KK 1184 2004-04-20

Otfried Kotzian: Herkunft und frühe Biographie des Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler
Renata Schumann: Die Oberschlesier auf der Suche nach ihrer Identität
Peter Mast: Monika von Hirschheydt steckt den baltischen Lebenskreis ab 
Tagung der AG Heimatstuben NRW in Mettmann 
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Julia aus der Wiesche: Ausstellung „Der Kreml“ in Bonn
Herbert Hupka: Zum 100. Geburtstag des „Arbeiterdichters“ Gerhart Baron
Günther Ott: RADU Anton Maier zum 70. Geburtstag
Dieter Göllner: Gemälde von Pranas Domšaitis in Düsseldorf
KK-Notizbuch 

 

Zeitgeschichte und deutsche Zeitungen
Herkunft und frühe Biographie Horst Köhlers, des Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, geraten den Medien zum Mysterium

Da wurde die Medienwelt in Deutschland kalt erwischt. Ein Kandidat, parteipolitisch weitgehend unbekannt, weltweit dagegen als Präsident des Internationalen Währungsfonds angesehen, soll die Bundesrepublik Deutschland in Zukunft im höchsten Staatsamt repräsentieren. Dieser Horst Köhler sagt von sich im „Spiegel“ (Nr. 11/8. 3. 2004): „Ja, in meiner Biographie spiegelt sich ziemlich viel deutsche Geschichte wider.“
Dies ist wohl bei mehr als einem Drittel der deutschen Bevölkerung der Fall, diese „Spiegelung“ deutscher Geschichte in der eigenen Biographie, wenn es sich um Vertriebene, Flüchtlinge, Umsiedler, Deportierte, Aussiedler oder Spätaussiedler handelt. Die Besonderheit besteht nur darin, daß diese Biographien und diese Abschnitte der „deutschen Geschichte“ zu wenig reflektiert und oftmals mit den falschen Begriffen beschrieben werden. Da fragt der „Spiegel“ nach den „Rätseln Ihrer Biographie“, konkretisiert: „weshalb Sie, ein Kind rumänischer Eltern, nahe der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze geboren wurden“, und verwechselt dabei – wie es bei uns immer wieder geschieht – Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit. Natürlich war Horst Köhler kein „Kind rumänischer Eltern“, sondern ein Kind deutscher Eltern. Genauer würden wir formulieren: „bessarabiendeutscher Eltern“, aber wer weiß heute noch, wo Bessarabien liegt. Es gibt keinen Staat Bessarabien, dafür einen mit dem Namen „Moldawien“, und der liegt zum größten Teil mit Ausnahme der sogenannten – völkerrechtlich nicht anerkannten – Dnjestr-Republik auf dem Gebiet Bessarabiens.
Versuchen wir es mit einer möglichst exakten Beschreibung: „Unter Bessarabien versteht man jene, mehrheitlich von Rumänen bewohnte Zwischenstromlandschaft zwischen den Flüssen Pruth und Dnjestr. Im Norden an der Grenze zur Bukowina, etwa auf der Linie Hotin-Hertza in der Moldau, erreicht Bessarabien eine Breite von 55,5 Kilometern, im Süden beträgt die Entfernung zwischen Reni, der Mündung des Pruth in die Donau, und Akkerman, der Mündung des Dnjestr ins Schwarze Meer, rund 200 Kilometer. Bessarabien besitzt eine Fläche von 44 422 Quadratkilometern und war zum Zeitpunkt der Besiedlung mit Deutschen das kleinste Gouvernement im Zarenreich Rußland.“
Aus diesem Bessarabien stammen also die Eltern des Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler. Gegenwärtig bildet der größte Teil Bessarabiens das Staatsgebiet der Moldawischen Republik, der Südteil jedoch, der sogenannte Budschak, gehört zur Ukraine. Interessanterweise lebte die Familie Köhler bis zur Umsiedlung 1940 nicht in der Südregion Bessarabiens, in der die Mehrheit der Bessarabiendeutschen zu Hause war, sondern in Nordbessarabien, in Ryschkanowka im Kreis Belz, etwa 40 Kilometer in nördlicher Richtung von der Kreishauptstadt entfernt. Die Gemeinde Ryschkanowka wurde erst ab 1860, andere Angaben sprechen von 1865, durch deutsche Siedler aus der Bukowina und Galizien, die österreichische Staatsangehörige waren, besiedelt. Der größte Grundbesitzer Nordbessarabiens, George Rischkan (rum. Riºcan), hatte die Deutschen für seine Güter angeworben und ihnen Pachtland zur Verfügung gestellt. Während des Ersten Weltkriegs hatte der Ort Ryschkanowka unter den Schikanen der russischen Behörden zu leiden: Die aus Galizien stammenden deutschen Siedler wurden nach Österreich, also ins Ausland, abgeschoben, die bereits länger in Bessarabien ansässigen nach Sibirien verschleppt. Bei ihrer Rückkehr 1920 fanden sie ihre Höfe von Russen besetzt und mußten um deren Rückgabe schließlich vor den rumänischen Behörden kämpfen. Nach dem rumänischen Agrarreformgesetz von 1922 erhielt jeder Hof bis zu sechs Hektar Grund. Die Erträge konnten die kinderreichen Familien kaum ernähren. 1940 beim Erlöschen als deutsche Ortschaft umfaßte die Gemeinde nur noch 307 Hektar Ackerland und war von 374 Menschen bewohnt, darunter 22 nichtdeutschen Personen. 
Nach Angaben von Ingo Rüdiger Isert, dem Vorsitzenden des Heimatmuseums der Deutschen aus Bessarabien in Stuttgart, kommt Eduard Köhler, der Vater des Präsidentschaftskandidaten, aus Ryschkanowka. Er war allerdings aus Gudjahs dorthin zugewandert. Die Mutter Elisabeth Köhler, geborene Bernhard, ist dagegen in Ryschkanowka zur Welt gekommen. Beide Elternteile sind Jahrgang 1904. Die „Siebenbürgische Zeitung“ verlegte den Wohnsitz der Familie Köhler in die Nähe von Glückstal (“Ryschkanowka bei Glückstal“), was zu weiteren Verwechslungen Anlaß war. Denn die Gemeinde Glückstal, eine klassische bessarabiendeutsche Tochtersiedlung, entstand erst im 20. Jahrhundert und existierte nur von 1929 bis zur Umsiedlung. Die Chronik des Lehrers Otto Krüger endet bereits im Jahre 1939. Glückstal hatte also alles andere als Glück, und es lag mindestens 40 km von der Kreisstadt Belz und 40 km von Ryschkanowka entfernt.
Da es jedoch ein glücklicheres Glückstaler Gebiet jenseits des Dnjestr im schwarzmeerdeutschen Siedlungsraum Odessa gab mit den Gemeinden Bergdorf, Neudorf und Glückstal, war die Verwirrung perfekt. Nun machten sich die Rußlanddeutschen Hoffnungen, Herrn Köhler als ihren Landsmann reklamieren zu können. Das könnte er nur sein, wenn man die Bessarabiendeutschen als eine rußlanddeutsche Siedlergruppe begreift, was sie von 1812 bis 1919 wohl auch war, als das Gebiet zu Rußland gehörte. Denn es waren russische Zaren, vor allem Alexander I., der in einem Manifest vom 29. November 1813 deutsche Siedler für Bessarabien anwerben ließ.
Wie ist dann die „Süddeutsche Zeitung“ (Nr. 54, 5. 3. 2004) zu verstehen, welche darüber berichtete, daß Köhler „als Kind rumäniendeutscher Eltern 1943 auf der Flucht in Polen geboren worden war“? Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Nr. 55, 5. 3. 2004) treibt die Verwirrung über die Herkunft noch auf die Spitze, indem sie berichtet, daß er „1943 in dem polnischen Dorf Skierbieszów geboren“ sei, „wohin es seine Eltern, Siebenbürgersachsen (in einem Wort geschrieben!) aus Rumänien, in den Kriegswirren verschlagen hatte“. Die Siebenbürger Sachsen richteten daraufhin in ihrem Internet-Auftritt ein „Diskussionsforum“ ein mit dem Titel „Ist unser nächster Bundespräsident ein Siebenbürger?“ Nachdem Horst Köhler im „Spiegel“ auf die Frage „Waren Ihre Eltern als Volksdeutsche umgesiedelt worden?“ bereits geantwortet hatte: „Meine Eltern waren, wie es damals hieß, Volksdeutsche aus Bessarabien“, kam ein Siebenbürger Sachse als Bundespräsident nicht mehr in Frage, was zu Enttäuschungen im Internet-Diskussionsforum führte. Es bleibt jedoch zu vermerken, daß Gerhard Spörl vom „Spiegel“ immerhin etwas von „Umsiedlungen“ gehört hatte und ihm – wie von rumänischen Zeitungen gemeldet und in Rundfunk und Fernsehen in Deutschland weiterverbreitet – eine Flucht aus der „Gegend um Kronstadt“ in Siebenbürgen in den Jahren 1941-1943 unwahrscheinlich vorkam bzw. unerklärbar war.
Ein kleiner Trost sei den Siebenbürger Sachsen vermittelt. Auf Grund der schlechten Lebensbedingungen in Ryschnianowka ging Horst Köhlers Vater Eduard Köhler in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Arbeit ins Burzenland nach Siebenbürgen. Er war dort als Vorarbeiter in einem Sägewerk tätig. So sind zwei Geschwister von Horst Köhler in den Jahren 1930 und 1933 in Komandu/Comandãu, bei Kronstadt im Penteleugebirge gelegen, geboren. Die Chance, daß Horst Köhler hätte Siebenbürger Sachse werden können, bestand zumindest.
Horst Köhler beendete die Antwort seiner Herkunft mit dem Hinweis: „Meine Eltern waren ... Volksdeutsche aus Bessarabien, die vertrieben wurden.“ Dies trifft allerdings nicht zu. Die Bessarabiendeutschen wurden aus Bessarabien nicht vertrieben. Die rechtliche Grundlage der Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien war nach der Besetzung des Gebietes am 26. Juni 1940 durch sowjetische Truppen und die damit verbundene Annexion dieses Teiles des rumänischen Staatsgebietes die „Deutsch-Sowjetrussische Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten von Bessarabien und der nördlichen Bukowina in das Deutsche Reich“ vom 5. September 1940. Den Bessarabiendeutschen blieb wohl keine andere Wahl, als den Wünschen der Diktatoren Hitler und Stalin nachzukommen, wollten sie nicht erneut wie nach der russischen Revolution 1917/18 unter kommunistischen und russischen Einfluß geraten. Insgesamt 93 342 Bessarabiendeutsche wurden „heim ins Reich“ geholt und zunächst in verschiedenen Regionen des Großdeutschen Reiches in Lagern untergebracht.
Da der größte Teil der Bessarabiendeutschen auf dem Lande lebte und 83 Prozent als selbständige Landwirte tätig waren, wollten sie auch in der in Aussicht gestellten „neuen Heimat“ ihre Felder bestellen und arbeiten. Nun setzten jene Maßnahmen ein, die Heinrich Himmler als Reichsführer SS und „Kommissar für die Festigung deutschen Volkstums im Osten“ von seinen Stabsstellen erarbeiten ließ: Der „Generalplan Ost“, mit dem die besetzten und ins Großdeutsche Reich „eingegliederten“ Ostgebiete germanisiert werden sollten, wurde zum „Generalsiedlungsplan“ erweitert und durch „Grundsätze, Anordnungen und Richtlinien“ mit dem Titel „Der Menscheneinsatz“ im Dezember 1940 ergänzt. Diese Politik war es, die Horst Köhler so charakterisierte: „Nazi-Deutschland hat sie (die Volksdeutschen aus Bessarabien) veranlaßt, sich in Polen anzusiedeln.“ (“Der Spiegel“, Nr. 11/8. 3. 2004) Am 1. Juni 1944 lebten von den 93 342 registrierten Umsiedlern aus Bessarabien 42 901 in Danzig-Westpreußen und 41 603 im Gau Wartheland. Die Ansiedlung erfolgte jedoch im wesentlichen im Jahre 1941. Im „Vermerk von Alexander Dolezalek, Planungsabteilung des SS-Ansiedlungsstabes Litzmannstadt (Lodz), über den Generalsiedlungsplan für die eingegliederten Ostgebiete“ vom 19. August 1941 ist von der „in ungeheuer überstürztem Tempo durchgeführten Ansiedlung der Galizien- und Wolhyniendeutschen“ die Rede, welche es unmöglich gemacht hat, „Grobplan und Generalsiedlungsplan laufend zu vervollständigen“. Am 18. Oktober 1941 forderte die Planungsabteilung der SS- Ansiedlungsstäbe Litzmannstadt und Posen eine „Neuauflage der Wer-Wohin-Statistik für die Bessarabien- und Buchenlanddeutschen“.
Nun nähern wir uns langsam, aber noch längst nicht „sicher“, dem Geburtsort unseres Kandidaten für das Bundespräsidentenamt Horst Köhler: Skierbieszów. Wie kann es sein, daß er im damaligen „Generalgouvernement“ im Osten des heutigen Polen geboren wurde, wenn die wichtigsten Ansiedlungsgebiete der Bessarabiendeutschen in Danzig-Westpreußen und im Wartheland lagen? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, ist eine genaue Lokalisierung des Ortes Skierbieszów notwendig. Er liegt im sog. Cholmer und Lubliner Land im Kreis Samosch (poln. Zamosc). Bei der polnischen Volkszählung 1931 waren 15 865 Deutsche in der Woiwodschaft Lublin belegt. Der „Wolhynische Volkskalender für das Jahr 1938“ berichtet über die wirtschaftliche Lage der Lubliner und der Cholmer Deutschen: „Wirtschaftlich geht es den Cholmer Deutschen heute leidlich, Wohn- und Wirtschaftsgebäude sind wieder aufgebaut (nach der Deportation der Deutschen durch die russischen Behörden während des Ersten Weltkrieges), auch das Land ist wieder in Ordnung.“ Obwohl sich dort deutsches Brauchtum bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten konnte, wurde die deutsche Sprache in der Schule des Cholmer Landes von den polnischen Regierungen der Zwischenkriegszeit massiv diskriminiert, Deutsch als Unterrichtssprache abgeschafft. Von Mai bis Oktober 1940 verfügten die NS-Behörden die Umsiedlung von etwa 31 000 Cholmer Deutschen. 25 000 wurden im westliche Gau Wartheland angesiedelt, etwa 1000 in Danzig-Westpreußen und 6000 verblieben im Generalgouvernement. Mit diesen Deutschen des Cholmer und Lubliner Landes hat Horst Köhler nichts zu tun.
Im Generalgouvernement sollte es nach Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion noch zu einer kuriosen Situation kommen – und diesem Kuriosum hat Horst Köhler seinen Geburtsort zu verdanken. Die NS-Dienststellen dachten mittlerweile anders über die Zukunft des Lubliner Landstrichs, aus dem Aussiedlungsgebiet sollte ein Ansiedlungsgebiet werden. Der Grund hierfür ist in der außerordentlichen Fruchtbarkeit des dortigen Gebietes mit Schwarzerdeböden bester Qualität zu sehen. Man begann mit der zwangsweisen Konzentration der verbliebenen deutschen Bevölkerung des Distrikts Lublin im Kreis Samosch, der zum ersten deutschen Siedlungsbereich im Generalgouvernement erklärt wurde. Dabei handelte es sich um „eine allgemeine Anordnung des Reichsführers SS“ Heinrich Himmler vom 12. November 1942. Bis zum Sommer 1943 sollten die polnischen Bewohner der Stadt und des Kreises Samosch vertrieben und das Gebiet deutsch besiedelt werden. Dies erklärt die Aussage Köhlers, warum er „im ersten Jahr der deutschen Besiedlung“ (“Der Spiegel“, Nr. 11/8. 3. 2004, S. 43) dort geboren wurde, denn die Ansiedlung der Mehrheit der Bessarabiendeutschen lag schon zwei Jahre zurück.
Im Juli 1943, also wenige Monate nach dem Geburtsdatum Köhlers am 22. 2. 1943, befanden sich im Kreis Samosch des Distrikts Lublin 7669 neu angesiedelte Deutsche. Davon stammten 3885 aus Bessarabien, 1994 aus Bosnien, 585 aus Rußland, 430 aus (Alt-)Rumänien, 330 aus Serbien, 211 aus Bulgarien, 92 aus der Dobrudscha, 52 aus Estland und Lettland, 41 aus der Nordbukowina, 27 aus der Südbukowina und 22 aus Wolhynien.
Der Geburtsort von Horst Köhler hatte von den NS-Behörden einen deutschen Namen erhalten. Skierbieszów hieß nun Heidenstein. Der Gouverneur des Distrikts Warschau, Dr. Ludwig Fischer, berichtet von einer Inspektionsreise im Kreis Samosch am 9./10. Mai 1943, daß in einem der neuen Hauptdörfer mit Namen Heidenstein (poln. Skierbieszów) 31 Bessarabiendeutsche angesiedelt wurden. Darunter muß die Familie Köhler gewesen sein. Wichtig erscheint ihm für die Bessarabiendeutschen, „daß sie vor der Umsiedlung ins Generalgouvernement bereits in Bessarabien und anderswo im Volkstumskampf gestanden haben und daß ihnen nun erneut die Aufgabe zufalle, Pioniere des Deutschtums zu sein in einem Raum, der einstweilen noch zum größten Teil von fremdem Volkstum besetzt sei, der aber deutsch würde...“ An diesem Bericht zeigt sich deutlich, wie die Umsiedlerfamilien durch die NS-Dienststellen manipuliert und instrumentalisiert wurden. Auch die Bessarabiendeutschen dienten dem „höheren Ziel“ der nationalsozialistischen Siedlungspolitik im Osten.
Die Cholmer und Lubliner Deutschen, die im Kreis Samosch konzentriert und durch Neusiedler im Distrikt Lublin – darunter die Familie Köhler – ergänzt worden waren, mußten das Gebiet am 18. März 1944 verlassen, weil die Front näherrückte. Die Regelung galt nur für Frauen, Kinder und alte Leute. Die wehrfähigen Männer blieben im Lubliner Bezirk zurück und wurden von dort erst am 19./20. Juli 1944 abgezogen. Das erklärt, warum die Mutter von Horst Köhler allein „mit fünf Kindern“ geflohen ist. Denn am 22. Juli 1944 konnte in Cholm das Juli-Manifest des „Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung“ veröffentlicht werden, das in Richtung einer kommunistischen Herrschaft im neuen polnischen Staat deutete. Immerhin war dieser Tag bis 1989 offizieller Nationalfeiertag in Polen. Die Familie Köhler dürfte bis Januar 1945, als sie zum zweiten Male auf die Flucht gehen mußte, im Lager Litzmannstadt (Lodz) im Warthegau aufgefangen worden sein. Belegt ist jedenfalls, daß das Gebiet um den Geburtsort von Horst Köhler, Skierbieszów, bereits im Juli 1944 von sowjetischen Truppen eingenommen worden war und im Januar 1945 als Bereitstellungsraum für den am 12. Januar 1945 über die Weichsel vorgetragenen Vorstoß der sowjetischen Truppen diente.
“Im Januar 1945 ist meine Mutter mit fünf Kindern – wir waren insgesamt acht – in den Westen geflohen, bis nach Markkleeberg im Leipziger Land. Dort haben wir – meine Eltern waren Bauern – bis Ostern 1953 gelebt. Da sind wir wieder geflohen“, sagt Horst Köhler im „Spiegel“-Interview. Er sagt es so, als sei sein Flüchtlingsschicksal zum prägenden Moment seines Lebens geworden. Ein Schicksal, über das sein weiteres Leben weit hinausgegriffen hat, aber diese aktuelle Geschichte wird von der deutschen und internationalen Medienwelt erzählt!
Ortfried Kotzian (KK)
Nachdruck nur mit Genehmigung des Verfassers.
Dr. Ortfried Kotzian, Direktor des Münchner Hauses des Deutschen Ostens, ist der Autor des Buches „Die Umsiedler. Die Deutschen aus Westwolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha  und in der Karpatenukraine“. Dieser letzte Band der von Wilfried Schlau herausgegebenen OKR-Studienbuchreihe „Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche“ wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres bei Langen Müller erscheinen.  

 

Dankwart Reißenberger gestorben
Am 21. März 2004 verstarb in Euskirchen der Ehrenvorsitzende der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse, Dankwart Reißenberger. Der in Hermannstadt am 4. November 1921 geborene Journalist war schon in den ersten Jahren des Bestehens der Landsmannschaft in deren Bundesvorstand aktiv und hat seine vielfältigen Kontakte zu Politik und Medien immer wieder genutzt, die Anliegen der Siebenbürger Sachsen bekannt zu machen und für deren Unterstützung zu werben. Keine menschliche oder Sachfrage war ihm fremd, und nicht nur die Siebenbürger Sachsen verdanken ihm viel. (KK)

 

Zäher Dunst der Ideologien
Mühsam arbeiten sich die Oberschlesier aus den Propagandalügen der Vergangenheit heraus und suchen nach ihrer Identität
Seit der Wende macht sich die Autonomiebewegung der Schlonsaken in Oberschlesien zunehmend bemerkbar. Nachdem die totalitären Verbote gefallen waren, begann man öffentlich Stellung zu nehmen gegen die Verwahrlosung und Verwüstung des Landes. Die Einheimischen, die sich noch immer ihrem Land verbunden fühlten und nicht ausreisen wollten, beklagten den bisherigen Egoismus des zentralistisch ausgerichteten polnischen Staates, der die   ökonomischen Verheerungen der gesamten Industrielandschaft, die gigantische, weltweit einmalige ökologische Katastrophe zu verantworten hat. Oberschlesien war fast unbewohnbar geworden .
Die Oberschlesier selbst besannen sich auf Autonomieversprechungen des polnischen Staates in den zwanziger Jahren, als der Kernteil der oberschlesischen Industrieregion aufgrund des Versailler Vertrags unter polnische Oberherrschaft gestellt wurde und Wojciech Korfanty noch ihr Tribun war. Man war bestrebt, die Verantwortung für das Land  zu übernehmen. Eine oberschlesische Identität wurde postuliert. Doch die ist schwer zu definieren. Denn jetzt wirken sich die durch das totalitäre Regime verordneten Geschichtsfälschungen aus. Unkenntnis der eigenen Geschichte kommt zum Vorschein. Die Oberschlesier, die sich Schlonsaken nennen, wissen nicht recht, wer sie eigentlich sind. Oft reden auch populäre Wortführer an der Wahrheit vorbei, weil sich alle mühsam aus dem Dunst der Propagandalügen herausarbeiten müssen.
Dennoch oder eben deshalb wandten sich die  Schlonsaken an die Warschauer Regierung, um die Zulassung einer oberschlesischen Nationalität zu bewirken. Man postulierte, eine nationale Minderheit innerhalb Polens zu sein. Das Gesuch wurde abgelehnt. Danach scheiterten die Schlonsaken auch mit ihrer Klage vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Dazwischen lag eine allgemeine Volksabstimmung in Polen, die den Schlonsaken eine große Stimmenzahl einbrachte. Dennoch scheint das Nein für die Schlonsaken begründet. Eine Nation sind sie auf keinen Fall. Sie sind eine tragische ethnische Mischgruppe, deren Identitätsbewußtsein durch das widrige Zeitgeschehen zerstört, die in ihrer Selbstwahrnehmung beschädigt worden ist. Insofern sind sie mit Sicherheit ein Problem für ein europäisches Forum. Doch zunächst müßte diese ethnische Gruppe mit sich selbst klarkommen und sich um den Wiedergewinn ihrer Identität bemühen, das heißt vor allem um den Rückgewinn eines adäquaten Geschichtsbewußtseins.
Wer also sind die Schlonsaken? Die einheimischen Oberschlesier, die nach 1945 aus verschiedenen Gründen in der Heimat geblieben sind, etwa dreißig Prozent der vorherigen Bevölkerung, deren Gros als Deutsche vertrieben und ausgesiedelt wurde, bekennen sich heute zum Teil als deutsche Minderheit, während der andere Teil nach einer eigenen oberschlesischen Identität sucht. Das Zusammengehörigkeitsbewußtsein dieser in Wirklichkeit zusammengehörenden Gruppe ist schwach und voller Widersprüche.
Diese Situation ist durch die nationalen Ideologisierungen des 19. und durch den Terror beider Totalitarismen  des 20. Jahrhunderts verursacht worden. Besonders während des sowjetischen Totalitarismus wurde fast ein halbes Jahrhundert Geschichte gefälscht dargebracht, vor allem die siebenhundertjährige Anwesenheit und Aufbauarbeit der Deutschen im Lande verleugnet. Inzwischen setzen sich auch in Oberschlesien allmählich die historischen Fakten durch. Man fängt an, sich mit der Besiedlung des Landes durch Deutsche zu befassen, darüber nachzudenken, daß die Schlesier zwar Slawen, aber keine Polen sind. Es wird allmählich bekannt, daß die polnischen Aufstände während der Plebiszitzeit von Polen aus initiiert und organisiert worden sind.
Doch für die Existenz und Anerkennung einer ethnischen Gruppe als Nationalität wären vor allem die Sprache und  literarische Zeugnisse von Bedeutung. Diese aber sind bei den Schlonsaken nur in Rudimenten vorhanden. Die Chance, eine eigene Sprache zu erwerben, haben die einheimischen Oberschlesier viel früher verpaßt, im 18. und insbesondere im 19. Jahrhundert, als auch kleine ethnische Gruppen sich auf ihre Volkssprache besannen und bestrebt waren, sie zu kodifizieren und literaturfähig zu gestalten. 
Den  Oberschlesiern wurde statt dessen vom  preußischen Staat die polnische Sprache  verordnet. Diese Entwicklung  begann mit der zweiten großen Besiedlungswelle des Landes durch Friedrich den Großen, der bekanntlich bestrebt, war die Bevölkerung im Geiste der Aufklärung  Bildung beizubringen. Schulen wurden in dem Land gegründet, wo eine vorwiegend ihren slawischen Dialekt sprechende Bevölkerung ihr karges, aber geruhsames Dasein fristete. Deutsche Siedler kamen dazu. Es fehlte aber an Lehrern. Der Alte Fritz, ein genialer Ressourcenverwerter, setzte ausgediente Feldwebel in den Schuldienst ein. Unterrichtssprache war das Deutsche. Das ging dort einigermaßen gut, wo eine vorwiegend deutschsprachige Bevölkerung saß, nicht aber in den slawischen Dörfern. So wurde die Bildungspolitik in Oberschlesien  zum Problem in Berlin.
1822 gab die preußische Regierung einen Erlaß für das Posener Gebiet heraus, das nach den Teilungen Polens von Preußen annektiert worden war. Die polnische Sprache sollte dort nach dem Wunsch der Bevölkerung in den Schulen eingesetzt werden und mit der deutschen gleichberechtigt sein. In diesem Gebiet lebte ebenfalls eine Mischbevölkerung, allerdings waren es Polen und Deutsche, die Deutschen in der Minderheit. Die ethnischen Verhältnisse waren also fast ähnlich, doch im Posener Land lebten patriotisch gesonnene Polen, während die Oberschlesier eine national indifferente Gruppe waren. Dennoch setzte man   in Berlin  Oberschlesien und das Posener Land gleich. Mit preußischem Elan begann man die polnische Sprache auch in den Schulen in Oberschlesien einzuführen. Das benachteiligte naturgemäß die deutschen Kinder und weckte wiederum Proteste. 
Ein besonderes Verdienst bei der Einführung des Polnischen im Schulwesen Oberschlesiens erwarb sich Bischof Bernhard Bogedain, ein Schlesier aus Glogau, der bei seinen Verwandten in Posen aufgewachsen und dort mit dem Freiheitsbestreben der Polen in Berührung gekommen war. Bischof Bogedain, der nach den damaligen Geflogenheiten für die Seelsorge sowie für das Schulwesen zuständig war, verpflichtete alle Priester und Lehrer, sich die polnische Sprache anzueignen. Dazu stellte er  vor allem Lehrer und Priester aus dem Posener Gebiet ein, zum Teil überzeugte polnische Patrioten. Die Weichen waren gestellt. Es ist bezeichnend, daß die Polen bis heute dem für das Polentum in Oberschlesien so verdienstvollen deutschen Bischof Bernhard Bogedain keinen Dank wissen, denn seine Tätigkeit steht im Widerspruch zu den gängigen polnischen Legenden vom Ur-Polentum der Schlonsaken.
Als Bismarck nach 1871 mit dem Kulturkampf das Polnische aus dem Schulwesen energisch zu verdrängen begann, kam es natürlich zu erbittertem Widerstand, zumal der Eiserne Kanzler nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch den Protestantismus favorisierte und somit den in Oberschlesien einflussreichen katholischen Klerus herausforderte. Fortan wurde die Sprache, bislang ausschließlich  als Bildungsvermittler betrachtet,  in die politischen Auseindersetzungen zwischen Deutschen und Polen einbezogen. Für die Deutschen gab es  nur noch Deutsche in Oberschlesien und folgerichtig nur die deutsche Sprache, für die Polen nur noch Polen, also das Polnische. Daß dabei eine spezifische Gemengelage   nicht berücksichtigt wurde, schien wenig zu stören.
Die polnischen Aufstände in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg waren das weitere und weitaus dramatischere Kapitel seiner Geschichte, die Einführung der Volkslisten durch die Nazis aufgrund sprachlicher Kriterien das nächste. Die finale Tragödie aber erfolgte nach 1945, als der größte Teil der Bevölkerung vertrieben oder später ausgesiedelt, der restliche aber rigoros polonisiert wurde.
So kam es, daß die Schlonsaken erst nach 1989 nach sich selbst zu fragen begannen. Dennoch bleibt den heutigen Bewohnern Oberschlesiens, sowohl den Einheimischen wie den zugewanderten  Polen, nichts anderes übrig, als gemeinsam nach einer adäquaten modernen Identität zu suchen. Dies allerdings könnte eine einmalige europäische Chance für die vom Zeitgeschehen zerrüttete Region sein.
Renata Schumann (KK)

 

Der Nationalismus als Schlag ins (Hanse-)Kontor
Monika von Hirschheydt steckt den baltischen Lebenskreis ab
700 Jahre lang bestimmten Deutsche das Geschick der am Rigaer und am Finnischen Meerbusen zwischen den Flüssen Heilige Aa und Narwe (Narowa) gelegenen Ostseelande. Die dort lebenden Völker der Liven, Esten und Letten waren am Anfang des 13. Jahrhunderts von Bischof Albert von Riga, der einem bremischen Ministerialengeschlecht entstammte, und vom Schwertbrüderorden, der 1237 im Deutschen Orden aufging, unterworfen und christianisiert worden. Im Laufe des Spätmittelalters hatte sich auf dieser Grundlage mit einer deutschen Oberschicht, bestehend aus Bürgertum und adligen Grundbesitzern, das alte Livland entwickelt. Freilich setzten sich in der so zunehmend deutsch geprägten Ostseeregion im Laufe der Neuzeit verschiedene fremde Mächte fest. Doch gaben die Deutschen stets den Ausschlag bei der Gestaltung der inneren Verhältnisse der „deutschen Ostseeprovinzen“, wie man im 19. Jahrhundert sagte, als die baltischen Lande Bestandteil des Russischen Reiches waren. Wie Monika von Hirschheydt, selbst Trägerin eines deutschbaltischen Namens, in einem Vortrag im Münchner Haus des Deutschen Ostens feststellte, blieben dabei die inneren Strukturen bis zum Ersten Weltkrieg relativ stabil.
Alt-Livland war ein zum Deutschen Reich gehörender Staatenbund, der aus dem Gebiet des Deutschen Ordens sowie dem der Bistümer Riga, Dorpat, Ösel und Kurland bestand, bis er um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein Opfer der Begehrlichkeit seiner Nachbarn wurde. 1561 fiel der Teil nördlich der Düna, das sogenannte „Überdünische Livland“, das hinfort allein noch die Bezeichnung „Livland“ trug, einschließlich des Erzstifts Riga an Polen, während der Gebietsteil südlich der Düna als Polen lehnspflichtiges Herzogtum Kurland dem letzten Ordensmeister Wilhelm von Kettler übertragen wurde. Der Norden, Estland mit Reval (seit 1584 mit den Landschaften Harrien, Wierland, Jerwen und Wiek) fiel an Schweden. Dessen König Gustav Adolf konnte Polen 1629 zudem Livland entreißen, während Rußland erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Nordischen Krieg zum Zuge kam, als es dem geschlagenen Schweden Livland und Estland abgewann (Frieden von Nystad 1721 ). Mit dem Untergang Polens 1795 fiel auch Kurland an Rußland.
Den Ständen Livlands und Estlands, dem grundbesitzenden Adel und den Städten, gelang es, von den jeweiligen Herren – das letzte Mal von Zar Alexander II. im Jahre 1855 – ihre Privilegien vertraglich bestätigt zu bekommen, die Freiheit des evangelischen Bekenntnisses und der deutschen Sprache, deutsches Recht und Selbstverwaltung. Monika von Hirschheydt verwies auf die Bedeutung der Reformation und der Aufklärung in den Ostseelanden, nicht zuletzt für die geistige und materielle Hebung der Bauernbevölkerung, so die in den Jahren 1816 bis 1819, also wesentlich früher als im übrigen Rußland erlassenen Gesetze zur Bauernbefreiung und Agrarreform. Sie erinnerte an die bedeutende Rolle, die die Deutschbalten in den russischen Führungsschichten spielten, befördert durch die 1632 von König Gustav Adolf von Schweden gestiftete und 1802 neugegründete deutschsprachige Universität Dorpat, das geistige Zentrum der Deutschbalten.
Diese zählten um 1900 insgesamt etwa 200 000 Köpfe, während die Letten auf 1,2 Millionen und die Esten auf 900 000 kamen. Gegenüber dem Städtewesen in hansischer und nachhansischer Zeit wie der Adelskultur konnten diese baltischen Kleinvölker von jeher keine handelnde Rolle spielen. „Freilich“, so schrieb Reinhard Wittram 1943 im Vorwort zur ersten Fassung seiner „Baltischen Geschichte“, „hat man sich die bäuerliche Grundschicht, die diese Völker bildeten, mit ihrer Arbeitskraft und ihrem Volksgut stets gegenwärtig zu denken.“
Insofern bedeutete das Aufkommen des Nationalismus seit etwa 1860 eine scharfe Zäsur. Der wirtschaftlichen Expansion vor allem in den Städten Reval, Riga und Libau trat eine Vergrößerung der nationalen und sozialen Gegensätze an die Seite. Das habe, so die Referentin, die Deutschbalten „in die Klemme“ gebracht. Sie hätten ihr Deutschtum erbittert gegen die fortschreitende Russifizierung verteidigt und seien vom Aufkommen des Mißtrauens von Letten und Esten ihnen gegenüber schockiert gewesen. Die Stunde des Abschieds vom alten baltischen Lebenskreis und einer ersten Emigration habe geschlagen. Was folgte, Erster Weltkrieg, Revolution, die Gründung der baltischen Staaten 1920 und die Aussiedlung von zwei Dritteln der verbliebenen Deutschbalten 1939/40, brachte den vollständigen Verlust der deutschen Stellung in den Ostseelanden.
Die politische Landkarte war entsprechend der Sprachgrenze zwischen dem finnisch-ugrischen Estnisch und dem (ebenso wie das Litauische) indogermanischen Lettisch gestaltet worden. Demgemäß hatte man Estland mit der nördlichen Hälfte Livlands zur Estnischen und Kurland mit der südlichen Hälfte Livlands zur Lettischen Republik vereinigt. Was das Verhältnis der nach dem Ende der sowjetischen Okkupation von 1940 wiedererstandenen Republiken zu ihrer deutschen Vergangenheit betrifft, so zeichnete Monika von Hirschheydt ein überaus günstiges Bild. Daß das erstmals 1901 im Domhof von Riga aufgestellte Denkmal Bischof Alberts von lettischen Künstlern neu geschaffen und 2001 an alter Stelle aufgestellt werden konnte, nimmt sie als Sinnbild dafür.
Peter Mast (KK)

 

Heimatstuben nicht heimelig, sondern modern gestalten
Zahlreiche Mitglieder und Freunde der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Museen, Heimatstuben und Sammlungen aus Nordrhein-Westfalen sowie Bürgermeister Bodo Nowodworski von seiten der Gastgeberstadt  hatten sich im März zur Frühjahrstagung im Stadtgeschichtshaus von Mettmann eingefunden. Dr. Walter Engel, Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft, betonte die gute Zusammenarbeit mit regionalen Heimatmuseen, die – wie auch die Heimatstuben – bemüht seien, Zeugnisse zur Geschichte und Kultur eines Ortes zu sammeln, zu bewahren und an die nächsten Generationen weiterzureichen.
Dr. Jutta de Jong, Leiterin des Niederbergischen Museums Wülfrath, präsentierte Aspekte der lebendigen und bürgernahen Tätigkeit des Heimatmuseums. Auch diese museale Einrichtung ist bemüht, Zeugnisse zur Geschichte und Kultur eines Ortes zu sammeln und an die nächste Generation weiterzureichen. Besonders interessant waren die Beispiele der „Mitmach-Aktionen“, zu denen sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche herangezogen wurden. Eva Preuß, Leiterin der im Stadtgeschichtshaus ansässigen Angerapper Heimatstube, bot einen informativen Überblick zur Entstehungsgeschichte der über 500 Erinnerungsstücke umfassenden Sammlung. Die weiteren Räume des Stadtgeschichtshauses wurden von Helmut Kreil von „Aule Mettmann“ vorgestellt.
Mattias Lask, Geschäftsführer der AG Heimatstuben, referierte ferner über die Bedeutung der  Öffentlichkeitsarbeit der Heimatstuben. Vertreter mehrerer Ostdeutscher Museen und Heimatstuben, so Lorenz Grimoni und Konrad Scherfer, informierten über besondere Aktivitäten ihrer Häuser.
(KK)

 

Bücher und Medien

„Mutter Ostpreußen“ – und Lehrerin nicht minder
Marianne Kopp: Agnes Miegel. Leben und Werk. Husum Verlag, Husum 2004, 127 S., 6,95 Euro
Agnes Miegels bekanntestes Gedicht heißt „Die Frauen von Nidden“. Noch vor zwei, drei Jahrzehnten kannte es fast jedes Schulkind in der Bundesrepublik, und seine Schöpferin war zumindest als bedeutende Balladendichterin in allen Schulbüchern präsent. Das ist heute anders. Agnes Miegel geriet mehr und mehr in Vergessenheit, unter dem Namen „Mutter Ostpreußen“ wurde sie weithin als reine Heimatdichterin abgetan, selbst die Germanistik schenkte ihr kaum noch Beachtung. Von der breiten Fächerung des Gesamtwerkes der Stimme Ostpreußens, das nicht nur Balladen und Lyrisches, sondern auch Erzählendes umfaßt, ist einer größeren Öffentlichkeit kaum noch etwas bekannt.
Das zu ändern hat sich Marianne Kopp mit ihrem zeitgerecht zum 125. Geburtstag der Dichterin erschienenen Buch zum Ziel gesetzt. Die Augsburger Germanistin und Vorsitzende der Agnes-Miegel-Gesellschaft kann derzeit als die deutsche Agnes-Miegel-Expertin gelten, schon ihre Dissertation befaßte sich mit der ostpreußischen Dichterin. Die Idee zu diesem Band entsprang aus der vielfältigen Vortragstätigkeit der Autorin, die immer öfter die Anregung hörte, ihre Arbeiten doch größeren Kreisen in einem Buch vorzustellen. Entstanden ist weit mehr als eine Sammlung von Aufsätzen und Einzeluntersuchungen, es ist ein Buch aus einem Guß.
Eine umfassende Würdigung des Werkes versprach der Husum Verlag in seiner Ankündigung, und tatsächlich gelingt es Marianne Kopp, ein Bild der Dichterin zu entwerfen, das jenseits aller Schlagworte wie Nazidichterin, aber auch über allen Kategorisierungen wie Heimatdichterin oder Balladendichterin steht. Dabei verläßt die Autorin in ihrer Darstellung das Format einer reinen Biographie und stellt das Werk Agnes Miegels in thematischen Kapiteln unter ganz anderen als den bisher üblichen, an der Chronologie des Schaffens ausgerichteten Gesichtspunkten dar.
Gerade dieser Ansatz bringt dem Leser das Gesamtwerk der Dichterin auf ganz neue Weise nahe und erschließt auch dem Miegel-Kenner bisher nicht Gekanntes aus deren Leben und Werk. Fast beiläufig gelingt Marianne Kopp gerade in den Themenkapiteln der Nachweis, daß die Dichterin sich keineswegs nur mit ostpreußischen Themen befaßte, sondern ihre Motive vielfach in ganz anderen Bereichen fand. Der Bogen reicht von der Antike bis zu Stoffen aus dem Orient, wie sie in einigen Märchen vorkommen. Immer wieder führt die Autorin auch vordergründig ostpreußische Themen Agnes Miegels auf die ihnen zugrunde liegenden klassischen Motive zurück wie im Kapitel über die Webkunst. Dabei gelingt es Marianne Kopp ganz nebenbei, dem Leser einen Blick auf  Symbole und Motive zu erschließen, die nicht nur bei Agnes Miegel, sondern in der gesamten Literatur immer wieder in vielfältigen Abwandlungen verwendet worden sind.
Fast zwangsläufig gelangt der Leser des Buches zu großem Respekt vor dem erstaunlichen, fast ausschließlich autodidaktisch angeeigneten Wissen Agnes Miegels. Die Palette ihrer Kenntnisse reicht von der antiken Mythologie bis zur Geschichte, Kultur und Geographie ihrer Heimat, so daß sie als wandelnde ostpreußische Enzyklopädie galt.
Wer dieses obendrein fesselnd geschriebene Buch liest, erfährt viel über Ostpreußens große Dichterin, wird auf Agnes Miegel neugierig werden und kann sich ihr Werk auf neuen Wegen mit neuen Sichtweisen erschließen.
Brigitte Jäger-Dabek (KK)

 

Gab es das wahre Leben im falschen der DDR?
Peter Böthig (Hg.): Christa Wolf. Eine Biographie in Bildern und Texten. Luchterhand Verlag, München 2004, 224 S., 35 €uro
Pünktlich zum 75. Geburtstag von Christa Wolf legt Luchterhand einen von Peter Böthig sorgfältig aufbereitete Bild- und Textband vor. Die Ehrung gilt der Hausautorin, und vollmundig ist davon die Rede, daß in dieser Bildbiographie eine Schriftstellerin präsentiert wird, die „sich im Literarischen und Politischen weder in der DDR noch später in der Bundesrepublik zu Zugeständnissen bereit gefunden hat“. Eine Ikone der Unerschütterlichkeit wird errichtet, die wenig gemein hat mit den komplizierten und widersprüchlichen Abläufen im geteilten Europa des 20. Jahrhunderts. Es sind die Stimmen ihrer Verehrer im Feuilleton, die weinerlich bedauern, daß Christa Wolfs Werke nicht uneingeschränkt aufgrund ihrer literarischen Qualitäten beurteilt würden.
Allein, der moralische Konnex wurde von ihr selbst immer wieder hergestellt: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Schreiben und Leben im Grundsätzlichen auseinanderklaffen. Ich möchte mir nicht denken, daß man als Autor eine bestimmte Moral vertritt, ja moralisiert (was ich, zugegeben, tue) und als Mensch dieser Moral absolut entgegenlebt.“ Ein Autor, der für sich in derartiger Weise moralische Authentizität beansprucht, darf sich nicht wundern, wenn Kritiker statt literarischer Kriterien am verkündeten Anspruch ihre Meßlatte anlegen.
In einem Land wie der DDR „eine bestimmte Moral zu vertreten“ und dennoch als Schriftsteller wahrgenommen zu werden erforderte gelinde formuliert ein enormes Fingerspitzengefühl. Geschichtliche Schlüsselereignisse wie der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen zur Niederwerfung von Alexander Dubceks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ am 21. August 1968 oder die Ausbürgerung des kritischen Kommunisten und Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 forderten zur Stellungnahme heraus, bei denen sich auch Christa Wolf unter den gegebenen Umständen eher der „Sklavensprache“, wie es Hans Mayer einst beschrieben hat, bediente. Zum Bau der Mauer im August 1961 findet sich in der vorliegenden Bildbiographie bezeichnenderweise nicht einmal das Datum in der Liste der Aufzählung wichtiger Ereignisse.
Nein, aussagekräftiger als der selbstverkündete Anspruch ist der freigegebene Blick auf ein Geflecht biographischer, psychologischer und geschichtlicher Konstellationen. Christa Wolf gehört jener Generation an, die nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur vor einer historischen Null stand. „Als wir sechzehn waren, konnten uns mit niemandem identifizieren“, bemerkt sie richtig und liefert somit einen wertvollen Hinweis. DDR-Schriftsteller wie Christa Wolf, Erwin Strittmatter, Franz Fühmann erboten sich gleichsam am eigenen Leib, an der eigenen Biographie den Gegenbeweis anzutreten, um die Sieger vom guten Willen zum Aufbau eines friedlichen Deutschland zu überzeugen. Es galt, sich mit aller Deutlichkeit von der Nazizeit abzusetzen.
“Ich wollte genau das Gegenteil“, schrieb Christa Wolf über ihren Beitritt zur SED und ihre neue marxistische Weltanschauung. Freilich zeigte sich nach dem Ende der DDR, daß ein weiteres Mal auf deutschem Boden grundlegende Begriffe wie „Deutsch“ ideologisch verhunzt und verwüstet worden waren. Diesmal kamen noch „Republik“ und „Demokratisch“ hinzu. Von „Sozialismus“ ganz zu schweigen. Heute kann es nicht darum gehen, Noten für damaliges Verhalten zu verteilen. Es ist tragisch genug, wenn die Aufrichtigkeit junger Menschen von Ideologien mißbraucht wird, im vorliegenden Fall von marxistisch ausgerichteten.
Um so mehr ist um der intellektuellen wie moralischen Redlichkeit willen Zurückhaltung in der Selbsteinschätzung angebracht. Ohne Zweifel hat Christa Wolf zu Lebzeiten der DDR Menschen enttäuscht, was sich auch am Bruch der Freundschaft mit der kritischen Dichterin Sarah Kirsch zeigen läßt. Und ohne Zweifel war Christa Wolf und ihre Haltung in der DDR vielen ein wichtiger Halt, nicht wenige konnten sich auf ihre verständige Hilfe verlassen. Mehr über die Lebenszeit der Christa Wolf erzählen Bilder wie jenes kleine Schwarzweißfoto von 1936, auf welchem das Elternhaus in Landsberg an der Warthe zu sehen ist. Im Juli 1971 wird das Haus erneut fotografiert. Es hat sich auf frappierende Weise nichts geändert, weder das Haus mit seinen Fensterläden noch gar die leicht ausgefranste Pappel davor. Und doch ist eine völlig neue Umgebung um dieses Haus im heutigen Gorzow Wielkopolski. Sozialistische Plattenbauten reichen bis in die unmittelbare Nachbarschaft. Hier berührt Geschichte den Betrachter, nehmen Krieg und Vertreibung, Aufbau und Parteilichkeit konkrete Formen an. In den besten Passagen in Christa Wolfs Büchern wird davon erzählt.
Volker Strebel (KK)

 

Zwei Berliner aus der Provinz im angelsächsischen Exil
„Ist schon doll das Leben“. George Grosz / Max Herrmann-Neisse. Der Briefwechsel. Hg. von Klaus Völker. Transit Buchverlag, Berlin 2003, 160 S., 14,48 €uro
120 Buchseiten umfaßt der ausgezeichnet edierte Briefwechsel. Er beginnt mit einer Briefkarte von George Grosz, datiert 28. November 1917, und endet mit einem Brief Max Herrmann-Neisses vom 7. Oktober 1938. Warum die Korrespondenz nicht fortgesetzt worden ist, wird nicht mitgeteilt. Im Impressum wird lediglich dem Sohn von George Grosz „für die freundliche Genehmigung“ gedankt. Die Briefe des Dichters stammen aus dem Archiv des Verlags Zweitausendeins in Frankfurt am Main, wo auch die Werkausgabe erschienen ist.
Die bedeutendesten Briefe sind die aus dem Exil. Der sieben Jahre jüngere Maler und Zeichner Grosz war bereits wenige Wochen vor der Machtübernahme am 30. Januar 1933 durch Hitler aus Protest gegen das in seinen Augen immer noch militante, autoritätshörige Deutschland in die USA gegangen. Der Schriftsteller Herrmann-Neisse war zwei Tage nach dem Reichstagsbrand vor dem aufziehenden Dritten Reich geflohen.
Die Briefe lesen sich wie eine Sozialgeschichte der Emigration. Über das Leben von George Grosz ist vieles aus dessen Erinnerungsband „Ein kleines Ja und ein großes Nein“, erschienen 1955, zu erfahren, über den Lebensweg von Max Herrmann-Neisse, der bereits am 8. April 1941 in London zu Ende ging, gibt es Vergleichbares nicht. Durch diesen Briefwechsel erhalten wir jedoch Einblicke in das Weiterleben fern des wirbligen Kunstbetriebes in Berlin. Beide waren aus den Provinzen Pommern bzw. Schlesien, aus Stolp und Neisse, in die Reichshauptstadt gekommen und hatten die Jahre der Weimarer Republik, später die „Goldenen Zwanziger“ genannt, hier aktiv miterlebt. Diese Zeit, ihre Persönlichkeiten und gesellschaftlichen Zusammenhänge werden mit subjektiven Akzenten beschworen.
Der linksorientierte George Grosz wurde in den USA zu einem begeisterten und engagierten Bürger der Neuen Welt. (Erst später wurde sein Urteil zunehmend skeptisch, und er starb 1959 als Rückkehrer in Berlin.) Freudig bekannte er sich vorerst als Amerikaner. Max Herrmann-Neisse hingegen war und blieb ein Fremder in der Fremde. In London wollte und konnte er nicht heimisch werden. Geradezu selig äußerte er sich, wenn es zwischendurch nach Zürich ging, wenn auch nur für Wochen. In einem Brief vom 4. April 1934 nach New York heißt es über London: „Es ist eine unzugängliche, grausame Stadt, und um nur von einer natürlich nebensächlichen, kleinen Entspannung zu reden: Cafés zum Ausruhen oder gemütliche Kneipen gibt es überhaupt nicht ... Ist nichts für einen alten schlesischen Bierverlegersohn!“ (Die Eltern hatten in Neisse einen Bierverlag und eine Trinkstube unterhalten.) Ein halbes Jahr später schwärmt er von Zürich: „Endlich wieder richtige Natur, wie sie einem Feld-, Wald- und Wiesenlyriker das Herz aufgehen läßt, Berge, Hügel, See.“ Ihm bleibt die deutsche Sprache als Lebenselixier, und er rühmt sie geradezu huldigend.
Die Edition zeichnet sich durch ein 25 Seiten umfassendes „Lexikon“ aus, das die Namen umfaßt, die dem heutigen Leser fremd sein dürften. Hier werden wir auch über den Juwelier und Diamantenhändler Alphonse Sinsheimer informiert, der sich in London Sandhurst nennt und in einer „Ehe zu dritt“ dem Dichter und seiner Frau das Überleben in der Emigration sichert.
Es wundert einen, daß George Grosz in seinen Erinnerungen zwar die meisten zeitgenössischen Persönlichkeiten aus Berlin und im Exil namentlich aufführt, Max Herrmann-Neisse aber mit keinem Wort erwähnt. Aus diesem Briefwechsel hingegen spricht herzliche Freundschaft, Offenheit und gegenseitige Hochachtung. Dabei denkt man auch an die großartigen Porträts des Dichters, die wir George Grosz zu verdanken haben.
Herbert Hupka (KK)

 

Der tschechische Blick aufs schwarze Loch Europas: ein Buch von Martin Dvorák
Anfang 2001 löste der WDR-Film „Es begann mit einer Lüge“ einen Mediensturm aus: Die Kölner hatten sauber recherchiert, beeindruckend illustriert und aggressiv formuliert – daß die sog. „NATO-Mission im Kosovo“, die 1999 über 70 Tage lang Bomben auf Serbien warf, auf albanischen Propagandalügen, westlichen Fehleinschätzungen und bewußten Irreführungen durch Militärs beruhte, also letztlich ohne Sinn und Ziel war. In Osteuropa wäre derartiges vermutlich nicht möglich gewesen, weil man dort die balkanischen, speziell serbisch-albanischen Verhältnisse kühler und realistischer betrachtet: Wenn es zwischen serbischen Warlords und albanischen UCK-“Kämpfern“ überhaupt einen Unterschied geben sollte, dann könnte der höchstens in den jeweiligen Muttersprachen liegen.
In Warschau, Moskau, Prag, Bukarest wird viel und klug über den Balkan geschrieben – was der Westen alles nicht zur Kenntnis nimmt. Diese arrogante Ignoranz ist im höchsten Maße selbstschädigend: Was wir erst heute mühsam zur Kenntnis nehmen, aber nicht ändern können oder wollen, ist in Osteuropa seit langen Jahren eine Binsenweisheit – daß die angeblich „traumatisierten“ Kosovo-Albaner unfähig zur Politik, aber höchst begabt für organisierte Kriminalität sind, daß ihre rund 10 000 Quadratkilometer große Region Europas schwarzes Loch ist, in dem Waffen-, Drogen- und Menschenschmuggler straffrei agieren.
Was hätte im Kosovo vermieden, was für kosovarische Befriedung getan werden können, wäre im Westen ein tschechisches Buch wie Martin Dvoøáks „Kosovo na vlastní kùzi“ (K. auf eigener Haut) übersetzt und zur Pflichtlektüre für alle UNMIK-Administratoren und KFOR-Kommandeure bestimmt worden! Der tschechische Autor, Jahrgang 1956, hat bis Oktober 2000 im nordkosovarischen Istok als UN-Beauftragter amtiert und darüber ein Buch verfaßt, für das sich Václav Havel ausdrücklich bedankte. Zu Recht!
Im Buch spricht Dvoøák von „skeptischen tschechischen Augen, denen nichts heilig ist“.  So kann man es auch sagen – daß die Tschechen zu der europäischen Minderheit gehören, die der medial üblichen Betrachtungsweise kosovarischer Gegebenheiten, serbische „Täter“ versus albanische „Opfer“, zutiefst mißtrauen. Jiøí Dienstbier, Ex-Außenminister der Tschechoslowakei und später UN-Menschenrechtsbeauftragter, hat die Lage der Kosovo-Albaner unter Miloseviæ stets mit den Lebensbedingungen tschechischer Dissidenten im Kommunismus verglichen und albanische Klagen häufig ironisch abgewiesen. Und für Prager Balkanologen wie Filip Tesár sind Kosovo-Albaner einfach Falschmünzer, die sich auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ berufen, um einen Staat zu zerschlagen. In diese Reihe gehört auch Dvoøák, der sich bei aller Loyalität zu UN und OSZE und allem Einsatz für sie den kritischen Blick auf die Zustände vor Ort nicht verbieten läßt.
Details sind in seinem facettenreichen Buch ausgebreitet, das durchweg in einem attraktiven und kolloquialen Tschechisch geschrieben ist. Dadurch entsteht ein Sprachstil, der die Neigung des Autors zu lakonischer Distanz zu seiner Tätigkeit und seiner Umgebung unterstützt. Die UNMIK-Bürokratie wird in einer Weise konterfeit, die aus Havels Bühnenstücken (“Die Benachrichtigung“) entliehen sein könnte. Selbst Alltägliches vermag der Autor in einer Art wiederzugeben, die seine Vertrautheit mit den Realsatiren seines Landsmannes Jaroslav Zák vermuten läßt. So entstand ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Buch, das in der tschechischen Presse mit verdienter Aufmerksamkeit registriert wurde und auch anderswo wahrgenommen werden sollte: Das Kosovo aus der „Froschperspektive“ eines slawischen Autors, der in einer materiell und mental zerstörten Umgebung Wiederaufbau leistet – mit den Erfolgsaussichten eines Sisyphos!
Daß es im Kosovo seit 1999 nur abwärts geht, liegt an den Albanern selber. Dvoøák sind sie nie sympathisch, oft sogar unheimlich: Ihr Leben wird bestimmt von „jahrhundertealten Traditionen und Gewohnheiten, die sich deshalb erhalten, weil man hier bislang ziemlich isoliert und ohne den globalen Einfluß der Zivilisation lebte“. Warum dreht sich bei ihnen der „endlose Kreis von Vergeltung, Vendetta und Rache“? Weil es vom mittelalterlichen Kanun so verlangt wird, dessen Grundforderung „Blut für Blut“ nach wie vor „höchst aktuell“ ist. Darum „fürchtet“ Dvoøák, „daß die internationale Mission noch einige Generationen hierbleiben muß, bis man vielleicht den Einfluß des Kanun schwächen und eine wirkliche Rechtsordnung einrichten kann“. Sollte es früher dazu kommen, dann wegen ihrer selbstzerstörerischen Natur, die noch selten jemand so wie Dvoøák beim Namen nannte: „Was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, sind eben die Vorfälle einer unverständlichen wechselseitigen Gewalt unter verschiedenen Gruppen von Albanern. Man kann es nicht übersehen, daß Spannungen und Nervosität von Tag zu Tag steigen.“ Früher waren die Albaner gegen den „gemeinsamen Feind“, das serbische Miloseviæ-Regime, geeint, aber „kaum ist der gemeinsame Feind verschwunden, da sucht man mit Hochdruck einen neuen, und weil man ihn anderswo nicht mehr finden kann, da findet man ihn unter denen, mit denen man noch unlängst gegen den ursprünglichen Feind gekämpft hat“.
Hauptakteur des intraalbanischen Kriegs ist die ehemalige UCK, die offiziell aufgelöst und zum kleineren Teil in das Kosovo-Schutzcorps (TMK) umgewandelt worden ist. Realiter ist sie stärker denn je, wie Dvoøák bezeugt: Das TMK ist „keine Armee, keine Polizei, nicht einmal eine Hilfsbrigade“, aber es hat „enorme Ansprüche zu den Bedingungen, unter denen es wohnen, eventuell auch arbeiten soll“. Deswegen konfisziert das TMK, „das immer noch dasselbe wie die angeblich demobilisierte UCK ist“, bei Albanern Wohnungen und Einrichtungen, was die UNMIK mühevoll ausgleichen muß. Nach wie vor erhebt die UÇK bei Albanern „Abgaben“, und weil im Kosovo keine „Parallel-Strukturen“ mehr finanziert werden müssen, verfügt sie über enorme Einnahmen. Ehemalige UCK-Kämpfer berufen sich ständig auf ihre „Kampfverdienste“, lassen sich von „UCK-Mitkämpfern“ in bestimmte Posten lancieren, „zahlen keine Steuern und keine Mieten“ und „verdienen ungeheure Summen“. Ein „ehemaliger UCK-Kämpfer“, mittlerweile mit einer UN-Bediensteten liiert, „eröffnet in Peæ ein Fitneß-Center, das Geld dazu kommt von einer humanitären Organisation“.
Kosovo-Albaner leben gefährlich, noch gefährdeter sind alle, die keine Albaner sind: „Unsere Sicherheitsleute haben mir vertraulich und gar ein bißchen konspirativ eine Information über erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit mitgeteilt, die insbesondere Personen von slawischer Herkunft zu widmen sei.“ Was Dvoøák nicht erwähnt (aber als bekannt voraussetzt, denn „unsere Zeitungen haben gerade darüber geschrieben“), ist die Tatsache, daß in Prishtina ein bulgarischer UN-Mitarbeiter von Albanern getötet worden ist, nachdem sie ihn als Slawen erkannt haben. Überall „vermehren sich Kriminalität und Gewalt“, weil „sich bei allen Menschen hier das Gefühl vertieft, daß eigentlich alles erlaubt ist“. Also werden kommunale Dienstleistungen wie Elektrizität nicht bezahlt, leerstehende Wohnungen ohne Genehmigung „für viel Geld an Verwandte oder für noch mehr Geld an internationale Freunde vermietet“, werden UNHCR-Materialien gestohlen, blühen allenthalben Schwarzhandel und Schieberei. Ein großes Problem sind Autodiebstähle, obwohl „90 Prozent der Autos kein Kennzeichen haben und selbstverständlich nirgendwo Verkehrszeichen stehen“.
Die Arbeitslosigkeit in Dvoøáks Amtsbereich lag bei „über 60 Prozent“, aber offene Stellen wurden allein nach Klientel-Gesichtspunkten vergeben – „die Mitglieder der Auswahlkommission waren in diese mit dem unverkennbaren und vorab erteilten Auftrag gekommen, ihren Kandidaten durchzudrücken“. Entsprechend nahmen sich die Amtsinhaber aus: „Ich habe mir niemals große Illusionen zum Arbeitseifer der lokalen Beamten gemacht.“ Einmal hatte Dvoøák in eigener Kompetenz eine hochdotierte Stelle zu vergeben, und die Schilderung dessen fiel so aus, daß sich die tschechische Presse in verständlichem Vergnügen darauf förmlich stürzte. Es ging um den Posten eines Ökonomen, und die meisten Bewerber wiesen ein Hochschuldiplom vor. Die Hälfte von ihnen, darunter eine Mathematiklehrerin, scheiterte an einer einfachen Aufgabe in Prozentrechnung, was eine gewisse „Vorstellung von der Qualität des lokalen Bildungswesens vermittelte“. Der Rest sollte u. a. die Frage beantworten, „wie viele Symphonien Beethoven komponierte. Die Antworten bewegten sich von drei bis zwölf, aber auf die neun kam niemand.“
Nach internationalen Analysen und heimischen „Frühwarnberichten“ hat das Kosovo keine Zukunft: Einziger Konsens unter den zerstrittenen albanischen Führern ist die Option „unabhängiges Kosovo“, die die internationale Gemeinschaft um keinen Preis will. „Benchmarks“ (Stolpersteine) hat sie aufgestellt, bevor die Frage des kosovarischen Status auch nur diskutiert werden soll: Recht, Ordnung, Sicherheit, Arbeitsplätze etc. sollen zurückkehren, aber davon kann keine Rede sein. Dvoøák hat es erlebt: „Hinter allen hohltönenden Worten sind persönliche und parteiliche Interessen zu spüren, alle wollen ihren Bürgermeister haben, alle wollen die Finanzen kontrollieren, und alle Verhandlungsführer haben schon vorher einen Posten für sich selber ausgeguckt. Zu allem dem muß man noch die Familien- und Clanbeziehungen hinzunehmen, die zehn Jahre der Kämpfe gegen den gemeinsamen Feind, aber auch unter- und gegeneinander, und man hat die Gesamtsituation gleichsam in der offenen Hand.“ Also wird das Kosovo nicht so, wie es die UN-Resolution 1244 verordnete, eine autonome Provinz Serbiens, sondern es bleibt, wie es ist, nämlich mit Höchstraten an Arbeitslosigkeit, Analphabetentum, Aids-Infektionen und Verbrechen.
Wolf  Oschlies (KK)

 

Literatur und Kunst

Festung für Gott und den Zaren
„Der Kreml – Gottesruhm und Zarenpracht“ in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn
Das um 1904 gefertigte Fabergé-Ei „Moskauer Kreml“ war ein Ostergeschenk des Zaren Nikolaus II. an seine Frau Alexandra Fjodorowna. Zusammen mit fast 300 anderen hochkarätigen Exponaten ist dieses Schmuckstück aus der Werkstatt der weltberühmten Goldschmiedefamilie Carl Fabergé in der Ausstellung „Der Kreml – Gottesruhm und Zarenpracht“ bis zum 31. Mai in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn zu sehen. Den Besucher erwarten dort acht Jahrhunderte Kulturgeschichte rund um den Moskauer Kreml, der sich in seiner wechselvollen Geschichte zum Symbol des russischen Staatswesens und des orthodoxen Glaubens entwickelte.
Vor sieben Jahren feierten die Moskauer das 850jährige Bestehen ihrer Stadt. Damals begann eine lebhafte Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln der russischen Metropole, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen: Unter der Bezeichnung „Moskow“ wird die damals noch bescheidene Holzfestung 1147 erstmals urkundlich erwähnt. Lange Zeit stand das mittelalterliche Moskau im Schatten anderer Städte wie Kiew und Wladimir, bevor es zum machtbewußten Zentrum der ganzen Rus' aufstieg. Allerdings brachten es die Moskauer schon früh zu einem beträchtlichen Wohlstand. Juwelen und Geschmeide aus dem sog. Großen Kreml-Schatz, den die Bewohner vor dem Mongolenangriff 1237/38 vergraben hatten, zeugen von der hohen Kunstfertigkeit russischer Silberschmiede in der vormongolischen Zeit. Neben wohlfeiler Massenware fertigten sie kostbaren Gold- und Silberschmuck für weltliche und geistliche Würdenträger. Einige dieser filigranen Kostbarkeiten aus dem Kreml-Schatz, der erst 1988 wieder geborgen wurde, sind in der Bonner Ausstellung – und damit erstmals außerhalb Rußlands – zu sehen. Die durch den Mongolensturm unterbrochenen Traditionen des Kunsthandwerks lebten nach 200jähriger Unterbrechung im 15. Jahrhundert wieder auf und fanden ihren Ausdruck in herrlich geschmücktem Kirchengerät, edelsteinbesetzten Ikonen und kostbar bestickten Gewändern. Für das in enger Kooperation mit dem Staatlichen kulturhistorischen Museum „Moskauer Kreml“ entstandene Ausstellungsprojekt  hat Elena Gagarina, Tochter des Kosmonauten Jurij Gagarin und heutige Kreml-Schatzhüterin, zahlreiche dieser glanzvollen Zeugnisse der russischen Kultur  preisgegeben.
Von der Pracht vergangener Zeiten lebt der Mythos Kreml bis heute. Festung für Gott und Zar, stellt der goldüberkuppelte Moskauer Kreml seit Jahrhunderten das Herz Rußlands dar. In seiner Entwicklung spiegelt sich die Geschichte dieses Landes und seiner Herrscher wieder, eine Geschichte, die geprägt ist durch die Dualität der weltlichen und geistlichen Macht. „Über Moskau geht nur der Kreml, und über dem Kreml ist nur noch Gott“, wußte der Volksmund früher zu berichten. Vor dem Hintergrund markanter Ereignisse der russischen Geschichte werden den Besuchern der Bonner Ausstellung wechselweise sakrale und profane Denkmäler präsentiert, die interessante Einblicke in die kulturelle und historische Entwicklung des Landes geben. Die enge Verflechtung der politischen und religiösen Macht kann der Besucher in der Ikonenmalerei studieren, etwa in der „Anbetung des Kreuzes durch Herrscher und Patriarchen“. Als Symbole der weltlichen bzw. geistlichen Macht werden die Mitra des Metropoliten Iow und der Zarenhut Iwans des Schrecklichen gegenübergestellt. Unter Iwan IV., dem Schrecklichen, rückte Moskau zunehmend in das Blickfeld der internationalen Politik. Wertvolle Geschenke ausländischer Gesandtschaften an die Zaren, darunter erlesenes Kunsthandwerk aus Augsburg, Hamburg und Nürnberg, werden in der Ausstellung wirkungsvoll in Szene gesetzt. Besonders eindrucksvoll präsentiert sich ein vierstöckiger „Konfektbaum“, den die schwedische Königin Zar Alexej Michajlowitsch als Krönungsgeschenk überbringen ließ. 
Neben diesen effektvollen Prunkobjekten, die das Auge des Betrachters magisch anziehen, sind es einige eher unscheinbare Exponate, aus denen sich tiefere Einblicke in die russische Geschichte gewinnen lassen: Da ist der Reisebericht des Gesandten Sigismund von Herberstein, der im Auftrag der Habsburger Krone zweimal nach Polen und in das Moskauer Reich reiste (1516-1518 und 1526/27). Mit seinem Handbuch, dem der erste bekannte Stadtplan Moskaus beigefügt ist, hat Sigismund von Herberstein das europäische Rußlandbild nachhaltig geprägt. Ähnliches gilt für den Reisebericht des Gelehrten Adam Olearius, der ein Jahrhundert später die Gesandtschaft des Herzogs von Holstein über Moskau nach Persien begleitete. Neben „dem Herberstein“ wurde auch „der Olearius“ zum Standardwerk der europäischen Rußlandkunde. In der Ausstellung werden mehrere Originaldrucke gezeigt. Ein schmuckloses, für den Kenner aber hochinteressantes Ausstellungsobjekt stammt aus der Zeit Iwans III. (1462-1505), unter dessen Herrschaft der Kreml zu einer modernen Residenz ausgebaut wurde. Es handelt sich um den Grundstein der Uspenskij-Kathedrale, in den die Namen der italienischen Baumeister in lateinischen Schriftzeichen eingemeißelt sind. Iwan III. hatte für die Errichtung der orthodoxen Kirchen im Kreml neben einheimischen auch italienische (d. h. andersgläubige) Baumeister verpflichtet. Obwohl sich die Moskauer Kirchenführung rigoros gegen Einflüsse aus dem lateinischen Westen abschottete und eifrig über die Reinheit des orthodoxen Glaubens wachte, wurde die kulturelle Wiedergeburt des Alten Rußland nach der Abschüttelung des Tatarenjochs von einer gleichzeitigen Hinwendung nach Europa begleitet.
Die Kreml-Ausstellung bildet den Schlußpunkt der deutsch-russischen Kulturbegegnung 2003/2004. Im kommenden Jahr wird sich die Bundesrepublik Deutschland in Moskau und St. Petersburg präsentieren. 
Julia aus der Wiesche (KK)

 

„Fröhlich einsam bleibe ich“
Zum 100. Geburtstag des schlesischen „Arbeiterdichters“ Gerhart Baron
Im „Bildungskurier“, Jahrgang 1964, herausgegeben von der SPÖ in Oberösterreich, lesen wir: „Bundespräsident Dr. Schärf verlieh am 15. Februar 1964 dem Archivar der Arbeitskammer für Oberösterreich (in Linz) Gerhart Baron den Berufstitel Professor, vornehmlich für seine Verdienste um die Bibliographie der deutschen Arbeiterdichtung. Diese Auszeichnung ist ein Symbol für den geistigen Aufstieg der Arbeiterklasse.“ Der Begriff des Arbeiterdichters, einer Arbeiterliteratur ist heute kaum noch üblich, aber wie diese Ehrung von Gerhart Baron zeigt, war er bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts sowohl geläufig als auch besonders hoch gewertet.
Gerhart Baron wurde in Kandrzin im Kreise Cosel, einem bekannten oberschlesischen Eisenbahn-Knotenpunkt, als Sohn eines Oberpostschaffners am 7. Mai 1904 geboren. Die nächste Station hieß Hindenburg, es folgten bis zur Einziehung in den Kriegsdienst 1941 Neisse und Oppeln. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde Oberösterreich sein neues Zuhause, nachdem seine Bemühungen, in Bayern Fuß zu fassen, mißlungen waren. In einem Rückblick heißt es: „Neun Jahre Fabrikarbeiter, sechs davon nach der Vertreibung, zuletzt Schichtarbeiter in der Zellwolle AG Lenzig in Oberösterreich, zehn Jahre arbeitslos.“
In Oberschlesien hatte er bereits im Büchereiwesen gearbeitet, wurde dann aber Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Hindenburg, bis ihn seine Freunde, darunter auch der oberschlesische Schulrat Karl Schodrok, nach 1936 wieder in Büchereien in Neisse und Oppeln unterbringen konnten. Zwölf Jahre seines Lebensweges gehörten der Arbeit in Bibliotheken.
In der Besprechung seines ersten Gedichtbandes „Ankunft“ (1944 bei Rütten und Loening in Potsdam) vom 28. November 1944 in der „Schlesischen Zeitung“ in Breslau heißt es: „Storm und Lenau stehen als Schatten hinter diesen Gedichten, doch ist es eine innere Verwandtschaft, keine literarische Verschwisterung oder gar Abhängigkeit. ,Mein Auge, zernächtet und traurig, weiß längst um den uralten Schmerz. / Doch ,Ankunft' heißt meine Fahne, meine Seele durchströmt ein März'. Gerhart Baron ist tief im oberschlesischen Glauben und Aberglauben verwurzelt, im Reich des Wassermannes und der Mora ist er zu Hause. Im ,Altoberschlesischen Flößerlied' ist die Pschiponza, der Gestalt gewordene Hitzeschlag, angesprochen: ,Aufglänzt das Korn, die Grillenwiese singt. / Pschiponza grinst, die uns Verderben bringt'.“
Das erste Lebenszeichen nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte den Schreiber dieses Aufsatzes unter dem 4. Januar 1947 aus Ort im Innkreis, wo Gerhart Baron Zuflucht gefunden hatte; er bangte zu dieser Zeit um seine Frau, die nicht mehr aus Hindenburg hatte fliehen können, von Beruf Pianistin und Musikwissenschaftlerin war, jetzt aber als Kokereiarbeiterin ihr Lebensminimum bestreiten mußte. Die Familienzusammenführung gelang erst 1950. Mit erkennbarem Stolz erwähnt Gerhart Baron in diesem noch mit dem Stempel „Military Censorship“ versehenen Brief, daß Studienrat Günter Bialas, ein später zu Recht berühmt gewordener Professor und Komponist, sieben Lieder von ihm vertont habe, die auch in der Breslauer Aula Leopoldina vorgetragen wurden.
Das dichterische Werk ist nicht umfangreich, leider aber auch schwer zugänglich. Nach den 48 Gedichten unter dem Titel „Ankunft“ erschien 1964 im Verlag Josef Habbel in Regensburg eine Sammlung von 80 Gedichten unter dem Titel „Die Wiedergeburt“. Verstreut findet man Gedichte abgedruckt, so etwa „Jauernig-Johannesberg“ (Sommersitz der Breslauer Bischöfe), das mit den Versen beginnt: „Stumme Blumen pflücke ich, / Keine, die sich wehren könnte. / Kleine Stadt beglückte mich, / Traulich alte, besonnte. / Nichtigkeiten treibe ich, / Fröhlich einsam bleibe ich / In den Gassen, wo das Volk sich staut. / Wie zur Hochzeit einer schönen Braut.“
Gerhart Baron liebte den Reim und rang um das treffende Wort für das innere Bekenntnis. Das Gedicht „Ein Schlesier im Innviertel“ sei mit der ersten Strophe zitiert (obschon die Mehrzahl der Gedichte nicht der Heimat gelten): „Schwermutschwer Geduld zu üben, / Wem Vollendung gilt Gewinn. / Hinter Gärten zieht mit trüben / Wassern dieser Bach zum Inn. / Hinter Wiesen schwingt mit milden / Linien sich der Berg empor. / Alles mahnt mich, den Gefilden / Treu zu sein, die ich verlor.“
Kurz vor seinem 74. Geburtstag ist Gerhart Baron am 7. März 1978 in Linz gestorben. Seine Wurzeln lagen an der Oder in Oberschlesien, im oberösterreichischen Linz an der Donau endete der Weg des „Arbeiterdichters“, der beides gleichermaßen war: Arbeiter und Dichter. Die hohe Auszeichnung mit dem Titel eines Professors wurde bereits zitiert, aber es bleibt zu wünschen, daß Gerhart Baron als Dichter zur Kenntnis genommen und auch gelesen wird.
Herbert Hupka (KK)

 

Ohne Etikett, aber mit Qualitätssiegel
Dem siebenbürgischen Künstler RADU Anton Maier zum Siebzigsten
Der Maler, Grafiker und Buchillustrator RADU Anton Maier ist auf dem Gebiet der Malerei ein Einzelgänger. Bekannt wurde sein OEuvre unter dem Namen RADU, mit dem er seine Arbeiten signiert. Am 2. April 1934 in Kölns heutiger Patenstadt Klausenburg in Siebenbürgen (rumänisch Cluj, ungarisch Kolozsvár) geboren, studierte er an der dortigen Kunstakademie, wurde Assistent seines Professors Aurel Ciupe und hatte bereits mit 26 Jahren seine erste Einzelausstellung.
Es überrascht, daß nach der Klausenbuger Ausstellung weitere in Bukarest, Jassy, Miercurea Ciuc,Temesvar und Arad folgten, obwohl er dem sozialistischen Stil im kommunistischen Rumänien nicht folgte, sondern seinen eigenen künstlerischen Weg ging. 1956 durfte er sogar in Kiew, 1958 in Leningrad ausstellen. Dennoch verließ er 1967 seine Heimat, nachdem er kurz davor mit einer Einzelausstellung in seiner Vaterstadt gewürdigt worden war. Nach wiederholtem Ortswechsel lebt er nun in Fürstenfeldbruck.
Die Qualität seiner Malerei und seine künstlerische Sonderstellung haben ihm auch in der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen eingebracht. In seinen Gemälden begegnet man seiner Phantasie, Traum und Wirklichkeit sowie handwerklichem Können. Nicht zu übersehen, daß seine Tätigkeit als Grafiker, die technische Perfektion erfordert, auch seiner Malerei geholfen hat. Voraussetzung war die gediegene Ausbildung an der Klausenburger Akademie und in den 60er Jahren seine Arbeit im Atelier des Professors Corneliu Baba zu Bukarest. In gegenstandsfreie Gefilde hat er sich nie begeben, machte sich aber die Erkenntnisse seiner „abstrakten“ Kollegen zunutze. Seine Ausstellungserfolge legen dafür Zeugnis ab.
Vergessen hat der Klausenburger Künstler seine alte Heimat nicht. Zu ihr nahm er nach den positiven politischen Wandlungen in Rumänien wieder engen Kontakt auf. 1991 fand in Klasuenburg eine Einzelausstellung statt, 2001 im Brukenthal-Museum zu Hermannstadt. In Klausenburg bereitet das dortige Nationalmuseum eine Monographie vor, und ebenfalls in diesem Jahr findet anläßlich des 70. Geburtstags des Künstlers in Bukarest eine repräsentative Retrospektive statt. Ausstellungen in München und Regensburg sind ebenfalls in Vorbereitung. Die so wichtige kulturelle Ost-West-Brücke wird also auch vom Siebenbürger in Bayern geschlagen. Amüsant, wie man RADU Anton Maier in Hermannstadt anläßlich seiner Ausstellung im Brukenthal-Museum „eingeordnet“ hat: Musemsdirektor Alexandru Lungu nannte ihn einen „rumänischen Maler deutscher Herkunft“, der deutsche Kulturattaché Harald Gerlich einen „deutschen Künstler rumänischer Herkunft“.
Es fällt nicht leicht, RADUs Kunst mit herkömmlichen Stilbegriffen zu etikettieren. Er ist „schwer, wenn überhaupt, in die europäische Kunstszene von heute einzuordnen, ein Umstand, welcher der Notwendigkeit obendrein entbehrt“, meint Erich Pfeiffer-Belli.
RADU geht von der Wirklichkeit aus, die er stets phantasievoll umgestaltet mittels seiner perfekten Technik. Seine Motive und Themen sind das Porträt, die Landschaft, das Stilleben. Und im Rückblick auf seine porträtreiche Zeit daheim äußert sich der Maler: „Beim Porträtieren ging es mir weniger um die Herstellung einer Ähnlichkeit im naturalistischen Sinne als um das Herausarbeiten psychologischer oder charakteristischer Züge.“ Seine Landschaften wurzeln in seiner naturverbundenen siebenbürgischen Heimat, sind aber keinesweg fotografische Wiedergaben. Da wird man mit Pflanzen aller Art konfrontiert: Blumen, Früchten, Zweigen, abgestorbenem Geäst, phantastischen Gestalten, bisweilen menschlichen Gliedern vergleichbar. In seine Landschaften stellt er bisweilen Ruinen, Säulen, Steine wie aus der Antike – Symbole der Vergänglichkeit.
Seine nicht selten surrealistisch anmutenden Gemälde laden den Betrachter zum Mittun ein. Da gibt es auch Landschaften, die die Blicke in weite Horizonte lenken und dabei romantische Gefühle hervorrufen. Eine Sonne als intensiv roter Kreis steht am Himmel, oder sie leuchtet auf einem anderen Acryl-Gemälde in einem hellen Gelb. Die Kompositionen bieten Form- und Farbelemente an, wie sie von den sogenannten abstrakten Malern erfunden wurden. Die Errungenschaften der modernen gegenstandsfreien Künstler gingen an RADU nicht spurlos vorüber. Aber er blieb der Wirklichkeit treu.
Kein Wunder, daß er den Romantiker Capsar David Friedrich und den Surrealisten Salvadore Dali schätzt. Diese Künstler aus Pommern und Spanien und RADU Anton Maier aus Siebenbürgen gehen ja von der Realität und dem Traum aus, verbinden sie jedoch phantasievoll in ganz persönlicher Weise. Ein Jahnhundert der „abstrakten“ Kunst geht zu Ende.Die Suche nach neuen Wegen hat längst begonne, mit nicht allzu großem Erfolg. Das Werk des Siebenbürgers RADU aber ist optimistisch und stimmt ebenso.
Günther Ott (KK)

 

Baltische Impressionen
Pranas Domšaitis im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus
Das Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus und das Lietuvos Dailés Muziejus in Memel/ Klaipeda zeigen eine gemeinsame Ausstellung mit Gemälden von Pranas Domšaitis (geboren 1880 in Cropiens/Bezirk Königsberg – gestorben 1965 in Kapstadt/Südafrika). Der aus Preußisch-Litauen stammende Maler zählte in der Weimarer Republik zu den bedeutendsten Künstlern und war als herausragender Schöpfer von Landschaftsbildern und religiösen Kompositionen bekannt. Er nahm gemeinsam mit deutschen Expressionisten an Ausstellungen in Berlin, Stettin und Königsberg teil. Im „Dritten Reich“ erhielt der litauische Maler – in dessen Geburtsurkunde übrigens die deutsche Form seines Namens, Franz Domscheit, verzeichnet ist – Ausstellungsverbot und übersiedelte 1949 nach Südafrika.
Einige der in Düsseldorf ausgestellten Bilder erinnern an die baltische Heimat Domšaitis', während sich andere – wie „Verkündigung“ (Öl/Karton, 1952) – auf Aspekte des neuen Lebens beziehen.
Im Jahre 2001 ist in Klaipeda die Pranas-Domšaitis-Galerie eingerichtet worden, in der ein Großteil des Nachlasses zu sehen ist. Darüber hinaus beschäftigt sich das Pranas-Domšaitis-Kulturzentrum mit dem Leben und Werk des Künstlers.
Dieter Göllner (KK)

 

KK-Notizbuch

Die Sendung „Alte und neue Heimat“ des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, befaßt sich am 2. Mai mit der EU-Osterweiterung, und am 9. Mai leistet Franz Heinz seinen Beitrag zur „Diskussion Mitteleuropa“.

Hans-Günther Parplies, stellvertretender Vorsitzender des OKR-Stiftungsrates, ist mit überzeugender Mehrheit zum Landesvorsitzenden NRW des BdV wiedergewählt worden.

Das Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf zeigt bis zum 20. Juli die Ausstellung „Die Albertina. 450 Jahre Universität in Königsberg“. Dazu gibt es einen zweisprachigen Katalog, der 1994 im Westkreuz-Verlag erschienen ist.

Die Galerie Schlichtenmaier auf Schloß Dätzingen, Grafenau, veranstaltet bis zum 8. Mai eine umfangreiche Ausstellung mit „Klassischer Moderne“, darunter zahlreichen Werken ostdeutscher Künstler von Käthe Kollwitz über Alfred Kubin bis zu George Grosz und Ludwig Meidner.

Der Maler Hans Laabs, 1915 in Hinterpommern geboren, Schüler von Oskar Moll in Berlin, „Altmeister“ und Schöpfer farbkräftiger, ausdrucksstarker Gemälde, ist in Berlin gestorben.

Grafiken von Kaspar Teutsch, dem 1931 in Kronstadt geborenen Künstler, zeigt die Rathausgalerie Ebersberg unter dem Titel „Begegnungen“.

Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath, in Leipzig geboren, 1938 mit den Eltern nach Rumänien geflüchtet, wo er ins Getto deportiert wurde, nach der Befreiung über die Stationen Palästina, Frankreich und USA schließlich 1975 nach Berlin gelangt, hat an seinem 78. Geburtstag sein literarisches Archiv der Berliner Akademie der Künste geschenkt. Darunter sind zahlreiche Briefe, Werkmanuskripte sowie Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto.
(KK)