INHALT

Eberhard Günter Schulz: Kants Lehre von Recht, Sittlichkeit und Religion
Michael Hirschfeld: Schlesien an der Schwelle zur Europäischen Union 6
Markus Bauer: Fragen der Identität im neuen Mitteleuropa 8
Dietmar Stutzer: Die bayerisch-oberösterreichische Landesausstellung 9
Luzian Geier: Zum Tod von Rudolf Wagner 12
Peter Mast: Márton Kalász über das Nachkriegsschicksal der Ungarndeutschen 14

Bücher und Medien 16
Literatur und Kunst Ulrich Schmidt: Schlesische Reise (I) 19
Ferdinand Louis Helbig: Schlesische Autoren aus Deutschland lesen in Grünberg 21
Herbert Hupka: Henry G. Proskauer beschenkt das Münchner Brücke-Museum 22
KK-Notizbuch 23

KK1187 S 02
Freiheit, die ich meine
Kants Lehre von Recht, Sittlichkeit und Religion

Die Philosophie macht auf zwei Gebieten inhaltliche Aussagen (also nicht nur formale wie in der Logik): auf dem Gebiet der Natur, des Seins, und auf dem Gebiet der Freiheit, des Sollens. Hinsichtlich der Naturerkenntnis hat Kant die im erkennenden Subjekt Mensch anzutreffenden Strukturen der Anschauung und des Denkens im konstruktiven Teil der „Kritik der reinen Vernunft“ analysiert und gerechtfertigt. Diese Lehre gibt den Wissenschaften, die der Beschreibung der Wirklichkeit – eben dessen, was ist, der Natur – gewidmet sind, eine theoretische Grundlage. Der Gang dieser auf die Kenntnis der Wirklichkeit gerichteten Wissenschaften, also Natur- und Kultur- oder Geisteswissenschaften, hängt jedoch von der Richtigkeit dieser Lehren nicht ab, wenn er auch durch sie gefördert oder behindert werden kann.

Ganz anders verhält es sich auf dem Gebiet der Freiheit, d. h. der Moralphilosophie im weiten Sinne, in dem das 18. Jahrhundert diesen Begriff verstanden hat, nämlich sowohl der Rechtsphilosophie, der Lehre von der Ordnung der äußeren, als auch der Ethik, der Lehre von der inneren Freiheit des Menschen. Hier hängt das Gelingen, d. h. die Durchführung des zur Wahrung der Würde des Menschen Erforderlichen, von der Richtigkeit der philosophischen Einsichten ab. Deshalb ist bei aller epochalen Bedeutung der kantischen kritischen Erkenntnistheorie sein originärer Beitrag zur reinen praktischen Philosophie, also zur Moralphilosophie das wichtigste, übrigens auch erst spät errungene Ergebnis seiner lebenslangen Gedankenarbeit.

Aus seiner Rechtsphilosophie sei nur versucht, seinen Beitrag zum philosophischen Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht knapp zu würdigen, weil er für uns heute als modernes Lehrstück zur freiheitlichen Demokratie (in Kants Sprachgebrauch: zum Republikanismus) und zu unverzichtbaren Voraussetzungen einer dauerhaften Friedensordnung verstanden und bewundert werden kann.

Zum Staatsrecht hat sich Kant zuerst in seinem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ (1784) geäußert, in dem er das Grundprinzip der Demokratie angibt: „Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte.“ Für die Verfassung eines republikanischen Staates fordert er in seinen einschlägigen Schriften von 1793-1797 eine strikte Trennung von gesetzgebender und regierender (exekutiver) Gewalt, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und die uneingeschränkte Freiheit der Meinungsäußerung und Meinungsbildung („die Freiheit der Feder“ ist „das einzige Palladium der Volksrechte“).

Damit anstelle der Kriege, die eine Schande für die Menschheit sind, dauerhaft Frieden herrschen kann, müssen nach Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ alle Staaten der Erde als Republiken (wir sagen: freiheitliche demokratische Rechtsstaaten) verfaßt sein und schon vorher Friedensverträge geachtet, gewaltsame Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten unterlassen und in Kriegen keine unehrenhaften Mittel gebraucht haben, die das Vertrauen zueinander nach Beendigung des Krieges untergraben. Die so qualifizierten Republiken sollen dann ein Verteidigungsbündnis schließen, um einen dauerhaften Frieden herzustellen. Ein Angriff auf einen Staat, der übermächtig zu werden droht (potentia tremenda), gilt als Verteidigung. Eine weitere Bedingung für eine dauerhafte Friedensordnung ist die Beschränkung des Weltbürgerrechtes auf das Gastrecht. Man darf sich vorhandenen Bewohnern in jedem Teil der Erde zum Verkehr anbieten, muß aber weichen, wenn sie der Anwesenheit bei ihnen nicht zustimmen. Wegen dieser um der Menschenwürde willen notwendigen Beschränkung des Weltbürgerrechts ist die Ausrottung, die Vertreibung und die Unterdrückung von Menschen ein Verbrechen am Recht der Menschheit. Kant wendet sich mit dieser Forderung besonders an die Kolonialmächte seiner Zeit, denen er vorwirft, daß sie „von der Frömmigkeit viel Werks machen und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken“, „in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten“ werden wollen.

In seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) entwickelt Kant erstmalig seine Lehre vom kategorischen Imperativ. Wohl keine andere Lehre des Königsbergischen Weltweisen ist bis heute so vielfältigen Mißdeutungen ausgesetzt gewesen wie sein Prinzip der Ethik: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (1788, „Kritik der praktischen Vernunft“, § 7)

Eine Mißdeutung besteht in der Behauptung, dieses Sittengesetz sei als ein formales Gesetz leer. Es sei daher untauglich zur Bestimmung von Pflichten dem Inhalte nach.

Eine zweite Mißdeutung besagt, man brauche nach diesem Prinzip die Maxime lediglich zu verallgemeinern. Da ich aber jede Maxime verallgemeinern könne, sei das Prinzip wertlos (Hegel: „Taschenspielertrick“).

Eine dritte Mißdeutung meint, der kategorische Imperativ verlange, daß wir uns vorstellten, was dabei herauskäme, wenn alle Menschen so (nach dem gleichen Grundsatz) handelten, wie wir es vorhaben. Führe dies zur Katastrophe, dann sei der Handlungsgrundsatz unerlaubt.

Ein weiteres Mißverständnis des kategorischen Imperativs ist die beliebte Gleichsetzung mit der sogenannten Goldenen Regel (Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu, oder positiv gewendet: Was ihr wollt, daß die Leute euch tun sollen, das tut ihnen auch). Denn diese Regel ist schon deshalb als Sittengesetz untauglich, weil der Maßstab sittlichen Handelns hier in den subjektiven Willen der einzelnen Menschen gelegt wird, für den ja gerade ein allgemeingültiges Prinzip zu suchen ist. Kant warnt selbst in einer Anmerkung zum 2. Abschnitt der „Grundlegung“ ausdrücklich vor diesem Mißverständnis.

Was bedeutet der kategorische Imperativ wirklich?

Er verlangt von uns ein Gedankenexperiment. Nehmen wir an, wir wollen nach dem Grundsatz, bisweilen zu lügen, handeln. Das macht keine Schwierigkeiten. Dann nehmen wir an, dieser Grundsatz gelte als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung. Das macht auch keine Schwierigkeiten.

Die Schwierigkeit, d. h. ein Widerspruch entsteht erst dann, wenn ich beides zugleich will: diesen Grundsatz als für mich geltend und als allgemeines Gesetz. Denn mein Vorhaben, bisweilen (wenn es mir vorteilhaft erscheint) zu lügen, kann nicht zu dem einzig sinnvollen Erfolg führen, daß mir geglaubt werde, wenn mein Grundsatz gleichzeitig allgemeines Gesetz ist, d. h. wenn auch alle anderen ihn haben. Also widerspricht es dem kategorischen Imperativ, wenn ich nach dem Grundsatz, bisweilen zu lügen, verfahre.

Bei diesem Gedankenexperiment ist freilich aus der Erfahrung vorausgesetzt, daß Menschen der Sprache mächtig sind und wahre oder falsche Aussagen machen können. Diese erfahrbaren Inhalte möglichen menschlichen Handelns liegen immer schon vor. Denn ich will immer schon etwas, bevor ich mich fragen kann, ob es die Vernunft erlaubt. Das formale Sittengesetz dient also als Mittel, die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit einer Handlung, die ich vorhabe, zu erkennen.

In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hat Kant unter der Voraussetzung, daß der Mensch als einziges Lebenwesen ein Zweck an sich selbst sei, eine zweite allgemeine Formel des kategorischen Imperativs entwickelt, die zur Ableitung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst besser geeignet ist als die erste allgemeine Formel.

Diese zweite Formel lautet: „Handle so, daß du die Menschheit in deiner Person und in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ So vernichtet derjenige, der sich tötet, sich selbst als Zweck, indem er sich zum bloßen Mittel der Beendigung seiner ihm unerträglich erscheinenden schmerzhaften Existenz macht.

Was aber bloß als Mittel gebraucht werden kann wie alle Sachen und alle vom Menschen verschiedenen Lebewesen, hat lediglich einen Wert, der in einem Preis ausdrückbar ist. Der Mensch allein hat Würde, die nicht gemessen werden kann.

Der kategorische Imperativ Kants ist aber nicht nur das Prinzip der Erkenntnis des moralisch Möglichen und Unmöglichen (des Erlaubten und Unerlaubten), sondern auch das Prinzip der Ausübung des moralischen Gesetzes. Die Selbstgesetzgebung der allgemeinen Menschenvernunft in uns (Autonomie) vermittelt uns mit dem Prinzip der Beurteilung unseres Handelns zugleich das Motiv für unser Handeln gemäß dem Gesetz der Sittlichkeit. Als formales Prinzip zur inhaltlichen Bestimmung unserer Pflichten ist es gerade frei von einem allgemeinen Zweck als oberstem Kriterium der Sittlichkeit wie z. B. der Glückseligkeit oder dem Nutzen. In dieser unmittelbaren Wirksamkeit der reinen praktischen Vernunft zeigt sich die absolute Freiheit des menschlichen Willens, ohne die unser Tun und Lassen uns nicht zugerechnet werden könnte.

Kant löst sich damit von dem komparativen Freiheitsbegriff, wie ihn Leibniz und Wolff vertreten haben, nach dem unsere Freiheit lediglich darin besteht, daß auch vernünftige Erwägungen auf unsere Willensentscheidungen Einfluß haben können. Damit bliebe es aber unklar, ob ich es bin, der handelt und denkt, oder ob es nur in mir denkt und mich zum Handeln oder Unterlassen bestimmt. Diese „Freiheit eines Bratenwenders“, der auch nur funktioniert, nachdem er aufgezogen worden ist, verwirft Kant erst 1783, während er ihm noch 1781 in der Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“ seinen Beifall gegeben hatte. Damit entfallen nun auch die Annahmen von Gott und Unsterblichkeit als notwendig oder auch nur förderlich zur Motivation für das sittliche Handeln des Menschen. Die Moral ist nun auch hinsichtlich der Ausübung sich selbst genug, nachdem schon vorher klar war, daß der von Vorurteilen freie Mensch die Erkenntnis seiner Pflichten weder einer Offenbarung noch dem Orakel einer vermeintlichen inneren Stimme zu verdanken hat.

Kants „Ethikotheologie“, zu der sich sein Denken in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) entwickelt hat, besteht in der Einsicht, daß der Mensch als moralisches Wesen sich die Welt als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganzes ohne die Vorstellung von Gott als vernünftiger Weltursache nicht denken kann. Der Atheist kann ein anständiger Mensch sein. Aber in seinem Denken widerspricht er sich, weil er nicht die Bedingung der Kultivierung unserer Anlage zum Guten (Moralisierung) annimmt, unter der allein die Existenz von Wesen, die dem moralischen Gesetz verpflichtet sind, mit einer zweckmäßigen Ordnung der Welt übereinstimmend gedacht werden kann.

In seiner „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) zeigt Kant zunächst, daß die Moralität des Menschen im Kampfe gegen einen immer schon anzutreffenden Hang zum Bösen errungen werden muß. Deshalb ist es sinnvoll, wenn wir uns gegenseitig durch gute Beispiele unterstützen. Die das tun, bilden in dieser Gemeinsamkeit gleichsam eine „unsichtbare Kirche“. Die sichtbaren Kirchen müssen darauf achten, daß ihre Glaubenssätze und Rituale dem moralischen Kern jeder vernünftigen Religion keinen Abbruch tun. Andernfalls käme es zu einem religiösen „Afterdienst“ in Form von Schwärmerei, Fetischismus und Zauberei, wodurch die Verfassung einer Kirche zum „Pfaffenthum“ entartete.

Dies sind die Lehren Kants, mit denen man sich auseinandersetzen muß, wenn die Philosophie ihre ureigene Aufgabe erfüllen soll, die darin besteht, Klarheit darüber zu schaffen, was man sein, tun und lassen muß, um ein Mensch zu sein, der seiner erkennbaren Bestimmung gemäß lebt, und was die Menschheit leisten muß, um wahrer Humanität gemäß verfaßt zu sein. Psychologie, Soziologie und religiöse Ideen und Erfahrungen können bei der Umsetzung des Erkannten hilfreich sein, aber zu den Prinzipien können sie keinen Beitrag leisten für vernünftige Wesen, die aufrecht zu gehen und den bestirnten Himmel bewundernd anzuschauen vermögen.
Eberhard Günter Schulz (KK)

 

KK1187 S 05

Die Düsseldorfer Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus hat zum Thema „Spätaussiedler in den Medien“ ein Seminar mit einer Podiumsdiskussion veranstaltet, zu dem Spätaussiedler, Lehrer, Sozialpädagogen, Vertreter der Wohlfahrtsverbände und kommunalen Behörden eingeladen waren. Hans-Jürgen Thom vom Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie, Nordrhein-Westfalen, stellte Integrationsmaßnahmen und Überlegungen vor, die von seiten der Landesregierung gefördert werden. „Sprach-Losigkeit schafft Probleme im Miteinander und führt zu negativen Erfahrungen und Gefühlen bei den betroffenen Jugendlichen“, betonte er in seinem Vortrag. Die von Dr. Walter Engel, dem Direktor des Gastgeberhauses, geleitete Diskussionsrunde mit Dimitrij German, Wimar Breuer, Claus Wierling, Wilfried Weske und Detlev Hüwel thematisierte das Verhältnis der Medien zu den Spätaussiedlern und das von ihnen vermittelte Bild. Die Bibliothek des Gerhart-Hauptmann-Hauses präsentierte einen Büchertisch zum Thema.
D. G. (KK)

 

KK1187 S 06

Schlesien bleibt nicht Schlesien
An der Schwelle zur Europäischen Union erfährt der Wirtschaftsraum einschneidende Veränderungen, wie das gdpv-Frühjahrsforum zeigt

Von harscher Kritik bis zur Euphorie über die wirtschaftlichen Chancen Schlesiens nach dem EU-Beitritt Polens reichten die Stimmen der Referenten beim Schlesien-Forum I/2004 der Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung (gdpv). Unter dem Titel „Schlesien als Wirtschaftsraum an der Schwelle zur Europäischen Union“ hatte die gdpv genau vier Wochen vor dem Beitrittsdatum 1. Mai Ökonomen, Politikwissenschaftler, Politiker und Geistliche als Referenten zu ihrem traditionellen Frühjahrsforum eingeladen. Diese sprachen vor 40 deutschen und polnischen Tagungsteilnehmern in dem für die gewählte Thematik symbolträchtigen Schloß Plawniowitz bei Gleiwitz. Die seit 1993 u. a. mit Geldern des Bundesministeriums des Innern exzellent restaurierte Anlage, welche heute dem Bistum Gleiwitz als Bildungs- und Exerzitienhaus dient, war schließlich bis 1945 Sitz eines der bedeutendsten oberschlesischen Industriemagnatengeschlechter, der Grafen von Ballestrem.

Über deren Bedeutung für die industrielle Prosperität der Region im 19. Jahrhundert referierte der Geistliche Rektor des Hauses, Pfarrer Dr. Krystian Worbs, während Professor Dr. Toni Pierenkemper aus Köln die Entwicklung Oberschlesiens zum Industriezentrum in den Blick nahm. In fünf „Akten“ ließ der Volkswirtschaftler die Wirtschaftsgeschichte des flächenmäßig kleinen Raumes zwischen Gleiwitz im Westen und Kattowitz im Osten von der Habsburgerzeit bis zum industriellen Durchbruch in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts Revue passieren. Einblicke in diese Industrielandschaft ermöglichten zwei Lokaltermine, welche die Tagungsgäste zuerst in das historische Silbererzbergwerk in Tarnowitz führten, das einst Goethe besucht hatte, um hier eine der ersten auf dem europäischen Festland in Betrieb genommenen Dampfmaschinen zu bewundern. Dann besuchten die Teilnehmer die aus dem 19. Jahrhundert stammende Abbaustrecke des Kohlebergbauwerkes „Königin Luise“ in Hindenburg. Von der Nostalgie der Vergangenheit lenkte der Politikwissenschaftler Professor Dr. Hermann von Laer aus Vechta die Aufmerksamkeit auf die Zukunft der Region, aus der viele junge Arbeitskräfte ohnehin schon saisonal oder auch ganzjährig nach Deutschland oder in die Niederlande abgewandert sind. Von Laer konstatierte zwar in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen die Entwicklung einer zunehmend gleichen Import-/Exportstruktur, warnte jedoch vor ökonomisch schwerwiegenden Folgen für die Wirtschaft Polens nach dem 1. Mai. So könne Polen zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit dem Standard westeuropäischer Industrieländer noch nicht mithalten. Zudem sind nach Einschätzung des Vechtaer Wissenschaftlers Einschnitte im deutschen Sozialsystem unvermeidlich, da die soziale Mindestsicherung in beiden Ländern extrem unterschiedlich ist.

Uneingeschränkt positiv bewertete hingegen Dr. Beniamin Noga aus Breslau den polnischen EU-Beitritt, indem er u. a. auf den Wegfall der Schranken im Handelsaustausch verwies. Der als Vizepräsident des Niederschlesischen Agrar- und Lebensmittelgroßmarktes tätige Betriebswirt räumte gleichwohl ein zu geringes Maß an Dienstleistungsberufen und einen zu hohen Beschäftigtenanteil in der Landwirtschaft ein. Daß der daher zu erwartende Umbau des Arbeitsmarktes nicht nur positive Folgen für die Gesellschaft haben werde, sah dagegen der Leiter des Seelsorgeamtes im Bistum Gleiwitz und Hindenburger Pfarrer Prälat Paul Pyrchalla voraus. Schon gegenwärtig habe die Kirche mit der kulturellen Entwurzelung der Arbeitsmigranten zu kämpfen, worin der oberschlesische Geistliche einen wachsenden Trend beobachtete, der die Priester vor die Herausforderung stelle, den Menschen nach Westen zu folgen. Gleichzeitig müsse den in ihrer Heimat Verbleibenden vor dem Hintergrund von Armut und Arbeitslosigkeit Mut gemacht werden. Ein Stück Hoffnung in wirtschaftlicher Hinsicht konnte Jörn-Konrad Timm, Europabeauftragter der sächsischen Landeshauptstadt Dresden, vermitteln, indem er auf konkrete Projekte beispielsweise im Gesundheitswesen und im Tourismusbereich verwies. So sei nicht nur eine gezielte Werbung für Schlesien als Urlaubsland geplant, sondern ebenso ein Projekt, mit Hilfe deutscher Krankenkassen die Infrastruktur in den Bädern der Grafschaft Glatz für deutsche Kurgäste attraktiver zu gestalten. Trotz mancher Ernüchterung bewertete Timm das von ihm koordinierte EU-Projekt „Enlargenet“ (Erweiterungsnetz) einer trinationalen Bündelung von regionenbezogenem Denken in Sachsen, Nordböhmen und Niederschlesien optimistisch.

In diesen Grundtenor stimmte auch der Landtagsabgeordnete Andreas Grapatin aus Dresden ein. Nach seiner Ansicht habe Schlesien durch seine günstige geographische Lage zwischen den Wirtschaftszentren Berlin, Prag und Warschau eine gute Ausgangsposition für wirtschaftliche Prosperität. Wenn es gelinge, die mittelalterliche Via Regia als Grundstruktur wiederzubeleben und das Identitätsbewußtsein der Schlesier zu stärken, sei ihm um die Zukunft dieser Region nicht bange.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Prognosen waren sich Europa-Euphoriker und Europa-Skeptiker auf dem gdpv-Schlesien-Forum über eines einig, das auch der sächsische Landtagsabgeordnete Grapatin offen aussprach: Schlesien wird sich in den kommenden zwanzig Jahren erheblich wandeln.
Michael Hirschfeld (KK)

 

KK1187 S 08

Wer Probleme nicht löst, wird zu deren Bestandteil
Die Ackermann-Gemeinde widmet zwei Tagungen Fragen der Identität im neuen Mitteleuropa

Der EU-Beitritt der Staaten aus Mittel- und Osteuropa und damit verbundene Themen wie die historischen Hintergründe, Sicherheit, Kriminalität, wirtschaftliche Auswirkungen oder das Wertebewußtsein dieser Völker – insgesamt die Identität dieses Teiles von Europa – waren die Themen von zwei Tagungen der Ackermann-Gemeinde in München und in Iglau.

„Die Welt der Slawen“ lautete der Titel des Seminars der Ackermann-Gemeinde München/Freising, bei dem mit Dr. Hans-Joachim Härtel der ehemalige Leiter des Hauses der Begegnung in München als ausgewiesener Experte zur Verfügung stand. Er erläuterte die Etymologie des Wortes „Slawe“, die Entstehung der slawischen Sprachen und der Expansion der Slawen bis nach Griechenland vom 6. bis zum 9./10. Jahrhundert und die danach erfolgte Aufgliederung in Süd- (Bulgaren, Makedonen, Serben, Kroaten, Slowenen), West- (Tschechen, Slowaken, Sorben, Polen, Polaben, Kaschuben) und Ostslawen (Russen, Belorussen, Ukrainer). Der erste slawische Staat war laut Härtel übrigens im Jahre 661 Bulgarien. Einen wesentlichen Impuls habe den Slawenvölkern die Christianisierung gegeben, ihre (National)Sprache wurde schriftlich fixiert und später – bei der Reformation – auch normiert. Zugleich habe sich aber auch die Teilung zwischen der Ost- und der Westkirche verstärkt. Die Slawenlehrer, der Priester Cyrill und der Mönch Method, haben für die Slawenmission ein eigenes Alphabet erfunden, aus dem die kyrillische Schrift hervorging. „Die Christianisierung war ein kultureller Schub, das kulturelle Verdienst von Cyrill unermeßlich“, faßte der Referent zusammen. Im 19. Jahrhundert, nachdem in den zwei Jahrhunderten zuvor nur Rußland ein selbständiger slawischer Staat war, sei das Selbstbewußtsein der Slawen wieder geweckt worden. Härtel sprach von der „Wiedergeburt der slawischen Völker“, wo aber auch der Nationalismus, zum Teil eine militante Abgrenzung gegenüber den andern, festzustellen gewesen sei. Nach den panslawischen Kongressen 1848 in Prag und 1867 in Moskau hätten sich nicht alle slawischen Völker dem Diktat des Zaren unterstellen wollen, in der habsburgischen Monarchie sei der Entwurf eines Austroslawismus in Umlauf gebracht worden, einer Konföderation gleichberechtigter Nationen. Bis in die jüngste Zeit, so Härtel abschließend, habe die Sowjetideologie panslawische Züge gehabt.

Dem Thema „Identität im neuen Mitteleuropa: europäisch – national – regional“ widmete sich das inzwischen 13. Iglauer Symposium in Iglau, dem knapp 200 Teilnehmer aus Tschechien, der Slowakei, Österreich und Deutschland beiwohnten. Einen Monat vor dem EU-Beitritt Tschechiens und weiterer neun Staaten ging es an den drei Tagen um die Charakteristika von Identität sowie um die Bedeutung und Rolle von Mitteleuropa und insbesondere der Nachbarstaaten Deutschland und Tschechien. Neben Kommunalpolitikern wie dem Hauptmann des Kreises Vysocina oder Botschaftern der Slowakei und Österreichs würdigte Dr. Michael Libal, der deutsche Botschafter in Prag, die Arbeit der beiden Veranstalter – neben der Ackermann-Gemeinde organisierte die tschechische Bernard-Bolzano-Stiftung diese Tagung – als „wertvolle Ergänzung der tschechischen und deutschen Diplomatie“. PhDr. Jiri Kudela vom tschechischen Außenministerium war voll des Lobes: „Die tschechische Regierung schätzt dieses Forum sehr hoch. Wir wollen auch Konfliktfragen nicht meiden. Es muß nach der europäischen Gestalt des 21. Jahrhunderts gesucht werden.“ Und so wurden in einem historischen, politischen, kulturellen und regionalen Forum von namhaften Referenten wie auch von den Tagungsteilnehmern viele noch offene Fragen aus der gemeinsamen Geschichte sowie aus der Gegenwart diskutiert. Dr. Walter Rzepka, der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde, rief auf, „einander zu respektieren und füreinander Sympathie zu entwickeln“ und die Region „Mitteleuropa“ wieder stärker zu betonen. Dr. Petr Pithart, Senatspräsident und Vorsitzender der Bernard-Bolzano-Stiftung, zählte zu den Charakteristika von Identität auch den Glauben sowie Werte und Traditionen.

Zum ersten Mal bei den Iglauer Symposien zelebrierte der Brünner Bischof Vojtech Cikrle den Sonntagsgottesdienst. In seiner Begrüßung ging er auf die aktuellen Fragen ein. „Wenn dieses Zusammenleben gedeihlich sein soll, müssen wir die Probleme ausgleichen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben. Wenn wir das nicht lösen, können wir zum Bestandteil dieser Probleme werden. Jesus Christus ist gekommen, um die Mauern abzubauen.“
Markus Bauer (KK)

 

KK1187 S 09

Kleinteiliges Inbild Mitteleuropas
Die bayersich-oberösterreichische Landesausstellung: „Grenzenlos“

So heißt die bayerisch-oberösterreichische Landesausstellung, die im Frühjahr gleich an vier Orten, zwei bayerischen und zwei österreichischen, nämlich Passau und Kloster Asbach, bis 1803 eine kleinere Benediktinerabtei westlich des Inns, und dem Augustinerchorherrenstift Reichersberg und der barocken Grenzstadt Schärding, beide am Inn, eröffnet wurde. Daß es überhaupt eine Zweiländeraustellung ist, verdanken Bayern und Oberösterreich einem Ereignis, das in Oberschlesien stattgefunden hat, nämlich dem Frieden von Teschen 1779. Er beendete den vielverspotteten „böhmischen Kartoffelkrieg“ , mit dem Friedrich II. von Preußen Bayern wieder einmal vor dem gefräßigen österreichischen Nachbarn gerettet hatte. Nach dem Aussterben der altbayerischen Wittelsbacher 1777 war die allein noch bestehende pfälzische Linie auch in den Besitz von Altbayern gekommen, was Joseph II. in Wien nicht hinnehmen wollte. Immerhin kostete der Krieg Bayern das Innviertel, ein Gebiet mit etwa 220 Quadratkilometern und 80 000 Einwohnern. Braunau, Ried, Schärding und ihr topographisch, land- und verkehrswirtschaftlich günstiges Umland sind seither österreichisch.

Die Absicht der Ausstellung ist es vor allem, erlebbar zu machen, daß in einem Gebiet, das einmal von einem beispiellosen Gewirr von Klein- und Kleinstterritorien in Gestalt von Adels- und Klosterherrschaften, Grafschaften bis hin zu reichsunmittelbaren und einem Reichsfürstentum, nämlich Passau, und ihren Grenzen geprägt war, dennoch „grenzen-los“ gelebt wurde. Erzwungen oder ermöglicht hat dies vor allem der Inn. Im Gegensatz zu heute war er bei dem damaligen geringen Tiefgang der Wasserfahrzeuge – für den Inn gab es eigene Konstruktionen – ein zwar risikoreicher, aber voll schiffbarer Wasserweg, vor allem für die bayerischen Salzausfuhren. Die Gebäudezeilen der heutigen Universität Passau ziehen sich vom einstigen Großkloster St. Nikola kilometerlang am Inn entlang. An den gleichen Plätzen lief durch Jahrhunderte der Salzumschlag ab, der den „goldenen Steig“ nach Böhmen, dem Hauptabsatzgebiet des „reichen Salzes“ aus Reichenhall bediente.

Zwar hat man sich hier ähnlich wie die Oberpfalz und Westböhmen als gemeinsamen Wirtschafts- und Lebensraum verstanden, doch kleinteilig war in dieser Landschaft (fast) alles. Und doch auch wieder nicht. Die Landschaften am unteren Inn waren Um- und Hinterland des größten Bistums der Christenheit, des Bistums Passau, das bis Esztergom reichte, ehe es Joseph II. 1783 mit der von ihm erzwungenen Neuorganisation der Bistümer in Österreich von sechs Siebteln seines geistlichen Territoriums „befreite“. Die geistige Weite, die sich für Passau bis in die Spätrenaissance daraus ergab und zu der es im Spätbarock noch einmal zurückgekehrt ist, hat zwar nicht auf das tägliche Leben der Bevölkerung, wohl aber auf die „Grenzenlosigkeit am Inn“ eingewirkt. Die engen Verbindungen Passaus zum böhmischen Humanismus, der ja zum Großteil ein schlesischer war, die Rolle der Passauer Bischöfe am polnischen Königshof und in der Diözese Krakau und vor allem die Rolle der Stadt als Ort des „Passauer Vertrages“ von 1555, des ersten gelungenen Versuchs eines konfessionellen Ausgleichs, hatten darin ihre Basis.

Kleinteilig, aber alles andere als unbedeutend war wieder das Reichsfürstentum Passau, seit dem 13. Jahrhundert mit der Landesherrschaft, seit 1679 mit der Landeshoheit versehen. Es war nur 950 Quadratkilometer groß und hatte zu seinen besten Zeiten höchstens 50 000 Einwohner. Dazu war es eingeklemmt zwischen den drei Großterritorien Bayern, Böhmen und Österreich. Seine treuesten Verbündeten waren immer die Donau und der Inn. An der Schlüsselstellung Passaus am Zusammenfluß zweier Ströme und eines Flusses, der Ilz, kam vor allem Ost- und Südosteuropa nicht vorbei, noch weniger der Kaiser. Ab 1598 wollte er es auch nicht mehr, sondern machte aus Passau (sehr zum Verdruß Bayerns) eine habsburgische „Sekundogenitur“, wie man damals den Sinekurenschacher des Hochadels mit den Territorien und Pfründen der Reichskirche vornehm genannt hat – den übrigens später die Pfarraristrokratie des pietistischen Württembergs so erfolgreich kopiert hat.

Passau trug das unter vielem anderen eine günstige Handels- und Zollpolitik ein, die ihm stets die Meistbegünstigung in allen Zollverträgen mit Österreich und Böhmen sicherte, eine privilegierte Stellung seines Hafens und günstige Stapelrechte – und 1683 sogar eine kurze Rolle als Hauptstadt des Reiches. Bevor nämlich der polnische König Jan Sobieski und der bayerische Kurfürst Max Emanuel am Kahlenberg die Truppen des Sultans Kara Mustafa besiegten, war der kaiserliche Hof nach Passau geflüchtet, das zur kaiserlichen Residenz ausgerufen wurde. In der „Alten Hofhaltung“ gegenüber der Südwand des Domes hat Prinz Eugen seinen Diensteid auf den Kaiser abgelegt.

Das ist die eine Seite. Die andere ist, daß der Passauer Satellit die kaiserliche „Politik“ in, oder genauer gesagt: gegen Böhmen flankiert hat, bis hin zur Gestellung der „Passauer Kriegshaufen“, einer terroristischen Bandentruppe mit schlimmsten Verheerungen in Böhmen im Gefolge. Das gegenreformatorische Wüten von Ferdinand II. nach der böhmische Katastrophe am Weißen Berge, überhaupt der Dreißigjährige Krieg sind auch das Ergebnis der Passauer Satellitenrolle.

Hier wird dem Besucher vieles geboten, was er vielleicht irgendwann einmal gehört hat, sich aber nicht vorstellen konnte, auch der nicht, der in Passau oder seinem Umland zu Hause ist. Mehr als fünfhundert kunst- und kulturgeschichtliche Objekte aus eigenen Beständen und bedeutenden Sammlungen Europas belegen, wie die Ereignisse zweier Jahrhunderte auf Hochstift, Bistum, Residenzstadt Passau und ihre Menschen eingewirkt haben und welche Entwicklungen von hier ausgegangen sind. Deutlich gemacht wird auch, daß nach dem letzten Fürstbischof aus dem Hause Habsburg, Erzherzog Karl Joseph (1662-1664), zwar die Sekundogenitur der Habsburger beendet war, aber nicht die Satellitenrolle Passaus. Bis zum Ende 1803 gab es nur noch Kandidaten, die Habsburg eng „verbunden“ waren, die für den Kaiser auch diplomatische Aufgaben im Reich versahen. In dieser Zeit nutzten die Passauer Bischöfe ihr Amt als Großkammerherren der polnischen Könige zu einer anderen, übersichtlichen „Ostpolitik“, die wesentlich zur Vorbereitung des Systems der drei schwarzen Adler beitrug, die von da an über Polen kreisten, bis die Teilungen erreicht waren, die Europa einmal für vorteilhaft gehalten hat.

Gerade nach den Stadtbränden von 1662 und 1680, die Passau in Schutt und Asche gelegt hatten, wurde der fürstbischöfliche Hof gleichsam zum beständigen Konjunktur- und Arbeitsbeschaffungsprogramm, so daß die in Mittelalter und Renaissance nie erreichte Identifizierung der Bevölkerung mit dem Fürstbischof so erreicht wurde – ein Beispiel mehr dafür, daß der Absolutismus von der Bevölkerung nicht abgelehnt wurden. Hier und bei der Darstellung der Klosterlandschaft am Inn leistet die Ausstellung ihr Bestes, vor allem, wenn sie die Architektur-, Formen- und Bildsprache der klösterlich geprägten „Kunstprovinz am Inn“ erleb- und verstehbar zu machen versucht. Mit einigen Einschränkungen gilt das auch für den in Schärding gezeigten Teil zur städtisch-bürgerlichen Welt am Inn. Deutlich wird vor allem, daß die Organisationsmuster von Handel, Wirtschafts- und Dienstleistungsaustausch und Finanzbewegungen, wie sie in den italienischen und flämischen Handelsstädten und von den Fuggern geschaffen wurde, ein europaweites Aktionssystem waren, das auch in kleinen Einheiten etwa in Schärding oder Ried praktiziert wurde. Ob es die Handelsstädte des Nord-und Ostseeraumes bis zum Baltikum oder die Schlesiens waren, überall wurde ähnlich gehandelt, organisiert und abgerechnet, auch gebaut und gelebt. Den immensen Reichtum schlesischer „Schleierherren“ hat es allerdings am Inn nicht gegeben.

Allerdings: Es gibt kaum ein Klischee, das ausgelassen wird. Fast meint man manchmal, die Sprüche des „ersten deutschen Arbeiter und Bauernstaates zur Befreiung der Bauern von der Knechtschaft in der feudalen Ausbeutung“ zu lesen. Obwohl ein renommierter Wirtschaftshistoriker von der Universität Linz, Roman Sandgruber, an der Ausstellung beteiligt ist, wurde kaum ein Versuch gemacht, das damalige Grundherrschafts- und Besitzsystem anschaulich zu machen. Die Ertrags-, aber auch die Risiko- und Investitionsteilung zwischen dem Bauern und dem Grundherren, die Bau- und Unterstützungspflicht des Grundherren bei Kalamitäten und größeren Ausfällen, das Erbrecht des Bauern, der Aufbau der Abgabenpflichten, die Erhaltung der „Gmain“, der Gemeinde, von damals und ihres Systems der Daseinsvorsorge durch Arbeit aller, das ökologische Risiko, aber auch die Tatsache, daß der Landesherr an den Schäden beteiligt war, die er durch Kriege und Truppendurchzüge selber angerichtet hatte – kaum etwas davon findet sich. Im Ostteil des einstigen Fürstbistums Passau gibt es noch heute Bauernfamilien in stattlicher Zahl, die es in der Generationenfolge und dem Alter des Hofbesitzes mit vielen großen Adelsfamilien aufnehmen können. Man sitzt nicht seit 1360, 1410 oder auch 1290 auf dem gleichen Hof, wenn man immer nur „in unvorstellbarer Armut und Not gelebt“ hat, wie es hier heißt. Angesichts solcher Pauschalierungen verläßt man die Ausstellung mit dem Gedanken: „O Wissenschaft, verhülle dein Haupt!“ Die Ausstellung dauert an allen vier Orten bis zum 2. November 2004, der – gute – Katalog kostet 28 Euro.
Dietmar Stutzer (KK)

 

KK1187 S 12

Buchenländer, wie es in viele Büchern steht
Ein Vertreter der Bukowiner in Wort und Tat: Rudolf Wagner ist gestorben

Ein halbes Jahrhundert hat Rudolf Wagner das Nachkriegsleben seiner Bukowiner Landsleute in der Bundesrepublik Deutschland als öffentlicher und gewählter Vertreter entscheidend mitgeprägt, sich zäh, standhaft und verantwortungsbewußt über den eigenen landsmannschaftlichen Wirkungsbereich für die Belange der Südostdeutschen, der Flüchtlinge, Vertriebenen und seinerzeit bis Kirgistan Verschleppten eingesetzt.

Er war ein voll eingebundener wie auch öffentlich wahrgenommener und geschätzter Repräsentant der Buchenland- und Südostdeutschen. Ein bleibendes Beispiel dafür ist seine Mitarbeit und die Unterzeichnung (für die Südostdeutschen) der Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahre 1950 mit dem Kernsatz des Verzichts auf Rache ohne die Aufgabe des Heimatrechts.

Wie in der alten Heimat Bukowina war Dr. Rudolf Wagner ein Mittler zwischen Gruppen und Kulturen. Bereits ein Jahr nach der Rückkehr aus der englischen Kriegsgefangenschaft sorgte er für ein Zusammengehen der getrennt umgesiedelten Buchenlanddeutschen aus der Nord- und der Südbukowina, der katholischen und evangelischen Buchenländer über die caritativen Hilfsstellen in München. Es gab keine buchenländische Großveranstaltung oder Kulturtagung in Bayern, zu der nicht auch die Exilrumänen und Exilukrainer eingeladen wurden und mitwirkten. Umgekehrt war Dr. Wagner bei diesen gern als Referent, Freund oder Gast gesehen und geschätzt. Diese Mittlerrolle nahm der Publizist und Wissenschaftler mit neuem Engagement nach der politischen Wende in der Bukowina wahr, besonders durch die Förderung junger Wissenschaftler, als Berater in Sachen Bukowina für die junge Forschergeneration. Die Czernowitzer Staatliche Universität (heute Nationaluniversität) dankte durch die Verleihung des Ehrendoktors an ihren ehemaligen Studenten.

Nach dem zweiten Weltkrieg waren fast 25 000 Buchenländer nach Bayern gelangt, ein Viertel aller Bukowiner Umsiedler. Durch das Wirken der beiden Hilfsstellen – Dr. Wagner hatte mit einer kurzen Unterbrechung beim evangelischen Hilfswerk bis zur Gründung der Landsmannschaft der deutschen Umsiedler aus dem Buchenland e. V. im Herbst 1949 die Geschäftsführung inne –, weitergeführt durch die Landsmannschaft, war München zum neuen buchenländischen Czernowitz geworden. Einer der Initiatoren dieser landsmannschaftlichen Vertretung unter den neuen Gegebenheiten in Westdeutschland war Dr. Wagner. Zusammenhalt, Zusammenschluß (auch zwischen den Landsmannschaften) und gemeinsames Wirken waren für ihn in der schwierigsten Zeit vor der Gründung der landsmannschaftlichen Verbände und bis zur Übergabe seiner Ämter das erste Gebot.

Auf der Gründerversammlung der Landsmannschaft der Umsiedler aus dem Buchenland in München am 9. Oktober 1949 wurde er in die fünfköpfige Spitze gewählt, die in der Organisation die Möglichkeit sah, eine zerschlagene und mißbrauchte Gemeinschaft wieder zusammenzuführen, vor allem aber unter damaligen Verhältnissen für bessere Lebensbedingungen zu sorgen, für die Anerkennung der Umsiedler als Vertriebene. Daß ihr Schicksalsweg in die „Dokumentation der Vertreibung“ aufgenommen wurde, war ebenfalls entscheidend Rudolf Wagner zu verdanken. Er zählte zu den vereidigten Mitarbeitern des Wissenschaftlerteams von Dr. Theodor Schieder.

Ein frühes Anliegen, das ihm bis in die letzten Tagen seines Lebens am Herzen lag, war eine Zeitung für seine Landsleute: die Monatsschrift „Buchenland“, deren Titel dann in „Der Südostdeutsche“ geändert wurde. Wenn ihn zeitweilig seine Berufstätigkeit bzw. seine politische Arbeit als Abgeordneter im Bayerischen Landtag auch daran hinderten, unmittelbar an der Gestaltung mitzuwirken, zeigte Wagner stets viel Interesse für dieses wichtige heimatliche Band. Zwei Wochen vor seinem plötzlichen Tod schickte er für diese Zeitung noch vier Buchrezensionen.

Der Historiker Dr. Rudolf Wagner hat ein reiches heimatkundliches Werk hinterlassen, nicht minder umfangreich und vielseitig ist das publizistische Oeuvre. Die Jubiläumsbibliographie zum 80. Geburtstag umfaßt mehr als 90 Buch- und Studientitel. Er hat grundlegende, thematisch sehr breite Vorarbeit geleistet für die Bukowina-Forschung hier im deutschen Sprachraum wie für die neue Geschichtszuwendung in der heutigen Bukowina bzw. in der Ukraine und Rumänien. Er gilt für die meisten Kenner als der bedeutendste buchenlanddeutsche Historiker unserer Zeit. Ein arbeitsreiches Leben ist am 27. April 2004 plötzlich zu Ende gegangen.
Luzian Geier (KK)

 

KK1187 S 14

Die schöne Aufgabe, Wunden zu heilen
Márton Kalász hat das Nachkriegsschicksal der Ungarndeutschen in einem sachlichen und doch persönlichen Buch aufgezeichnet

„Dezimierungszettel“ ist ein Buch von Márton Kalász über Flucht und Vertreibung der Ungarndeutschen 1945 und in den folgenden Jahren sowie deren Verarbeitung betitelt, das jüngst im Haus des Deutschen Ostens in München vorgestellt wurde.

Der Titel verweist auf einen Sühneakt, dem nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution 1849 Angehörige eines Honvéd-Verbandes (Landwehr) unterworfen wurden und den der Autor an den Anfang seines Berichts stellte. Kalász, der selbst aus einer ungarndeutschen Familie stammt, ist Lyriker und Erzähler und veröffentlicht in ungarischer Sprache.

Sein erster Roman, „Winterlamm“ von 1986 (1992 in Österreich in deutscher Sprache erschienen) hat die Ungarndeutschen der Zwischenkriegszeit zum Gegenstand. „Dezimierungszettel“ erschien 2002 in Budapest als Band 3 der „Neue Zeitung“-Bücher, herausgegeben von Johann Schuth, ins Deutsche übertragen von Julia und Robert Schiff, nicht ohne gelegentliche Unebenheiten. Julia Schiff, die aus dem Banat stammt, hat auch Kallász' Lyrikband „Dunkle Wunde“ übersetzt.

Wie Julia Schiff bei der Vorstellung des Buches betonte, handelt es sich um eine Dokumentation und nicht um einen Roman. Freilich geht Kalász mit der Sensibilität eines Dichters an seinen Stoff heran; bei aller Sachlichkeit der Darstellung fehlt es dieser an der einem Dokumentar eigenen Distanz.

Mehr noch: Sein Ansatz ist autobiographisch, geht doch seine Schilderung des ungarndeutschen Schicksals, die bis in das 18. Jahrhundert zurückgreift, von der Geschichte seiner eigenen Familie aus. So bleibt sie auch im wesentlichen auf deren Heimatlandschaften beschränkt, neben der Batschka auf die im Nordwesten an diese anschließende Baranya, jenes südwestungarische Komitat am rechten Donauufer zwischen dem Mecsekgebirge im Norden und der Drau im Süden mit dem Verwaltungszentrum Fünfkirchen, in dem der Autor in dem Dorf Schomberg (ungarisch Somberek) vor siebzig Jahren geboren wurde.

Das Buch zerfällt in zwei Hauptteile, „Chronik“ und „Die Aussiedlung“ überschrieben. Der erste Teil reicht bis zum Kriegsende 1944/45. Er findet seine Schwerpunkte in den Überlebensfragen des Deutschtums in Ungarn angesichts der Budapester Magyarisierungsbestrebungen, besonders in der Schulfrage, weiter in der Wirksamkeit des im November 1938 gegründeten „Volksbundes der Deutschen in Ungarn“ und in der Einberufung ungarndeutscher Männer zur Waffen-SS, zwei Punkten, in denen die Souveränität des ungarischen Staates durch das nationalsozialistischen Deutschland eingeschränkt zu werden drohte, sowie in der Katastrophe von 1944/45.

Der Vorzug der Darstellung ist, daß sie ganz konkret und an Personen gebunden ist, auf zahlreichen gedruckten und ungedruckten Aufzeichnungen und Erinnerungen beruhend. Man vergißt sie nicht wieder, die Bauern aus der Batschka, die, die Tito-Partisanen und die Sowjets auf den Fersen, die Baranya auf dem Weg nach Deutschland durchziehen. Sie, die mit ihrer großen Leistungskraft erheblich zur Versorgung des Reichsgebietes beigetragen sowie bedürftige Kinder aus Deutschland und Ungarn auf eigene Kosten aufgenommen hatten, weigern sich nun zumeist, in bereitstehende Eisenbahnzüge einzusteigen, um sich nicht vom Rest ihrer Habe, namentlich dem Vieh trennen zu müssen. Dabei ist anders als in den Berichten über den Untergang Ostdeutschlands nicht von der Flucht der bisher allmächtigen Funktionäre aus ihrer Verantwortung die Rede. Wie wir lesen, bemühte sich die Gebietsleitung des Volksbundes in Fünfkirchen, den Flüchtlingen nach Kräften zu Hilfe zu kommen und durch Abstimmung mit den Stäben der in der Region operierenden militärischen Einheiten die Fluchtwege freizumachen.

Der zweite Teil des Buches hat die Deportation von Ungarndeutschen zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion, die Beschlagnahme des volksdeutschen Vermögens sowie die Ausweisung von Angehörigen der Volksgruppe zunächst in die amerikanische und dann in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands zum Inhalt, die Motive der ungarischen Nachkriegsregierungen und das Zufallshafte des Geschehens jener Tage. Ein Beweggrund für die „Umsiedlung“ war die Notwendigkeit, für die aus der Slowakei vertriebenen Ungarn im Lande Platz zu schaffen. In die Baranya kamen auch die Bukowina-Szekler, ein magyarischer Volksstamm wohl türkisch-magyarischen Ursprungs. Sie waren während des Krieges in jenem größeren Teil der Batschka angesiedelt worden, der 1920 an den neugebildeten jugoslawischen Staat hatte abgetreten werden müssen und nach dessen Zerschlagung 1941 an Ungarn zurückgelangt war. Kalász gibt an, daß aus 310 von insgesamt 480 von Deutschen bewohnten Dörfern in Ungarn 170 000 Deutsche vertrieben worden seien. Rechnet man die Flüchtlinge, nicht heimgekehrten Soldaten und andere Abgänge hinzu, so ergibt sich nach seiner Rechnung für Ungarn ein Verlust von 230 000 Staatsbürgern deutscher Volkszugehörigkeit.

Im übrigen ist der zweite Teil des Buches den Schwierigkeiten der vertriebenen Ungarndeutschen in der Fremde, dem zerstörten Nachkriegsdeutschland, den Versuchen, in die Heimat zurückzukehren, und der Eingliederung in Deutschland gewidmet. Ein ungarischer Ortspfarrer empfahl seine vertriebenen deutschen Pfarrkinder in einem Brief an den Amtsbruder der mutmaßlichen neuen Heimatgemeinde mit den Worten, ihn erwarte „die schöne Aufgabe, offene Wunden ihrer Seelen zu heilen und sie in das neue Leben einzuführen“.
Peter Mast (KK)

 

KK1187 S 16

Bücher und Medien

Das Nachleben des tschechischen Reformators Hus in der Literatur

Petra Hörner, Hus. Hussiten. Dokumentation literarischer Facetten im 19. und 20. Jahrhundert.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2002. 346 S.

Jan/Johannes Hus, 1370/71 als Bauernsohn in Husinec (Südböhmen) geboren und nach diesem Ort benannt, war nach dem Studium in Prag und der Priesterweihe Lehrer an der Universität Prag. Er nahm Anteil an den theologischen Auseinandersetzungen um die Lehre des John Wiclif und am Streit um die Verfassung der Universität Prag, die zugunsten der böhmisch-tschechischen Minderheit geändert wurde. Das führte bekanntlich zum Auszug der deutschen Studenten nach Leipzig, Heidelberg und Wien. Hus erreichte große Wirkung als Volksprediger an der Prager Bethlehemskapelle und wird seitdem als „tschechischer Reformator“ gefeiert.

Die volksmissionarischen Schriften des Jan Hus wurden für die Entwicklung der tschechischen Sprache und Literatur bedeutsam. Seine entschiedene kirchenrevolutionäre Haltung, wie sie z. B. im Traktat „De ecclesia“ zum Ausdruck kommt, führte zum Streit mit den kirchlichen Autoritäten, zur Exkommunikation, zum Bann und zur Vorladung vor das Konzil in Konstanz (1414), wo er trotz des Geleitversprechens Kaiser Sigismunds in den Kerker geworfen und schließlich zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde (1415). Aus der von Hus vertretenen kirchenreformatorischen Bewegung entstand nach 1419 ein revolutionärer Aufruhr seiner Anhänger, der Hussiten. Böhmen, Mähren, Schlesien und weitere Landschaften wurden in einen verheerenden Bürgerkrieg gestürzt.

Diese historischen Fakten sind weithin bekannt. Weit weniger bekannt aber ist die Tatsache, daß die Ereignisse um Hus und die Hussiten ein enormes literarisches Nachleben in deutschen Dramen, Romanen, Novellen und Gedichten erfuhren. Petra Hörner hat eine Dokumentation der deutschen Hus-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert herausgegeben, und der Leser ist überrascht von der Anzahl der Werke, aber auch von der spürbaren Emotion, mit der sie verfaßt wurden und die sie bei der Lektüre immer noch erregen. Man gewinnt den Eindruck, daß es sich um ein großes nationales Thema handelte, das namentlich im böhmischen Gebiet, aber auch darüber hinaus die Geister bewegte und deshalb immer wieder gestalterisch aufgegriffen wurde.

Das Bild, das von Hus und den Hussiten gezeichnet wird, ist sehr unterschiedlich. Je nach der religiösen, landschaftlichen, nationalen oder ideologischen Einstellung des Schreibenden erscheint Hus als Reformator und Märtyrer, aber auch als Deutschenhasser oder gar Vorläufer des Kommunismus. Vor allem die Berichte über die Hussitenkriege mit ihren Grausamkeiten sind noch heute erschütternd.

Es ist das große Verdienst von Petra Hörner, daß sie die Vielfalt des Hus-Bildes und der Wertungen der Hussitenkriege in der Dokumentation erkennbar gemacht hat. Sie bleibt keineswegs bei der bloßen Aufzählung von Titeln stehen, sondern ermöglicht durch geschickt gewählte Ausschnitte Einblicke in die Werke. So wird die Dokumentation zum Lesebuch im Wortsinn, zu einer geradezu fesselnden Lektüre, die das weitergehende Interesse an jener Zeit, dem landschaftlichen Raum und den zitierten Werken weckt. Die Autorinnen und Autoren haben vielfach einen Bezug zu Böhmen, aber auch aus anderen Gegenden Stammende haben sich dieser Thematik angenommen. Berühmte Namen sind darunter: Kotzebue, Raabe, Goethe, Rilke, Edzard Schaper. Auch Franz Werfels hintersinniges Drama „Das Reich Gottes in Böhmen. Tragödie eines Führers“ ist zu nennen.

Die Dokumentation wird abgeschlossen mit Hinweisen auf literarische Darstellungen aus der Ukraine, Ungarn und Tschechien, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Alles in allem bildet die Dokumentation einen wertvollen Beitrag zum historischen und literarischen Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn im südöstlichen Europa.
Roswitha Wisniewski (KK)

 

Hier lebt Schlesien nicht fort, sondern eher so dahin

Julian Kornhauser: Zuhause, Traum und Kinderspiele. Aus dem Polnischen von Kirsti Dubeck.
Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2003, 156 S.

Ein Professor der Krakauer Universität, 50 Jahre alt, erzählt im Jahre 1995 recht ausführlich von seiner Kindheit und Jugend. Das acht Jahre nach seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung („vom polnischen Literaturfonds gefördert“) vorliegende Buch hat als Schauplatz Gleiwitz, das aufgrund der Potsdamer Beschlüsse polnischer Verwaltung unterstellt worden ist. Im Mittelpunkt steht eine jüdische Familie. Es hebt mit dem Kinderspiel auf einer Wiese an, „die sanft in einen Obstgarten übergeht“, die Hauptperson, immer nur J. genannt, ist „erst einige Jahre alt“, und es endet mit einem Traum, kurz vor dem Wechsel nach Krakau zur Aufnahme des Studiums.

Schon im ersten Satz denkt der Autobiograph über das Kind klug nach, denn dieses, so wird erzählt, „schaut in den Himmel, der so klar und unschuldig ist wie der kleine J. selbst“. Und von dem 13jährigen J. weiß der Verfasser, als der Vater mit dem Plan der Auswanderung nach Israel umgeht, zu berichten: „J. konnte sich nicht vorstellen, daß er von einem auf den anderen Tag seine Identität ändern würde.“

Darunter, daß Klugheit und Weisheit des Krakauer Professors in Kindheit und Jugend projiziert werden, leidet das ganze Buch. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum diese Selbstdarstellung im Nachwort mehrmals ein Roman genannt wird. Ein Roman ist das Buch bestimmt nicht, vielmehr ein geradezu altkluges Räsonnieren über die frühesten Stationen des eigenen Lebenslaufs. Begonnen hat dieser im September des Jahres 1946, wobei im dunklen bleibt, ob der aus dem Konzentrationslager Dachau zurückgekehrte jüdische Vater, der eigentlich in Krakau zu Hause ist, auch der leibliche ist. Es ist seine dritte Ehe, dieses Mal mit einer alten Freundin. Die Mutter des Kindes kommt aus Königshütte und spricht das Wasserpolnische, hier immer nur „polnischer oder schlesischer Dialekt“ genannt, und das Deutsche wohl besser als reines Polnisch. Der Bezug zum deutschen Gleiwitz der jüngsten Vergangenheit wird verschwiegen und kommt nur in der Person des Kindermädchens und im unfreiwilligen Aufstöbern von den Deutschen hinterlassener Schriften zum Ausdruck.

Im Nachwort wird Julian Kornhauser – der Familienname stammt von Wiener Vorfahren – als „Dichter, Prosaist, Literaturkritiker, Kenner und Übersetzer serbokroatischer Literatur“ sowie als Gegner des vormals in Polen herrschenden Zwangssystems vorgestellt, aus seiner Selbstdarstellung ist jedoch zu erfahren, daß er im Gegensatz zu manchem Schulgefährten das kommunistische System für gut und richtig gehalten hat: „J. verteidigte, vielleicht aus Trotz, vielleicht aus Naivität, den sozialistischen status quo und war bemüht, in diesem nur bekannte Werte zu sehen.“ Auch dies ein Beispiel der besserwisserischen Akzentuierung aus dem Blickwinkel des Zeitpunktes 1995.

Man muß fragen, warum das im Jahre 2000, wie auf der letzten Seite berichtet wird, von der Bundesregierung gegründete Deutsche Kulturforum östliches Europa als gemeinnütziger Verein seine auf Fortsetzungen angelegte „Potsdamer Bibliothek“ im Eigenverlag, was stutzig macht, mit diesem Buch eröffnet. Zu einem besseren deutsch-polnischen Verständnis, worauf das Kulturforum besonderen Wert legt, trägt es nicht bei, auch wenn im Nachwort grundlos behauptet wird: „Das polnisch-deutsch-jüdische Vorkriegsschlesien lebt in ihm (gemeint ist der Autor J. – A. d. V.) fort.“ Gut an dem Nachwort ist allerdings, daß die Geschichte der Stadt Gleiwitz nachträglich etwas aufklärende Helligkeit erhält.
H. H. (KK)

 

„... triffst du nur das Zauberwort“, hebt die Welt nicht an zu singen, hier wird sie gesungen:
CD mit Liedern nach Joseph von Eichendorff

Zu dreißig Gedichten Joseph von Eichendorffs ist jetzt ein kammermusikalisches Meisterwerk des Murnauer Komponisten Adolph Kurt Böhm entstanden. Zu hören auf dem im Bavaria Tonstudio München aufgenommenen Tonträger sind die Sängerin Alexandra Petersamer, Mezzosopran, am Klavier begleitet von Yumiko Urabe, zwei namhafte Künstler auf ihrem Gebiet.

Ausdrucksstark, aber der Schlichheit Eichendorffscher Sprache angepaßt, vermittelt die Mezzosopranistin, die mehrere internationale Preise Sonderpreise erhielt, die ideelle Intention von Dichter und Komponist. In Landau an der Isar geboren, studierte sie bei Professor Hanno Blaschke an der Musikhochschule München Gesang und schloß ihr Studium als Opern- und Konzertsängerin mit dem Meisterklassendiplom ab. Ihre hohen Auszeichnungen ersang sie an Opernhäusern, Theatern und in Konzerten in Berlin, Bayreuth, Riga, Barcelona, Wien, Dessau, München, Triest, Hannover, Weimar, Düsseldorf und bei den Opernfestspielen in Savonlinna. Ihre Konzerttätigkeit unter großen Dirigenten führte sie u. a. nach Paris, Marseille, Aix-en-Provence, Auxerre, Riga, Brüssel, Palermo, Las Palmas.

Der Komponist Adolph Kurt Böhm ist in der Nähe von Bayreuth geboren. Als er sieben Jahre alt war, mußten seine Eltern mit ihm nach Paris emigrieren, wo die Pianistin B. A. Georges, eine Freundin Ravels, und später der weltberühmte ungarische Klaviervirtuose György Cziffra für seine pianistische Entwicklung sorgten. Schon immer hatte Böhm melodische Einfälle, erkannte aber erst spät, daß seine Kompositionen „Lieder ohne Worte“ waren.

Der Weg für das Kunstlied war frei. Er vertonte Gedichte von Paul Verlaine, Joseph von Eichendorff', Theodor Storm, Anette von Droste-Hülshoff, Heinrich Heine, Hermann Hesse, Eugen Drewermann u. a. Böhm schrieb 400 Lieder, die auf LPs, MCs und CDs herauskamen. Er arbeitete mit bekannten Künstlern wie Ingeborg Hallstein, Hanno Blaschke, Keith Engen, Karl Heinz Lippe, Andreas Reibenspies, Michael Schopper und namhaften begleitenden Instrumentalisten zusammen. Seine Tätigkeit als Komponist und Liedbegleiter führte ihn durch Deutschland, Österreich, Italien, Belgien, England, Spanien, Finnland bis nach Japan und in die USA. Böhm schrieb auch Bücher. In Augsburg wurde er mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ des Staates Israel ausgezeichnet. Mit seiner Frau Christine lebt er seit etlichen Jahren in Murna am Staffelsee in Oberbayern. Das Begleitheft der CD informiert ausführlich über Eichendorffs Leben und Werk.
Meinrad Köhler (KK)

Reinhard Olt, F.A.Z.-Korrespondent in Österreich und Ungarn mit Sitz in Wien, ist mit dem Otto-von Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt in Europa ausgezeichnet worden.
(KK)

 

KK1187 S 19

Selbst Gegensätze haben hier etwas Versöhnliches
Eine Reise nach Schlesien lehrt Gelassenheit vor der Geschichte und Bewunderung für deren Zeugen (I)

„Man darf seinen Namen nicht nennen. ,Berggeist' darf man sagen, oder ,ER', aber seinen Namen ...“ Emil schweigt eine Weile. Denn Rübezahl ist eine Institution. Emil ist unser Reiseleiter vor Ort. Anderthalb Tage zeigt er uns Schlesien, sein Schlesien. Wir folgen ihm willig. Denn Emil kennt sich aus. Hirschberg z. B. hat nicht nur einen schönen Ring, sondern auch noch Lauben. Ein Hauch von Bozen oder Meran liegt in der Luft. Warum die Lauben? Weil Hirschberg im Durchschnitt 1100 mm Niederschlag pro Jahr hat, deutlich mehr als andere schlesische Städte. Und man wollte auch schon vor der Erfindung des Regenschirms trockenen Hauptes durch die Stadt kommen. Der studierte Philosoph Emil kann uns über die Stadtgeschichte Hirschbergs ebenso erzählen wie über die Friedenskirche in Schweidnitz oder das Gerhart-Hauptmann-Haus in Agnetendorf. Er mag seine Heimat. Und die Fahrt durch das Bober-Katzbach-Tal wird kurzweilig nicht nur wegen der atemberaubenden Aussichten, sondern auch wegen der Informationen, die Emil routiniert, aber nicht gelangweilt mitteilt. Seine Diktion erinnert an Ranga Yogeshwar, den Moderator der Wissenschaftsshow „Quarks & Co“. Emil ist ein Vertreter jener Polen, die die Vergangenheit, die deutsche, die österreichische, die polnische, akzeptieren und mit ihr leben.

Die Volkshochschule Bielefeld hat zu einer Exkursion auf jüdischen Spuren in Breslau eingeladen und natürlich drumherum ein Programm gestrickt, das Einblick in ein Land mit einer reichen Geschichte unter verschiedensten Herrschern geben soll.

Erster Aufenthaltsort ist Kreisau. Das nach neuestem Standard renovierte Gut der Familie von Moltke dient nun als Begegnungs- und Lernort für internationale Verständigung vor allem für Jugendliche. Der Berghof, jenes Haus etwas außerhalb des Gutes, in dem Helmuth von Moltke seine konspirativen Treffen abhielt, ist der Lernort. Hier wird informiert über die Vergangenheit des Gutes, hier finden Seminare statt. Schon die erste Übung, die mit allen Besuchern absolviert wird, verdeutlicht etwas von dem Geist, der hier herrschte und wieder herrschen soll. Ob und wie nämlich der viergeteilte runde Tisch zusammengesetzt wird für die Gruppenarbeit, zeigt, wie sich die jeweilige Gruppe versteht, wollen die Teilnehmer erst solo arbeiten und dann in der Gruppe zusammenkommen oder gleich in der Gruppe oder oder oder ... Vieles ist denkbar und wird den Wünschen der Teilnehmer angepaßt. Die Vierteilung des runden Tisches weist noch auf etwas anderes hin: Man sieht immer deutlich ein Kreuz, ein Hinweis auf den christlichen Hintergrund der Familie von Moltke.

Gegen die übrigen Häuser im Dorf Kreisau hebt sich das renovierte Gut natürlich ab, da hat es in der Renovierungsphase nicht nur nette Gedanken gegeben. Die Geste, im Gut einen Kindergarten zu unterhalten, der den Bewohnern des Dorfes offensteht, wird dadurch abgewertet, daß es kein Ganztagskindergarten ist. So werden nur acht Kinder dort betreut. Begründung: Es gibt keine Möglichkeit der Verpflegung. Was angesichts einer Küche für die Pensionsgäste des Gutes bzw. der Stiftung eher merkwürdig anmutet. Als ob sich da nicht eine Lösung finden ließe.

Nahe Kreisau liegt Schweidnitz. Hohe Arbeitslosigkeit, wenige renovierte Häuser, von den Straßen ganz zu schweigen. Hier bekommt man Einblick in die polnische Realität. Dem Land fehlt es an Geld und Arbeitsplätzen. Doch der Ring ist auch hier gepflegt. Und dann gibt es das Kleinod Friedenskirche. Deren Geschichte erzählt viel von fehlender Toleranz. Um so mehr von Machtwillen. Wie auch die Gnadenkirche in Hirschberg.

Überhaupt könnte man den Kirchen in Schlesien viel Platz einräumen. Denn sie verdeutlichen den Einfluß, den die Kirche, die evangelische wie die katholische, seit jeher hier gehabt hat und der in Polen auch heute unübersehbar ist. Es ist schon zu bewundern, wie dieses vom Krieg so geschundene Land „seine“ Kirchen pflegt. Ob Grüssau oder Maria im Sande – beeindruckende Zeugnisse sakraler Baukunst. Hie barockes Theater schier bis in den Himmel, da gotische Strenge, auch scheinbar ohne Ende – schwer zu entscheiden, was besser gefällt. Es ist ja auch die Leistung der Architekten zu bewundern, die nicht die heutigen technischen Möglichkeiten hatten.

Theologischer Intoleranz verdankt sich auch die Ansiedlung von Tirolern aus dem Zillertal in Erdmannsdorf 1837. Sie waren evangelisch und bei ihrem Erzbischof nicht gelitten. Zuflucht fanden sie am Fuße des Riesengebirges, geschützt von Friedrich Wilhelm III. Der gab ihnen nicht nur Raum für ihren Glauben, sondern auch Arbeit. 1842 wurde in Erdmannsdorf eine Flachsgarn-Maschinenspinnerei und Weberei eröffnet. Sie ist noch heute in Betrieb, nach dem damals angewendeten Verfahren.

Das war für die Bielefelder eine Begegnung der besonderen Art. Auch ihre Stadt war einmal ein Zentrum der Flachsgarn- und Leinenproduktion, und die Spinnerei war ein getreues Abbild der Fabrik in Erdmannsdorf. Und all die Vorgänge des Flachsbrechens, des Hechelns, der stetigen Verfeinerung des Fadens, die man in Bielefeld nur noch auf dem Bild nachvollziehen kann, in Erdmannsdorf sind sie real zu besichtigen. Im Hauptgebäude der ehemaligen Bielefelder Spinnerei residiert heute die Volkshochschule – kein Wunder, daß sich die meisten Besucher in Erdmannsdorf auskannten: die Preußische Kappe (ein Tonnengewölbe), die Fischbauchstützen (so genannt, weil sie, mit einer Wölbung in der Mitte versehen, mehr Last tragen können), das Raster dieser Stützen, der Maschinenpark – all das gab es bis 1972 auch in Bielefeld. Der Grund für diese Übereinstimmungen: Ferdinand Kaselowsky war der führende Spinnereifachmann in Preußen. Er baute erst im Auftrag der Preußischen Seehandlung die Spinnerei in Erdmannsdorf und 1850 die Kopie in Bielefeld. Über Bielefeld ist die technische Entwicklung gnadenlos hinweggeschritten, mal sehen, wann das Aus in Erdmannsdorf kommt.

Erdmannsdorf ist aber nicht nur wegen des „Museums in Arbeit“ interessant. Hier hatte Friedrich Wilhelm III. eine Sommerresidenz, die nach Schinkels Plänen umgestaltet wurde. Der König hatte das Schloß 1831 von den Erben des Feldmarschalls Gneisenau erworben. Lenné gestaltete den dazugehörigen Park mit Sichtachse auf die Schneekoppe. Als Friedrich Wilhelm IV. das Schloß 1841 erwarb, wurde es wieder umgebaut. Der Berliner Architekt Stüler modellierte es im Stil der Zeit um. Es war eine Zeit der Anglophilie, folglich hieß der Stil „english castle gothic“ und erinnert natürlich an die gotischen Schlösser in England. Die Anglophilie hatte freilich auch andere Seiten: Der schon erwähnte Ferdinand Kaselowsky hatte sich Anregungen für Aufbau und Anlage der Weberei in England geholt. Denn England war damals führend in Sachen industrieller Revolution. Heute ist im Schloß die Grundschule von Erdmannsdorf untergebracht.

Die preußische Vorliebe für Schlesien hatte Folgen. Viele andere Familien, die auf sich hielten und es sich leisten konnten und wollten, zogen hinterher. So entstand das, was man schon bald das schlesische Elysium nannte. Und als dann mit der Erschließung des Tales durch die Eisenbahn 1866/67 auch der Tourismus des städtischen Bürgertums begann, wurde das Hirschberger Tal samt Riesengebirge eines der bevorzugten Reiseziele Deutschlands.
Ulrich Schmidt (KK)

 

KK1187 S 21

Andichten gegen Sach- und andere Zwänge
Schlesische Autoren aus Deutschland an der Grünberger Universität

Drei Wochen nach dem Beitritt Polens zur EU, am 20. Mai 2004, waren vier schlesische Autorinnen und Autoren einer Einladung des Germanistischen Instituts an der Grünberger Uniwersytet Zielonogórski (früher Pädagogische Hochschule) gefolgt, vor Studierenden und der Fachkollegenschaft zu lesen und zu diskutieren. Diese ebenso ungewöhnliche wie erfolgreiche Veranstaltung, konzipiert und geleitet von Dr. Pawel Zimniak und Dr. Robert Buczek, bewies erneut das große Interesse an deutschsprachiger Literatur unter den ausnahmslos im Nachkriegsschlesien oder im heutigen Westpolen geborenen polnischen Studierenden, nicht zuletzt auch an der deutschschlesischen Thematik der Vortragenden.

Persönliche Kontakte wie anläßlich dieser Lesung sind nicht nur für den deutschen Sprachunterricht förderlich. Dieser findet in Polen inzwischen vielfach schon von der Grundschule bis zur Gymnasial- und Kollegstufe statt. Wichtiger ist, daß solche Kontakte vor allem zum Aufbau ganz neuer Beziehungen beitragen und somit zum Abbau all dessen, was Deutsche und Polen bisher noch nicht zu Brüdern (und Schwestern) werden ließ.

Wer waren die Vortragenden und was waren ihre Themen?

Therese Chromik (geboren in Liegnitz) las aus ihrem Lyrikwerk, z. B. dem Band „Kores Gesang“, wobei deutlich wurde, daß „überregionale“ Themen wie Selbstbehauptung, Liebe und Tod aus „regionaler“ Wurzel ein breiteres als ein nur an Schlesien interessiertes Publikum ansprechen.
Monika Taubitz (geboren in Breslau), Vorsitzende des „Wangener Kreises“, erinnerte mit einige Abschnitten aus ihren Romanen „Durch Lücken im Zaun“ und „Treibgut“ an die Zeit seelischer und materieller Not nach 1945 – ein menschlich anrührendes Thema, das auch in Polen nur allzu bekannt ist.
Bodo Heimann (geboren in Breslau) zeigte durch seine Gedichtauswahl, u. a. aus dem Band „Frei vor dem Wind“, wie Kindheitserinnerungen von der Oder durchaus in spätere „globale“ Erlebnisse in Indien, Nordamerika und – wieder europäisiert – in den baltischen Staaten hineinwirken und lyrischen Ausdruck finden können. Heimatliteratur kann man das nicht mehr nennen.
Auch die Lesung des Seniors der schlesischen Literatur, Jochen Hoffbauer (geboren bei Löwenberg), obwohl am stärksten in der Lebenswelt des alten Schlesiens verwurzelt, zeigte u. a. am Beispiel der Erzählung „Der Mandant“ aus dem Band „Glut aus der Asche“ die ideologische Unterhöhlung der Heimat gegen Ende der dreißiger Jahre. Die vier Vortragenden hinterließen den Eindruck, daß es sich sehr wohl lohnt, dem Wind der Geschichte, innerem Zweifel und äußeren Sachzwängen, man nenne sie Schicksal, Fügung oder Nemesis höherer Mächte, mit literarischen Mitteln entgegenzuwirken.
Louis Ferdinand Helbig (KK)

 

KK1187 S 22

Aus treuer Hand zu treuen Händen
Henry G. Proskauer, Breslau/New York, beschenkt das Brücke-Museum

„Seit Anfang 2003 ist die Sammlung des Brücke-Museums (in Berlin-Dahlem) um ein Hauptwerk aus dem Schaffen Otto Muellers reicher. Das um 1923 entstandene Gemälde ,In den Dünen liegender Akt' konnte als Geschenk von Henry G. Proskauer in den Bestand eingefügt werden.“
Mit diesen Sätzen beginnt der einleitende Aufsatz von Magdalena M. Moeller, Direktorin des auf den Expressionismus spezialisierten Museums, im „Archivheft“ 21/2004 (Hirmer Verlag, München), das als Katalog zur Ausstellung „Auf der Suche nach dem Ursprünglichen. Menschen und Natur im Werk von Otto Mueller und den Künstlern der Brücke“ (bis zum 16. Mai 2004) zu verstehen ist.

Hans Gerhard Proskauer (die Vornamen wurden später amerikanisiert) ist 1915 in Breslau geboren und hat, da ihm das Studium in seiner Heimatstadt infolge nationalsozialistisch-antisemitischer Staatsräson verwehrt wurde, von 1935 bis 1940 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich Architektur studiert. Seine Eltern mit seinem jüngeren Bruder Paul flohen 1939 nach Rom und fanden 1940 wie auch Hans Gerhard Proskauer eine neue Bleibe in den USA. Der Vater Dr. Curt Proskauer war ein bekannter Zahnarzt in Breslau, und Otto Mueller war sein Patient. Von ihm erhielt er als Geschenk ein Pastell, zudem war Dr. Proskauer selbst ein Sammler der Moderne, der Stücke von Nolde, Heckel, Pechstein, Macke besaß.

Zur Vorgeschichte des Gemäldes von Otto Mueller teilt Magdalena M. Moeller mit, daß Proskauer das Bild „in den 1950er Jahren aus einer deutsch-amerikanischen Privatsammlung hatte erwerben können. Der Sammler hatte das Gemälde kurz nach seiner Entstehung direkt vom Künstler in Breslau gekauft, wo Otto Mueller in den Jahren 1920 bis zu seinem Tod 1930 Professor an der Kunstakademie gewesen war.“

In dem Aufsatz von Christiane Remm über „Otto Muellers Akte in der Natur. Die Genesis eines Malers“ steht zu Beginn der die Bedeutung des Geschenkes akzentuierende Satz: „Das Gemälde ,In Dünen liegender Akt', entstanden um 1923 und somit dem reifen Werk des Künstlers zugehörig, repräsentiert in vollkommener Weise das zentrale Thema des Künstlers: die Darstellung des weiblichen Körpers in der Natur.“

Ernst Ludwig Kirchner, der in dieser Ausstellung wie auch Erich Heckel, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff vertreten war, schrieb in der „Chronik der Brücke“ über Otto Mueller, der erst spät zur Künstlergruppe gestoßen und ein Außenseiter geblieben war: „Die sinnliche Harmonie seines Lebens mit dem Werk machte Mueller zu einem selbstverständlichen Mitglied von Brücke.“ Wiederholt wird in den „Archivheft“-Beiträgen zu Recht die Harmonie von Mensch und Natur beschworen und gar von einem „Hauch von Klassizität“ gesprochen.

Die Direktorin des Brücke-Museums nennt das Werk des Akademieprofessors aus Breslau, die Schenkung seines Breslauer Landsmannes aus New York, ein „außergewöhnliches Gemälde“. Das Brücke-Museum kann nunmehr „insgesamt 52 Werke von Otto Mueller“ präsentieren, und das „darf wohl die umfangreichste und qualitätvollste Sammlung im öffentlichen Besitz genannt werden“. Im übrigen hat Henry G. Proskauer dem Brücke-Museum auch zwei Aquarelle von Erich Heckel übereignet.
Herbert Hupka (KK)

 

KK1187 S 23

KK-Notizbuch

Die Sendung „Alte und neue Heimat“ des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, bringt am 4. Juli unter dem Titel „Flüchtlingsgeschichten“ „Erfahrungen aus den Nachkriegsjahren“, zusammengestellt von Armin E. Möller und Lars Gerhard. Am 11. Juli berichtet Ursula Rütten über Slowenen in Kärnten.

Eine Gedenkveranstaltung für Immanuel Kant richtet der BdV-Landesverband Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit der Ostpreußischen Landesgruppe am 26. Juni um 15 Uhr im Gemeindesaal der Jakobus-Kirchengemeinde in Bielefeld aus. Professor Dr. Eberhard G. Schulz von der Duisburger Universität, Präsident des Ostdeutschen Kulturrates, wird sich in seinem Festvortrag mit dem Leben und Wirken des Philosophen beschäftigen.

Das 58. Gementreffen der Danziger Katholiken vom 28. Juli bis zum 2. August auf der Jugendburg Gemen bei Borken in Westfalen hat das Thema „Europa nach der Osterweiterung: Einheit in Vielfalt – Austausch der Gaben“.

Das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen-Hösel zeigt vom 27. Juni bis zum 22. August „Des Kaisers Keramik. Die königlichen Majolikawerkstätten Cadinen in Westpreußen 1904-1944“. Ausgestellt werden rund 200 Exponate, darunter schöne wie kuriose Stücke; es liegt ein Begleitheft vor.

Am 17. Juni wurde aufgrund einer Initiative des ehemaligen nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten und stellvertretenden OMV-Vorsitzenden Rüdiger Goldmann im Foyer des Rathauses der Landeshauptstadt Düsseldorf eine Gedenktafel eingeweiht, die an Flucht, Deportation und Vertreibung erinnert.

Das Deutsche Kulturforum östliches Europa veranstaltet mit dem Slowakischen Kulturinstitut am 24. Juni, 19 Uhr, in der Vertretung des Freistaates Thüringen beim Bund eine Podiumsdiskussion über deutsch-slowakische Geschichte und Gegenwart. (KK)