein Heimatrecht als Wiederherstellung einer sudetendeutschen oder schlesischen Heimat obsolet und unmöglich ist. Der Status quo ante ist nicht.restituierbar, weil sich inzwischen das Heimatrecht der nach dem Krieg dort lebenden Menschen herausgebildet hat. Restituierbar sind nur bestimmte Eigentumsrechte. Der Verlust der Heimat muß als Kriegsfolgewirkung hingenommen werden, die dauerhafte Mißachtung der Persönlichkeits- und Eigentumsrechte darf dagegen nicht akzeptiert werden. Die Mißachtung des Eigentumsrechtes deutscher Bürger ist, wenn sie eine Kriegsfolgewirkung ist, eine solche, die wiedergutmachungspflichtig ist, also rückgängig gemacht werden muß.

Man wird die Frage stellen müssen, ob es von den Nachkommen der deutschen Vertriebenen verlangt werden kann, hinzunehmen, daß in der Erweiterung der EU nach Osten die EU ihre eigenen Grundlagen, nämlich die Garantie der Persönlichkeits- und Eigentumsrechte, partiell "aushängt", indem sie die Eigentumsansprüche der deutschen Vertriebenen in den Gebieten der Beitrittsländer als null und nichtig ansieht. Auch wenn man ein gemeinsames Interesse Polens, Tschechiens und Deutschlands an der gemeinsamen Sicherung der Freiheit und des Rechts als Grundlage der EU-Erweiterung annimmt und unterstützt, muß man sich bewußt sein, daß eine solche Union doch auf schwachen Füßen steht, wenn ein wesentliches Freiheitsrecht, nämlich dasjenige auf Eigentum, innerhalb dieser Union selbst im Verhältnis zwischen den Gliedern der Union gar nicht anerkannt wird.

Ich habe auf dem Rechtsstandpunkt nicht deshalb beharrt, weil ich glaube, daß eine vollständige Restitution deutschen Eigentums in diesen Ländern möglich ist. Die Erfahrungen, die ich nicht zuletzt durch meine Frau, eine Tschechin, und durch unseren Sohn, der die deutsche und die tschechische Staatsbürgerschaft besitzt, gemacht habe, haben mich davon überzeugt, daß das Pochen auf die Wiederherstellung eines Status quo ante nach 55 Jahren mehr Schaden als Nutzen stiftet. Es scheint mir aber möglich und billig, zu fordern, daß Polen, Tschechien und Rußland Gesten des Eingeständnisses von getanem Unrecht machen.

Gegenwärtig besteht die Tendenz, gegenüber Deutschland und Österreich den Standpunkt eines moralischen Maximalismus einzunehmen, gegenüber ihren östlichen Nachbarn jedoch den Standpunkt eines moralischen Minimalismus. Für die Einheit und Gleichheit des Rechts in Europa ist dies auf Dauer nicht tragbar. Wenn man von Deutschland und Österreich verlangt, einen Schlußstrich unter die Eigentumsrechte der Vertriebenen zu ziehen, was kaum zu vermeiden ist, muß man auch bereit sein, einen Schlußstrich unter die zivilrechtlichen Ansprüche der östlichen Nachbarn gegenüber Deutschland und Österreich zu ziehen.

Aus diesem Grund ist die jüngst zwischen den Anwälten der Zwangsarbeiter und der deutschen Regierung beschlossene Vereinbarung, soweit sie Zwangsarbeiter polnischer und tschechischer Herkunft in "normalen" Produktionsbetrieben betrifft, nicht ganz überzeugend. Es scheint mir einer großen Nation wie der polnischen nicht würdig zu sein, daß sie nach dem Krieg auf alle Entschädigungsansprüche gegenüber Deutschland verzichtet hat, um sie jetzt, 40 bis 50 Jahre später, doch geltend zu machen.

Problematisch an den Entschädigungsforderungen an deutsche Unternehmen, soweit sie nicht Arbeit in Konzentrationslagern betreffen, ist, daß sie in den Vereinigten Staaten von Arnerika als zivilrechtliche Ansprüche auf Ausgleich für entgangenen Lohn und Entschädigung für den Zwang zur Arbeit an private Firmen in Deutschland formuliert wurden und sich nach Abschluß der Verhandlungen doch als politischer Ausgleich zwischen Staaten und damit als Reparationen erweisen. Die ursprünglichen Klagen gegen deutsche Unternehmen in den Vereinigten Staaten strengten zivilrechtliche Verfahren gegen Unternehmen in Deutschland an. Schließlich wurde die Entschädigung als sowohl öff'entlich-rechtliche als auch zivilrechtliche Aufgabe ganz Deutschlands angesehen: Der Staat wird diese Ansprüche aus Steuergeldern und die Unternehmen werden sie aus ihren Einnahmen bestreiten.

Die Beurteilung der Entschädigungsfrage changiert also zwischen ihrer Einschätzung als einer politisch-moralischen Aufgabe der Nation und als einer zivilrechtlichen Aufgabe der privaten Unternehmen.

Aus dieser Unentschiedenheit der Frage der Entschädigung osteuropäischer Zwangsarbeiter entsteht die Schwierigkeit, daß, wenn es sich bei den Klagen osteuropäischer Bürger in den Vereinigten Staaten um zivilrechtliche handelt, es ebenso billig ist, daß deutsche Bürger in den Vereinigten Staaten zivilrechtliche Klagen gegen die entschädigungslosen Enteignungen ihres Eigentums in Polen und der Tschechischen Republik anstrengen. Im amerikanischen Rechtssystem werden solche Klagen wohl wenig Erfolgsaussichten haben. Wenn die Entschädigungsklagen der Zwangsarbeiter in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges zivilrechtliche Klagen sind, müssen die zivilrechtlichen Ansprüche deutscher Bürger gegen die osteuropäischen Nachbarn Deutschlands zumindest mit in Betracht gezogen werden. Es ist dies bei zivilrechtlichen Klagen üblich. Eine Aufrechnung dieser deutschen addierten Ansprüche gegen die addierten Ansprüche polnischer und tschechischer Zwangsarbeiter würde letztere auf Null setzen, da die Vermögensverluste aller deutschen Bürger die Ansprüche aller polnischen und tschechischen Zwangsarbeiter überschreiten. Allerdings liegt hier ein Problem darin, daß die polnischen und tschechischen Adressaten deutscher Klagen auf Restitution von Eigentum nicht mit den Anspruchsberechtigten der polnischen und tschechischen Klagen auf Entschädigung für Zwangsarbeit identisch sind und ebensowenig die deutschen Adressaten der polnischen und tschechischen Klagen wegen Ansprüchen aus Zwangsarbeit mit den Deutschen, die Ansprüche aus Eigentumsverlusten geltend machen. Falls nach der nunmehr getroffenen Vereinbarung weitere Ansprüche gegen Deutschland erhoben werden, muß auch die zivilrechtliche Seite der Vertreibung der Deutschen berücksichtigt werden.

Deutschland sowie Österreich und ihre östlichen Nachbarn – und nicht nur Deutschland und Österreich allein – haben um Vergebung zu bitten. Wenn dies jedoch so ist, sollte sowohl von polnischer und tschechischer als auch von amerikanischer Seite darauf verzichtet werden, weiterhin im Verhältnis zu Deutschland an einem Gegensatz von Moral und Recht festzuhalten. Dieser falsche Gegensatz von Moral und Recht, der Deutschland gegenüber unbegrenzte Schuld mit Folgerungen daraus geltend macht, die eigenen Rechtsbrüche in der Vertreibung und Enteignung jedoch als moralische und rechtliche Kleinigkeit darstellt, wird der Einheit des Rechts und der Moral nicht gerecht. Die neuere historische Forschung zeigt, daß die Vertreibung der Deutschen von amerikanischer und britischer Seite nicht nur geduldet, sondern gebilligt wurde. Man hielt sich für gerechtfertigt, Deutschland so weit zu verkleinern, daß es nie wieder zu einer Gefahr werden würde. Nur die Exzesse beim "Bevölkerungstransfer" wurden von den Vereinigten Staaten und Großbritannien bedauert. Wie sich allerdings die Westmächte einen "geordneten Bevölkerungstransfer" von 10 Millionen Menschen vorstellen können, wird ein Geheimnis bleiben und rückt die alliierte Politik in dieser Frage in eine allzu große Nähe zu den Bevölkerungstransfers, die auch Hitler und Stalin für gerechtfertigt hielten.

Auf die Frage, welche Rolle der Holocaust in der Vertreibung der Deutschen gespielt hat, wurde in diesem Beitrag nicht eingegangen, wie ihm vielleicht zum Vorwurf gemacht werden wird. Es wurde dies bewußt in Kauf genommen, weil die Vertreibung nicht primär das Verhältnis Deutschlands zu Israel, sondern zu seinen östlichen Nachbarn betrifft.

Das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn ist für Deutschland von größter Bedeutung, weil sich in Ostmitteleuropa ein Zusammenwirken von Slawen und Deutschen vollzogen hatte, das für beide Seiten große Konsequenzen hatte. Daß dieses Zusammenleben auch große Belastungen mit sich gebracht hat, wie etwa die von Preußen und Österreich mitgetragene Teilung der polnischen Nation – ein großes Unrecht der Geschichte – oder die politische und kulturelle Hegemonie Österreichs über Tschechien, ist unübersehbar. Daß die "Kohabitation" zwischen Slawen und Deutschen jedoch auch historisch in der Kultur Ostmitteleuropas fruchtbar wurde, ist ebensowenig zu übersehen.

Wenn die Versöhnung zwischen Polen und Deutschen und zwischen Tschechen und Deutschen über "Versöhnungskitsch" hinauskommen soll, muß der Standpunkt des Rechts auch für Deutschland anerkannt werden, auch wenn eine Restitution alter Rechte nicht möglich ist. Ohne die Anerkennung des Rechts, des für alle Menschen gültigen Naturrechts, kann es jedoch keine wirkliche Versöhnung geben, weil ich mich mit dem anderen nur versöhnen kann, wenn ich auch von ihm als Rechtsperson und in meinem Recht anerkannt werde.

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Quelle: FAZ 11. 09. 2000
Der Verfasser ist Direktor des Forschungsinstuts für Philosophie Hannover und lehrt an der Universität Witten-Herdecke.

Für die überzeugende Darlegung des Naturrechts, seiner Folgen und seiner Beständigkeit ist Herrn Prof. Dr. Peter Koslowski Dank zu sagen. Mir als Spätgeborenem und als Angehörigem einer Volksgruppe, der für die Vorkriegspolitik des Deutschen Reiches keinerlei Verantwortung zugesprochen werden kann, stellen sich danach wiederum viel brennender die Fragen nach den Kriegsursachen. Außerdem empfinde ich es als "kontraproduktiv", wenn in einem solchen fundierten Beitrag die allgemein bekannte Zahl der Vertriebenen von etwa 15 Millionen Menschen (plus der großen Zahl von Einwohnern, die aus den bombenbedrohten Westgebieten in die "Luftschutzbunker des Reiches", nach Schlesien und ins Sudetenland ausgewichen waren!) um ein Drittel verfälscht wird!                                                                                                                                            ML 2000-09-11.

Wer diesen Aufsatz als 5-seitigen sauberen Druck besitzen möchte, kann sich eine PDF-Datei herunterladen. Dazu muß man selbstverständlich mit dem Akrobat-Reader umgehen können! (Die Datei wurde von meinem jüngsten Bruder zur Verfügung gestellt. Danke, Norbert!)