KK1183 2004-03-30

Wolf Oschlies: „Exportschlager“ deutsche Sprache (III)
Die zweiköpfigen kaiserlichen Adler wieder in der Aula Leopoldina
Michael Ferber: Briefmarke zum 150. Geburtstag von Paul Ehrlich
Interview mit Sir Peter Ustinov
Christian Schoger: Siebenbürgerin erhält den Leibniz-Preis
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Roswitha Wisniewski: Uwe Johnson und Pommern
Günter Gerstmann: Gerhart Hauptmanns „Weber“ in Jena
Edith Ottschofski: Matei Visniecs Auseinandersetzung mit dem Stalinismus
Vor 100 Jahren wurde der Tenor Joseph Schmidt geboren
KK-Notizbuch

„Exportschlager“ deutsche Sprache (III)
„Fejerverki“ vor Zar Peters „kunstkamera“
Ob russische Frauen das wohl billigen werden? Das Moskauer Journal „Bol'šoj gorod“ (Großstadt) fand am 20. Februar 2004 heraus, daß ein moderner lifcik begrifflich zwar dasselbe wie der klassische bjustgal'ter sei, aber viel erotischer wirke. Und ein bjustgal'ter hieße auch buchgalter.
Was für ein cuš' – kann man da nur seufzen (und die russische Form des deutschen Stuß gebrauchen). Denn bjustgal'ter und buchgalter bedeuten im Russischen exakt das, was sie in ihrer deutschen Herkunftssprache bedeuten: Büstenhalter und Buchhalter. Und das seit Jahrhunderten unverändert, obwohl solche Wörter im Deutschen langsam aussortiert werden. Russen sind da zäher: Seit mindestens 600 Jahren heißen der Frisör bei ihnen parikmacher und der Hut sljapa, welche Wörter es bei uns entweder gar nicht mehr gibt oder nur in Zusammensetzungen wie „Schlapphut“ (und mit der neuen Bedeutung von „Spion“). So oder so ähnlich geht es mit ungezählten Wörtern, von denen die „Nezavisimja gazeta“ (Unabhängige Zeitung) am 17. Juni 1997 eine beeindruckende Kostprobe auflistete – unter dem schönen Titel „Šnicel', šnaps, štol'c“ (Schnitzel, Schnaps, Stolz).
Vor wenigen Monaten feierte das majestätische Sankt Petersburg sein 300jähriges Bestehen, und dabei ergaben sich, abseits der Feiern und fejerverki (Feuerwerke), interessante Lehrstunden zu sprachlichem Transfer. Als der große Russen-Zar Peter (1672-1725) die Stadt 1703 förmlich aus dem Sumpf stampfte, da wollte er „ein Fenster nach Europa hin in des Reiches Feste brechen“. So läßt Puschkin im „Ehernen Reiter“ den Herrscher sinnieren, was in Wirklichkeit wohl pragmatischer ablief: Peter beabsichtigte, den russischen Norden militärisch gegen die Schweden zu sichern und die neue Stadt eher zum Einfallstor für Dinge, Denker und Designer zu machen, die es in Rußland noch nicht gab.
Daß damit gleich fremdsprachige Benennungen importiert wurden, gehört zu den Grundgesetzen kulturellen Transfers, die in Sankt Petersburg schon auf Wegtafeln abzulesen sind: Der Name der Stadt ist deutsch (weswegen sie im Ersten Weltkrieg zu Petrograd umbenannt wurde), ihre Teile sind es nicht minder: Kronštadt, Šlissel'burg, Oranienbaum, Petergof (Peterhof) etc. Die Straßen hießen oder heißen Furštadskaja (Vorstädtische) oder Pocamtskaja (Postamtliche), an den buchty (Buchten) des Wassers stehen verfi (Werften) oder budki (Buden) mit Feuerlöschgeräten, in alten Zollämtern bekamen weiland Importwaren ihren russischen Štempel' (Stempel) und so weiter: Hatte Gogol auch sprachlich recht, als er 1835 das schöne Piter in seiner städtischen Gesamtheit als „akkuraten Deutschen“ empfand?
Zar Peter und die Petersburger hätte man das nicht fragen dürfen. Der Zar warb ab oder kaufte ein, was er kriegen konnte – beispielsweise eine riesige zoologische Sammlung, deren zahllose stuki (Stücke) später der Deutsche Johann Friedrich Brandt (1802-1879) zu einer weltberühmten Exposition ordnete. Seit Peters Zeiten nannten die Bürger die Sammlung nur kunstkamera und just so stellt sich das Museum heute im Internet vor: info@kunstkamera.ru. Daneben erheben sich immer noch die Paläste mit groty (Grotten) im Garten, karcery (Karzer) im Keller, flagstoki (Flaggstöcke) vor Portalen, spicy (Spitzen) auf den Dächern und Uhren mit mehreren ciferblaty (Zifferblättern) auf den Türmen: Deutsches vom fundament bis zur kupol!
Sankt Petersburg war und bleibt gewiß eine Ausnahme, war sprachlich aber nie unrussisch. Sagen wir es so: Zu Zeiten Katharinas der Großen wurden die Besucher der Parks von musizierenden pridvornye egeri (Hofjägern) unterhalten, vermutlich nicht nur nach einem klavirauscug; seit einigen Monaten hat die russische Staatspost eine gewichtige Konkurrenz erhalten – durch die fel'degeri (Feldjäger) der Armee, die dazu durch ihren anspruchsvollen fel'dsluzba befähigt wurden. Die alte Lexik, die seit petrinischen Zeiten so viele deutsche Bestandteile aufweist, lebt nicht nur fort, sie hat sich in neuen Wortfeldern weiterentwickelt und so ihren standort im modernen Russisch gefestigt. Und das Schönste daran ist, daß sich kein Russe aus sprachpuristischem Eiferertum darum schert! Was immer an neuen deutschen Benennungen auftauchte, wurde von Russen auf unauffällige Weise vereinnahmt: Früher war das deutsche Parlament der rejchstag, heute der bundestag, vormals hieß der Gegner vermacht, heute heißt der Partner bundesver, und so geht es vielfach weiter, was für Russen völlig natürlich ist.
Umgekehrt kam die russische Sprache nach 1945 in der pervertierten Form des „Moskauderwelsch“ (Karl Kraus) in die Länder Osteuropas, und die Auswirkungen dieser parteilichen Sprachkonvention auf die jeweiligen Nationalsprachen war auch nicht dazu angetan, Liebe und Verständnis für die Sprache Puschkins zu wecken. Das galt vor allem für die DDR, was um so bedauerlicher war, als mit Wolfgang Steinitz (1905-1967) ein exzellenter Fachmann bereitstand, der diese Gefahren frühzeitig vorausgesehen hatte und ihnen rechtzeitig begegnen wollte. All das ist heute weder vergessen noch verschmerzt, aber auch nicht weiter hinderlich, wenn man deutsch-russischer Wechselseitigkeit entlang sprachlicher Transfer-Koordinaten nachspüren möchte. Dieser Ansatz untersucht die Sprache als Medium von Normen, Werten, Systemen, Strukturen, Techniken etc., die ein Volk von einem anderen übernimmt bzw. über die Sprachkonventionen eines dritten Volks empfängt. Derartige Übernahmen führen keinesfalls zu Rangveränderungen der beteiligten Sprachen in der Weise, daß plötzlich das Deutsche höherwertig, überlegen würde. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde so etwas als unvermeidlich vorausgesetzt: Die Deutschen sind kreative Alleskönner, die Slawen unfähige Taugenichtse – die den Deutschen so gut wie alles verdanken (wie zahllose Germanismen in ihren Sprachen verraten), ihnen aber für nichts danken. Derlei nationalistischer Unsinn liegt hinter uns, und inzwischen wissen wir: Selbst wenn das Deutsche höherwertig sein wollte, es könnte es gar nicht: Die gebende Sprache ist immer die passive, während die nehmende Sprache souverän auswählt, was sie übernimmt, wie sie es einsetzt, verändert, in eigene Sprach- und Sachstrukturen einfügt.
Die problemlose Natürlichkeit des deutsch-russischen Sprachtransfers birgt natürlich ein sprachhistorisches Datierungsproblem. Es geht uns dabei wie Numismatikern, die eine Datierung von russischen „Tropfenkopeken“ versuchen und schon glücklich sind, wenn sie auf den Befund „14. bis 15. Jahrhundert“ kommen. Wann dürfte wohl die russische Interjektion uvy aufgekommen sein? Vermutlich wurde sie vor Jahrhunderten dem ersten O-weh-Geschrei des ersten Deutschen in Rußland abgelauscht. Und präziser können wir zahllose weitere Wörter nicht bestimmen – von denen wir nur wissen, daß sie erstens uralt und zweitens in unverändert alltäglichem Gebrauch sind: buterbrod, vachter, vunderkind, rampa, rjuksak, tjurma, forma (Uniform), straf, galstuk (Halstuch, also Krawatte), jarmarka (Jahrmarkt, also Messe), rejtuzy (Reithosen) etc. Bis wann wurden deutsche Übeltäter in einen „Turm“ geworfen? Im Russischen besteht tjurma fort – in der Bedeutung von „Gefängnis“. Und wenn Lehnwörter ihre Bedeutung wandeln, dann tun sie es im Russischen im Gleichschritt zum Deutschen: Hier wie dort waren „Schleuse“ oder sljuz als Wort und Begriff dasselbe, wie sie heute auch für Türfilter in bakteriologischen Forschungsstätten stehen.
Mit der deutschen Sprache gehen Russen mitunter betont lakonisch um: Schon vor Jahrhunderten machten sie aus dem deutschen „Instrument“ ihr strument und benutzten es als Synonym für „Werkzeug“. Neuerdings haben sie den deutschen „Nestbeschmutzer“ zum russischen besmutcer verknappt. Und was gar die Wortverwendung betrifft, so geht das Russische manchmal verschlungene Wege: Was immer z. B. ein „Anschlag“ im Deutschen bedeuten kann – Anschlag auf jemanden, auf dem Klavier oder der Schreibmaschine, am Schwarzen Brett etc. –, wird im Russischen nicht nachgemacht; anslag bedeutet hier einfach volles, ausverkauftes Haus, egal ob für einen Sportverein oder für eine Oper. Andererseits ist der russische durslag wie der deutsche „Durchschlag“ eine lästige bürokratische Pflichtübung.
Diese größeren oder kleineren Bedeutungswandlungen sind per se interessant, werden aber überboten von dem souveränen Esprit, mit dem die russische Presse mitunter Germanismen einsetzt. Als Putin im August 1999 plötzlich russischer Premier wurde, präsentierte sie ihn als klonprinc, was erheblich tiefgründiger als etwa Kronprinz war, zudem ein bezeichnendes Licht auf Jelzins Rolle bei dieser Inthronisierung warf. Als Putin später zur Präsidentschaft ansetzte, durchforstete man die gesamte deutschsprachige Zeitungslandschaft Europas (“...bis Liechtenstein“) nach Urteilen über ihn, fand überwiegend positive und stellte diese Funde unter den lakonischen Titel obermens. Als Präsident Putin erstmalig Visite in Berlin machte, erblickte man darin eine Rückkehr ins Vaterland. Und als schließlich unübersehbar wurde, daß Präsident Putin politische Entscheidungen am liebsten der altgedienten Kaste überließ, der in ihren hergebrachten Sesseln sitzenden zic-fronda, da avancierte Putin umgehend zum zic-prezident.
Was also bleibt seit Peter dem Großen? Deutsch lebt bei den Russen in keiner nisa (Nische), es ist quicklebendig und wird immer mehr – trotz traur und blickrig in jüngerer deutsch-russischer Vergangenheit. Mag Englisch auch in der Wirtschafts- und Computerterminologie momentan stärker präsent sein, generell und im historischen Vorlauf ist Deutsch den Russen vertraut, seit ihre Vorfahren erstmalig einen plug (Pflug) in den Acker setzten, um von diesem dann allerlei frukty zu ernten. Und da es heute und in Zukunft kaum noch einen slagbaum zwischen Deutschen und Russen gibt und auch anderweitig die kircha im Dorf gelassen wird, wird uns (fast) jeder kommende Tag sprachliche und andere Begegnungen der schönsten Art bescheren. Etwa im diesjährigen Karneval, als in Köln und Mainz Narren, in russischen Städten aber laufar'i (Läufer) mit ihren larvy fröhliches Chaos verbreiteten.
Wolf Oschlies (KK)

 

Die Zweiköpfigen kehren zurück
An der Tür zur Aula Leopoldina der Breslauer Universität wird mit den kaiserlichen Adlern die heraldische Wahrhaftigkeit wiederhergestellt

Der schlesische und der jagellonische Adler befinden sich schon im Museum. An ihrer Stelle erscheinen in Kürze an der Tür der Leopoldinischen Aula die zweiköpfigen kaiserlichen Adler. Warum?
Die Tür zur Aula war in fatalem Zustand. Das Schnitzwerk war abgefallen, der rechte Flügel verzogen, so daß er nicht mehr geschlossen werden konnte. Die Uni plante ihre Konservierung im Zusammenhang mit der Erneuerung der gesamten Aula, aber man konnte nicht länger warten. Die Tür ging also zur Renovierung, und an ihre Stelle wurde eine neue eingesetzt, mit einer Tapete beklebt ...
“Nun entstand die konservatorische und historische Frage: Soll das wichtigste Element ihrer Dekoration, die zweiköpfigen Adler, die einst die Tür geschmückt haben, wiederhergestellt werden oder nicht?“ erzählt Dr. Lukasz Krzywka, der Bevollmächtigte des Rektors zu Fragen der Denkmalpflege. „Während der Vorbereitungen zum 300jährigen Jubiläum der Universität haben uns einige deutsche Historiker Geschichtsfälschung vorgeworfen, denn an der Tür zur Aula befanden sich seit Jahrhunderten die österreichischen Adler. Sie haben den Krieg überdauert, sogar zu Hitlers Zeiten wurden sie nicht entfernt, und zur Zeit der Volksrepublik Polen sind sie verschwunden.“
„Wie verschwunden, und wo befinden sie sich jetzt?“
„Das ist die Frage! Ich habe versucht sie ausfindig zu machen, bisher vergebens. Höchstwahrscheinlich sind sie um die Wende der 40er zu den 50er Jahren während der ersten Wiederherstellung der Aula entfernt worden. An ihrer Stelle erschienen neue Adler: auf der einen Seite der schlesische, auf der andern der jagellonische. Im Archiv fand ich den Bericht eines der Ausführenden. Er sagt, daß er die neuen Adler nach einem Entwurf des Kunsthistorikers Professor Marian Morelowski angefertigt habe. Das waren merkwürdige Adler: auf dem Band des schlesischen war kein Kreuz, und der polnische hatte keine Krone. Erst später wurden die Wappenbilder vervollständigt. Nach dem Krieg wurde die Tür einige Male konservatorisch behandelt, zuletzt 1982. Fast ein halbes Jahrhundert war die Frage der hinzugefügten Adler nicht so heikel wie jetzt, wo die Universität zu ihren Anfängen zurückkehrt und ihr 300jähriges Bestehen feiert. Wenn es so ist, dann muß man der historischen Wahrheit treu bleiben.
Und die Wahrheit ist folgende: Die zweiköpfigen Adler mit den Initialen „L I“, das ist Leopoldus Primus, die zusammen ein „U“, den ersten Buchstaben von „Universitas“, bilden, waren anfänglich das Wappen der Breslauer Jesuitenuniversität, erklärt Dr. Krzywka. 1741 schrieb der Breslauer Arzt Kundmann, die Adler seien der Universität als „Akt der Gnade Seiner Kaiserlichen Majestät“ verliehen worden. Man kann sie an vielen Stellen dieses Barockgebäudes wiederfinden. Wiederhergestellt werden also nicht die kaiserlichen habsburgischen Adler, sondern das ursprüngliche Wappen der Universität.
Die Barockadler wurden nicht wiedergefunden. Daher mußten sie anhand fotografischer Dokumentation rekonstruiert werden. Sehr gute Fotos des „Zweiköpfigen“ an der leopoldinischen Tür befinden sich im Herder-Institut in Marburg. Die Renovierung wird etwa 6000 Euro kosten. Die Ausschreibung hat die Konservierungsfirma von Marta Zukowska-Bosa gewonnen. Die Tür soll am 15. April fertig sein, also kurz vor dem Treffen der Ehrendoktoren der Universitäten Breslau und Oppeln.
(Übersetzung aus „Gazeta Wyborcza“, Breslau, vom 9. Februar 2004)
(KK)

 

Werner Bader zeigt Kirchen im Havelland
Der Journalist und Buchautor Werner Bader, Vorstandsmitglied der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, der nach der Wende in seine brandenburgische Heimat gezogen ist, hat in Görne die „Galerie im Grafenstall“ gegründet, wo am Himmelfahrtstag eine Fotoausstellung über Kirchen im Havelland eröffnet wird.
Die Ausstellung, die derzeit in Vorbereitung ist, umfaßt Fotos von 118 havelländischen Kirchen, zusätzlich eine Reihe von interessanten Innenaufnahmen.
Der Bilderreigen beginnt mit der Kirche in Bahnitz und endet mit der in Zollchow. Natürlich ist die Rathenower Sankt Marien-Andreas-Kirche mit und ohne Turmspitze zu sehen.
Fotografiert hat Torsten Lemke von den Rathenower Fotofreunden, der auch für die „Märkische Allgemeine“ tätig ist. Einige Maler haben Arbeiten mit kirchlichen Motiven zur Verfügung gestellt.
Maler der Region sind zudem aufgerufen, sich an dieser Schau zu beteiligen. Gesucht werden außerdem Kirchenmodelle, die in der Ausstellung gezeigt werden können (Tel. 03 32 35 / 2 29 11). Alte Kirchenfotos werden auch käuflich zu erwerben sein.
Die theologische Beratung bestreitet Pfarrer Martin Heinze, der ab dem 1. April 2004 die Kirchengemeinde Görne betreuen wird und auch zur Eröffnung am 20. Mai eine kirchliche Andacht hält.
(KK)

 

55 x 32,80 mm Gedenken an Paul Ehrlich
Die Deutsche Post erinnert mit der Herausgabe einer Briefmarke an den 150. Geburtstag des Mediziners und Arzneimittelforschers

Am 11. März 2004 erinnert die Deutsche Post mit der Herausgabe einer Briefmarke an den 150. Geburtstag des Mediziners und Arzneimittelforschers Paul Ehrlich, der 1854 in Schlesien geboren wurde.
In Strehlen bei Breslau erblickt er am 14. März 1854 das Licht der Welt, seine Eltern sind die Kaufsmannstochter Rosa geb. Weigert und der jüdische Likörfabrikant Ismar Ehrlich. Sie betreiben eine Gastwirtschaft mit Likörbrennerei und Lotterieannahmestelle. Sohn Paul besucht zunächst in Breslau von 1864 bis 1872 das Sankt Maria-Magdalena-Gymnasium, dem sich von 1872 bis 1877 ein Medizinstudium an den Universitäten Breslau, Straßburg, Freiburg und Leipzig anschließt. Es folgt 1878 die Promotion in Leipzig, die Dissertation trägt den Titel „Beiträge zur Theorie und Praxis der histologischen Färbung“ und enthält u. a. die Entdeckung der Mastzellen. Er wird Assistent und später Oberarzt an der Charité in Berlin. Dort schafft er mit der Einfärbung von Blutkörperchen die Grundlagen der modernen Hämatologie. 1882 beginnt seine Zusammenarbeit mit Robert Koch. Die Forschungen auf dem Gebiet der Farbstoffe (Färbung von bakteriellen Erregern) sind wesentliche Beiträge zur Diagnostik von Blutkrankheiten, er befaßt sich mit Vitalfärbung mittels Methylenblau und wird 1884 mit dem Professorentitel ausgezeichnet.
1883 heiratet er die Industriellentochter Hedwig Pinkus, mit der er zwei Töchter hat. 1887 wird er Privatdozent für innere Medizin an der Universität Berlin, der Titel seiner Habilitationsschrift lautet „Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus. Eine farbenanalytische Studie“. 1889 nimmt er Abschied von der Charité für einen längeren Aufenthalt im Süden, in Ägypten und anderen Ländern, u. a. wegen einer Lungentuberkulose, die er sich im Laboratorium zugezogen hat.
Von 1890 bis 1895 arbeitet er mit Emil von Behring zusammen. Es ist der Beginn der Immunitätsforschung mit der Entwicklung wirkungsvoller Immunisierungsprotokolle zur Gewinnung von Heilsera. Aus seinen Beobachtungen bei der Erforschung der Wirkung von Sera und Toxinen entsteht die Seitenkettentheorie als erstes konsistentes Konzept der Immunologie.
Von Robert Koch wird er 1891 an das neu gegründete Institut für Infektionskrankheiten in Berlin (Robert-Koch-Institut) berufen. Er beschäftigt sich mit der Gewinnung von Diphtherieserum, seiner Konzentrations- und Wertbestimmung. Dabei geht es um die Schaffung einer international anerkannten Maßeinheit. Es folgen erste Schritte in der Chemotherapie beim Einsatz von Methylenblau zur Malariatherapie am Klinikum in Moabit, später Versuche mit Trypanrot, beides bleibt ohne Erfolg. 1896 wird er auf Vorschlag des preußischen Ministerialdirektors Althoff zum Leiter des neu geschaffenen Instituts für Serumprüfung und Serumforschung in Steglitz bei Berlin berufen. 1899 folgt der Umzug des Berliner Instituts nach Frankfurt. Ehrlich übernimmt die Leitung des jetzt Königlichen Institutes für experimentelle Therapie, dem auch die staatliche Kontrolle der im Handel befindlichen Heilsera anvertraut wird.
Paul Ehrlich ist einer der ersten Wissenschaftler, die sich 1901 mit der Krebsforschung befassen, 1902 läßt er auf eigene Kosten eine Abteilung für Krebsforschung einrichten. 1903 wird er mit der preußischen Großen Goldenen Medaille für Wissenschaft, mit der vor ihm nur Rudolf Virchow ausgezeichnet worden ist, geehrt. 1904 beginnt er mit Arbeiten zur experimentellen Chemotherapie von Trypanosomeninfektionen. Am 11. Dezember 1908 wird ihm der Nobelpreis gemeinsam mit Elia Metschnikow, dem Entdecker der Phagozytose, zuerkannt.
1909 wird das Salvarsan als Mittel zur Behandlung von Syphilis entdeckt. Wichtigen Anteil an diesem Erfolg hat Sachahiro Hata, Paul Ehrlichs japanischer Mitarbeiter im Labor. Es folgt 1910 der Beginn der Chemotherapie von Syphilis mit Salvarsan.
1911 erhält Paul Ehrlich die höchste zivile Auszeichnung des preußischen Staates, die Ernennung zum „Wirklichen Geheimen Rat“ mit dem Prädikat Exzellenz, es folgt 1914 die Ernennung zum Ordinarius an der neuen Frankfurter Universität. Nach schwerer Krankheit stirbt der unermüdliche Forscher am 20. August 1915 in Bad Homburg. Auf dem israelitischen Friedhof in Frankfurt am Main findet er seine letzte Ruhestätte.
Im Mehrfarbenoffsetdruck ehrt die Deutsche Post damit einen weiteren Wissenschaftler aus Schlesien. Die Marke zeigt neben einem Porträt von ihm das Porträt des in Westpreußen geborenen Wissenschaftlers Emil von Behring, der mit Paul Ehrlich eng zusammenarbeitete. Der Entwurf der Marke stammt von Ursula Maria Kahrl aus Köln, die Marke wird bei der Giesecke & Devrient GmbH in Leipzig auf DP-2-Papier im Format 55 x 32,80 mm hergestellt und trägt die Wertstellung von 1,44 Euro.
Michael Ferber (KK)

 

„Die Zweifel halten die Menschheit zusammen“
Im Interview Sir Peter Ustinov, ein „Mensch der Vereinten Nationen“, niemals Politiker, immer politisch

Wenigen ist bekannt, daß die Wurzeln des berühmten Schauspielers Sir Peter Ustinov in den Kern der deutsch-russischen Beziehungen hineinreichen, da die Familie seines Vaters viele Generationen in St. Petersburg gelebt hat und der Künstler seine Weltläufigkeit heute noch auf diesen Ursprung bezieht, den man lange verschüttet glaubte. Timo Fehrensen hat aus dem gerade erschienenen Buch: „Die Zweifel halten die Menschheit zusammen“. Henning von Vogelsang und Timo Fehrensen im Gespräch mit Sir Peter Ustinov. Gerhard Hess Verlag, Ulm 2003, einen Auszug für uns zusammengestellt.

Sir Peter Ustinov, getauft in Schwäbisch Gmünd, aufgewachsen in England, lebend in der Schweiz. Hat ein solcher Mensch ein Nationalgefühl?
Ich bin wirklich ein Mensch der Vereinten Nationen. Ich empfinde Grenzen nicht als solche. Insofern ist es auch für mich widersinnig, mich einer bestimmten Nation zurechnen zu wollen. Ich habe gute Verbindungen zu Deutschland, ich habe viel in England gearbeitet, auf der ganzen Welt. Dennoch ist es für mich unglaubwürdig, wenn ich mich als Patriot irgendeines Landes fühlen sollte.
Wie verhält sich der Kosmopolit zu den Entwicklungen dieser Tage?
Ich habe vor kurzem einen Lehrstuhl gegen Vorurteile ins Leben gerufen. In Budapest ist bereits eine erste Stelle gegründet worden. Gemeinsam mit den Professoren bemühe ich mich, nicht nur akademisch dieses Feld zu erforschen, sondern zugleich aktiv gegen die verheerenden Auswirkungen jeglicher Vorurteile anzugehen. Ein Nationalismus, wie er in diesen Tagen in den USA stattfindet, ist wirklich erschreckend. Ich habe immer gesagt, daß ich niemals einen Fahneneid leisten könnte. Ich wüßte ja nicht, ob nicht etwa George W. Bush die Fahne halten würde. Insofern ist es für mich ziemlich schauerlich, was da stattfindet.
Was kann der Künstler, was kann vor allem der Essayist Ustinov dagegen tun?
Ich habe nie gehofft, mit meinen Arbeiten irgend etwas verändern zu können. Ich habe mich stets zu Wort gemeldet, tue dies in vielen Zeitungen auch heute noch. Aber ich weiß, daß ein solches Engagement letztlich keine konkreten Folgen haben kann. Deswegen versuche ich jetzt gerade durch meine Arbeiten, wie ich es momentan mit den Universitätseinrichtungen gegen Vorurteile versuche, etwas Positives zu erreichen. Und gerade in Deutschland findet meine Stiftung großen Anklang. Hier ist es letztlich ein Werk der einzelnen Menschen, positive Ideen fortzusetzen.
Sie haben in Filmen wie etwa in „Romanoff und Julia“ durchaus auch politische Satire präsentiert. Gleichwohl sind Sie ein eher unpolitischer Künstler. War das beabsichtigt?
Ich habe mich zu Wort gemeldet, wenn es nötig gewesen ist. Ich habe beispielsweise Michail Gorbatschow schon zu einer Zeit unterstützt, als dies von vielen noch sehr kritisch beäugt wurde. Ich habe von Anfang an gewußt, daß sein Weg der richtige ist. Ich habe ihm vertraut, als dies noch sehr wenige getan haben. Letztlich hat er gezeigt, daß man sehr wohl in einem starren System Positives anstoßen kann, wenn man den nötigen Willen dazu hat. Freilich war er da ein Ausnahme-Politiker.
Und Sie selbst: Sie haben niemals Politiker werden wollen?
Wissen Sie, ich hatte kein Interesse daran, ständig Recht haben zu müssen. Ich schätze Persönlichkeiten, wie etwa den früheren kanadischen Premierminister Pierre Trudeau, der eine sehr unkonventionelle Art zu agieren hatte. Aber im allgemeinen halte ich mich von diesem Geschäft gerne zurück.
Gibt es weitere vorbildliche Politiker für Sie?
Beispielsweise noch Nelson Mandela. Es waren letztendlich drei Menschen, Bischof Tutu, Kofi Annan und eben Mandela, die dafür gesorgt haben, diesem von Aids, Kriegen und Hungersnöten geplagten Kontinent so etwas wie Hoffnung zu geben.
Sie leben seit vielen Jahren in der Schweiz, reisen nach wie vor viel in der Welt. Was kann Ihre Arbeit als UNICEF-Botschafter bewirken?
Ich habe vier Kinder, die alle mehr oder weniger intelligent und mehr oder weniger erfolgreich sind. Ich habe dem Schicksal dankbar zu sein, vier solche prachtvolle Kinder zu haben. Eine solche Erfahrung muß man weitergeben. Von daher ist es mir sehr wichtig, gerade in einer solchen Aktion wie UNICEF tätig geworden zu sein, für die ich nun schon seit Jahrzehnten arbeite.
Der Weltbürger Sir Peter Ustinov wird aber wohl nicht überall verstanden?
Das ist durchaus richtig. Gerade Kinder sprechen ja nicht auf der ganzen Welt Deutsch, Englisch oder Französisch. Also habe ich mir das Bellen angewöhnt. Denn wenn man Kindern in einem solch spielerischen Tonfall gegenübertritt, dann können sie von vornherein schon mal kein allzu großes Mißtrauen schöpfen. Und die Hundelaute wirken nun mal am besten. (Er lacht.)
Sie selbst waren fast den gesamten Zweiten Weltkrieg hindurch Soldat. Was hat Sie diese Erfahrung gelehrt?
Ich habe vor allen Dingen erfahren, wieviel Beschränktheit es im Militär geben kann. Wenn man mit Bajonetten in Sandsäcke stoßen muß und dann von seinen Vorgesetzten zu hören bekommt, daß nur ein toter Deutscher ein guter Deutscher sei, da kommt man schon ins Nachdenken. Wer jemals die Stupidität mancher Militärs erfahren hat, der kann nicht ernsthaft glauben, daß Kriege oder militärische Einrichtungen der Zivilisation der Menschheit dienen.
Gleichwohl haben Sie im Krieg Propagandafilme gedreht.
Na ja, Propagandafilme. Wir haben damals das deutsche Beispiel des „Ohm Krüger“ gesehen. In diesem Film wurde Königin Victoria ständig besoffen dargestellt, und der junge Churchill hat seinen lüsternen Hunden Fleischstücke zugeworfen. Das war ja nun eher ein Witz. Da wollte ich wenigstens etwas Humor darin verwenden, um harmlose Filmchen für das Militär zu drehen. Gleichwohl hat auch das englische Militär nicht viel mehr Humor gehabt als das deutsche. Nachdem ich einen Film gedreht hatte, war ich gespannt auf das Urteil des Kommandeurs. Statt mir etwas zu sagen, ging er in den Vorführraum, um dem Techniker zu dem gelungenen Streifen zu gratulieren. Soviel zu der Intelligenz des gewöhnlichen Militärs.
Sie haben sich mittlerweile sehr auf die Musik konzentriert, gehen auf Tourneen mit Orchestern, lesen eigene Novellen zu Klängen von Beethoven oder Mussorgski. Ist das eine Flucht vor der Politik?
Absolut nicht. Aber viele meiner Vorfahren waren Musiker. Meine Mutter, eine sehr bekannte Bühnenbildnerin, hat mich dafür begeistert, Schauspieler zu werden. Und die Arbeit mit den Orchestern ist stets interessant, zumal wenn ich die Möglichkeit habe, eigene Texte zu bereits berühmten Werken zu schreiben.
Nach wie vor gibt es den Anti-Deutschland-Reflex in England: Wie geht der englische Staats- und Weltbürger Ustinov damit um?
Manche Engländer sind verblüfft, wenn ich ihnen erkläre, daß auch Deutsche eine sehr spezielle Art von Humor haben. Glauben möchten sie das nicht immer, aber da gibt es sehr viele dumme Meinungen, zumal wenn sie in einem Blatt verbreitet werden wie der „Sun“ des perfekten Opportunisten Rupert Murdoch, eines australischen Staatsbürgers, der, um Steuern zu sparen, Amerikaner wurde. Und an der Wahrheit ist dieser Mensch bestimmt nicht allzu interessiert. Es gibt nach wie vor sehr viele dumme Pamphlete in dieser Richtung. Aber allzu ernst zu nehmen sind diese nicht mehr.
Wie stehen Sie zum heutigen Rußland? Es gibt viele intellektuelle Kritiker, die dem russischen Präsidenten Putin, und das gewiss nicht zu Unrecht, seine brutale Vorgehensweise in Tschetschenien vorwerfen.
Ich würde mich freuen, wenn diese Leute, diese Philosophen, mit genau demselben Ernst die Entwicklungen in Israel kritisieren würden. Dort wird seit über einem halben Jahrhundert brutal gekämpft. Dort finden auf beiden Seiten nach wie vor sehr schlimme Aktionen menschenrechtsverletzender Art statt. Aber von den Putin-Kritikern kommen nur sehr wenige auf die Idee, diese Politik zu kritisieren. Ich habe Putin vor einiger Zeit erlebt. Er ist ein sehr unprätentiöser Mann, der mir gewiß nicht unsympathisch ist.
Wenn man die Situation gerade in Nahost beobachtet, kann man dann immer noch Optimist sein?
Natürlich kann man Optimist sein. Denn ich glaube, mehr oder weniger intelligente Leute sind pragmatisch genug, ihre Meinung zu ändern. Ich glaube, daß die ganze Haltung von Scharon auf einer Tatsache basierte, nur nicht, daß er aufgrund seiner Mentalität in der Opposition sein würde. In der Regierung ist er jetzt in eine ganz andere Politik eingebunden. Ich habe diesen Mann einmal beobachtet, sogar in einem Hotel in Tel Aviv für ihn Platz gemacht für ihn am Frühstückstisch. Er hat mich nicht einmal beachtet. Bis heute bedauere ich, daß ich ihm kein Bein gestellt habe. Das ist eine der verpaßten Gelegenheiten der Weltgeschichte.
(KK)

 

Siebenbürgerin mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet
Mit 1,55 Millionen Euro ist der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der höchstdotierte Forschungspreis. Zu den elf diesjährigen Preisträgern gehört die in Heidelberg forschende Neurobiologin Hannah Monyer, geboren am 3. Oktober 1957 in Großlasseln, Siebenbürgen, Rumänien.
Den Preis erhält die Neurobiologin für ihre Forschungsarbeit auf dem Feld der molekularen Grundlagen der Gehirnaktivitäten. Monyer untersucht, wie sich Nervenzellen im Verbund zeitlich aufeinander abstimmen, so daß im Gehirn zusammenhängende, sinnvolle Bilder der Außenwelt entstehen. „Zum Nachweis neuronaler Aktivität führte sie ein gentechnisches Verfahren ein, durch das bestimmte Nervenzellen ein fluoreszierendes Eiweiß abgeben“, heißt es in der Pressemitteilung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und weiter: „An ihren Arbeiten besticht besonders der integrative Ansatz, bei dem modernste molekularbiologische Techniken mit systemphysiologischen Ansätzen verbunden werden.“
Seit dem Mai 1999 leitet Professor Dr. Hannah Monyer als Ärztliche Direktorin die Abteilung Klinische Neurobiologie der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg. In Heidelberg hatte sie bereits ihr Medizinstudium absolviert und promoviert, ehe die Stationen Mannheim, Lübeck und Stanford/Kalifornien folgten. Entgegen der in der Pressemeldung der Deutschen Forschungsgemeinschaft formulierten Identifikation als „gebürtige Rumänin“ bezeichnet sich Hannah Monyer selbst als Siebenbürger Sächsin aus Rumänien. In Großlasseln geboren, besuchte sie ab dem 14. Lebensjahr das Spezialgymnasium mit englischer Unterrichtssprache in Klausenburg. Den multiethnischen Austausch jener Jahre empfindet sie noch heute als prägend: „Für mich bedeutet es einen großen Reichtum, in Siebenbürgen geboren zu sein.“ 1975 siedelte ihre Familie in die Bundesrepublik aus.
Die ihr als Leibniz-Preisträgerin zuerkannte Fördersumme von 1,55 Millionen Euro beabsichtigt die Neurobiologin in den Aufbau zweier Nachwuchsgruppen mit jeweils fünf bis sechs Wissenschaftlern (Elektrophysiologen und Verhaltensforscher) zu investieren. Hochtechnologisches For-schungsgerät ist besonders teuer, so daß das Preisgeld sehr willkommen ist.
Christian Schoger in der „Siebenbürgischen Zeitung“ (KK)

 

Bücher und Medien

Kommunistischer Abenteurer, Kuchenbäcker und Poet dazu
Walter Fähnders / Andreas Hansen (Hgg.): Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer. Franz Jung in der Literaturkritik 1912-1963. Aisthesis, Bielefeld 2003, 540 Seiten, 65 Abb., geb. 50 Euro

Der kommunistische Schriftsteller Franz Jung war Börsenspekulant, Säufer und Weiberheld, gläubiger Katholik und Oberschlesier aus Neisse in Oberschlesien, wüster Randalierer in einer schlagenden Verbindung, Klavierspieler im Kinotheater, Versicherungsbetrüger, Parkbankschläfer, Kartoffelschäler und Tellerwäscher. Er war Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, entführte einen Fischdampfer nach Murmansk, wurde von Lenin in Moskau empfangen und saß in Spandau in Festungshaft. Neben George Grosz, John Heartfield, Erwin Piscator und Richard Huelsenbeck hat er als Gründungsvater des Dadaismus zu gelten. Franz Jung leitete die Zündholzproduktion in Nowgorod, war blinder Passagier, Emigrant, immer wieder inhaftiert, Kuchenbäcker für die italienische Landbevölkerung und verfaßte quasi zwischendurch 30 Bücher: Dramen, Romane, Reiseberichte und manches andere mehr.
Franz Jungs Leben war unstet, verwegen, rastlos und schräg bis zu seinem Tode 1963, aber seine so schillernde, widersprüchliche und irrlichternde Biographie sorgte zumindest dafür, daß er als eines der Enfants terribles der zwanziger Jahre nicht völlig in Vergessenheit geriet. Das Zeugnis von Fritz J. Raddatz: „Franz Jung – einer der unbekanntesten und lesenswertesten Autoren deutscher Sprache in der ersten Hälfte dieses Jahrhundert“, ist nachdrücklich zu unterstreichen. Gleichwohl setzte eine Renaissance der Werke Jungs durch Lektüre bislang nicht ein – trotz einer liebevoll edierten vierzehnbändigen Werkausgabe im freilich eher unauffälligen Hamburger Nautilus-Verlag.
Immerhin ist Franz Jung Gegenstand der Verehrung einer besonders umtriebigen „Gemeinde“, die sich um den Osnabrücker apl. Prof. Walter Fähnders und den Berliner Literaturwissenschaftler Andreas Hansen gruppiert. Von ihnen liegt nun eine editorische Spezialität vor, die nur wenigen Dichtern zuteil wird. Wer nicht seit jeher zu den oberen Zehntausend der Belletristik zählt, benötigt schon viel Glück und in aller Regel auch die oben angesprochene „Gemeinde“, um dereinst mit einer Werkausgabe zu neuem Ansehen zu gelangen. Im Fall Jung: erfolgt. Glücklicher noch darf sich schätzen, wer es zu einer Personalbibliographie aller veröffentlichten Werke schafft. Im Fall Jung: gleichfalls erfolgt. Fähnders und Hansen aber verhalfen nun Franz Jung zu einer Textsammlung, die sämtliche greifbaren Rezensionen, die zu Lebzeiten Jungs erschienen sind, nicht allein nachweist, sondern im Volltext sammelt und als chronologisch sortierten Nachdruck bündelt. Zu 30 selbständigen Publikationen Jungs fanden sich mehr als 300 Besprechungen – und das Kalkül der Herausgeber, auf dieser rezeptionsgeschichtlichen Welle das Interesse an Jung zu befördern, dürfte womöglich aufgehen. „Mit dem stark biographischen Interesse an Jung einher gingen lange Zeit auch Desinteresse und Abwertung seines literarischen Oeuvres“, heißt es im Nachwort der Herausgeber; die Kritiken der Werke Jungs aber sind so lesenswert, daß Neugierde auch bei dem alsbald einsetzen dürfte, der nie zuvor etwas von Jung gelesen hat. Hierfür garantieren freilich auch die Qualitäten der Rezensenten wie Kurt Hiller, Kurt Pinthus, Robert Musil, Alfred Wolfenstein, Otto Flake, Walter Semer, Franz Pfempfert, Max Herrmann-Neisse, Oskar Loerke, Wieland Herzfelde, Kasimir Edschmid, Hans Sahl und Julius Bab.
Das Spektrum der Presse ist politisch breit, die Urteile über Franz Jungs Schaffen reichen von verzückter Begeisterung bis hin zu gehässiger Ablehnung. Die mal knappen, mal ausufernd ausführlichen 300 Rezensionen, Buchankündigungen, Verlagsanzeigen, Klappentexte und Nekrologe belegen die Beachtung Jungs über einen Zeitraum von immerhin 50 Jahren hinweg – und wie zumeist ist auch diese Anthologie zugleich ein (sprunghafter) Spiegel deutscher Geschichte. Der Band ist hervorragend ediert, mit Abbildungen der Erstausgaben Jungs, Register und peniblen bibliographischen Nachweisen versehen; vor allem aber verdient die Methode noch einmal besonders hervorgehoben und zur Nachahmung empfohlen zu werden. Ein gewiß mitunter sperriges, aber entdeckenswertes Werk wie jenes von Franz Jung auf dem Wege des gesammelten Wiederabdrucks der zeitgenössischen Kritik zu popularisieren, ist eine pfiffige Idee. Für Leser der KK ist der Band durch die Präsenz schlesischer Autoren (H. Chr. Kaergel, K. Schodrok, A. Hayduk, Fr. Kaminsky, A. Lubos) von besonderem Gewinn.
Martin Hollender (KK)

 

Wiedergewinnung der Provinz im Literarischen und Ästhetischen
Eine Provinz in der Literatur. Schlesien zwischen Wirklichkeit und Imagination. Herausgegeben von Edward Bialek, Robert Buczek und Pawel Zimniak. Wroclaw – Zielona Gora (Breslau – Grünberg), Verlag Oficyna Wydawnicza, ATAT Wroclawskie Wydawnictwo Oswiatowice 2003, 370 S.

In einem erfreulich knapp gefaßten Vorwort von Pawel Zimniak, einem der drei Herausgeber, heißt es: „Deutlich sichtbar zeichnet sich (nicht nur im deutschsprachigen Literaturbetrieb) eine Tendenz ab, die man als Bewegung zur Wiedergewinnung der Provinz im Literarischen und Ästhetischen bezeichnen könnte. Das Phänomen der Provinz als Nahraum, oft mit dem Topos der verloren gegangenen Provinzen verbunden, legt offen, dass die Kategorie der Räumlichkeit als konzeptioneller Schlüsselbegriff, ob im Kontext eines einzelnen Ortes oder einer Provinz begriffen, literarisch und literaturwissenschaftlich immer noch interessant sein kann.“ Die Orte und die Provinz, die im vorliegenden Sammelband thematisiert worden sind, heißen zum Beispiel Schymanowitz oder Neurode, immer aber Schlesien.
Wie überhaupt dieser Sammelband, an dem 26 Autoren mitgewirkt haben, zustande gekommen ist, wird nicht mitgeteilt, wohl aber, daß das Buch „finanziert (wurde) aus den PHARE.-CBC-Fördermitteln der EU“, und es wurde, dies sei vorweggenommen, im Geiste der Europäischen Gemeinschaft ein hervorragendes Projekt ermöglicht, das sich durch das Fachwissen der Autoren auszeichnet. Unter den Autoren sind 19 polnische Germanisten, eine französische Verfasserin (mit einem polnisch klingenden Namen) von einer französischen Universität und sechs deutsche Fachwissenschaftler.
Die berühmten oder auch nur bekannten Schriftsteller Schlesiens haben sich hier ein Stelldichein gegeben. Allerdings ist Joseph von Eichendorff, um auf das 19. Jahrhundert zu verweisen, nicht behandelt worden und Gerhart Hauptmann nur in einem registrierenden Aufsatz „Gerhart Hauptmann im Lichte der nationalsozialistischen Presse ,Krakauer Zeitung' (1939-1945) und ,Ostdeutscher Beobachter' (1939-1945) im Vergleich“. Diese Anmerkung soll jedoch dem Lob für den großartigen Band keinen Abbruch tun. Aus dem 18. und 19. Jahrhundert begegnen wir dem Philosophen Christian Garve, Cark Wilhelm Salice Contessa, Karl von Holtei und Gustav Freytag. Der Hauptakzent liegt jedoch auf dem 20. Jahrhundert.
Das Aufregende und bis heute Singuläre der einzelnen Aufsätze ist der Umstand, daß sich hier, mit ganz wenigen Ausnahmen, polnische Germanisten mit ausgezeichneten Detailkenntnissen schlesischen Schriftstellern gewidmet haben. Es seien genannt Arno Ulitz, Egon H. Rakette, Max Tau, Gerhart Pohl, Hans Zuchhold und Friedrich Bischoff, und von den lebenden Schriftstellern Heinz Piontek, der inzwischen leider verstorben ist, Dagmar von Mutius, Werner Heiduczek, Armin Müller und Dietmar Scholz, der gerade sein 70. Lebensjahr vollendet hat. Die Schriftsteller Dagmar von Mutius, Werner Heiduczek und Armin Müller, wie auch Günter Anders und Arno Schmidt werden von deutschen Verfassern behandelt, während Dietmar Scholz von Pawel Zimniak, Universität Grünberg, dargestellt wird. Diese ist unter den polnischen Universitäten am häufigsten genannt, auch der zweite Herausgeber, Robert Buczek mit seinem Beitrag „Heinz Pionteks Suche nach seiner eigenen Identität“, stammt von der Universität Grünberg. Der dritte Herausgeber, Eduard Bialek mit seinem Beitrag über Hans Zuchhold, kommt aus Breslau, aber auch die Universitäten Oppeln und Kattowitz, Posen und Lodz sind präsent.
Das Thema heißt immer Schlesien im Werk der Autoren, wobei besonders herausgestellt werden soll, daß Eberhard Günther Schulz von der Universität Duisburg (Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat) nicht so sehr den Philosophen und Übersetzer Christian Garve vorstellt, als, dem Thema gehorchend, den Mann aus Breslau, der über seine Heimat Schlesien, durch viele Zitate nachgewiesen, liebevoll geschrieben hat. Aber selbstverständlich erhält der Band auch polnische Schriftzüge, so in der Vorstellung der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk, deren Roman „Taghaus Nachthaus“ in Neurode spielt, oder in der Vorstellung des aus dem Kreis Groß Strehlitz stammenden Jan Gorczol, oder in der kritischen Behandlung von Karl Schodrok und seinem aus damaliger Sicht zu begreifenden Zickzackkurs während der Hitler-Diktatur in und für Oberschlesien.
Wer schreibt hierzulande über Egon H. Rakette oder Hans Zuchhold? Grazyna Barbara Szewczyk und Edward Bialek tun dies, wobei die polnischen Autoren keineswegs groben Anstoß nehmen an manchem, was an Gefälligkeiten gegenüber dem nationalsozialistischen „Zeitgeist“ erinnert. Leider erscheint die Kulturzeitschrift „Schlesien“ seit 1995 nicht mehr, denn man wünschte sich all diese Aufsätze, vielleicht zuvor schon, auch hier veröffentlicht, nicht zuletzt um der geistigen Auseinandersetzung willen. Es sei nur unter anderem auf die Arbeiten über Carl Wilhelm Salice Contessa verwiesen oder auf die über Else Ury, die Bestseller-Autorin der zehn Bände „Nesthäkchen“, aus einem jüdischen Hause in Berlin stammend, in Krummhübel im Riesengebirge mit Wohnsitz zu Hause, 1943 in Auschwitz ums Leben gekommen (in diesem Buch die Vorstellung einer „Erzählung aus dem Riesengebirge“, Titel „Das Rosenhäusel“) oder auf Olga Tokarczuk aus dem heute polnischer Souveränität unterstellten Niederschlesien.
Man kann für dieses Buch mit den mehrheitlich von Polen dargestellten und profilierten schlesischen Schriftstellern nur dankbar sein und den Autoren Lob und Anerkennung aussprechen. Sicher fehlt aus dem 20. Jahrhundert auch mancher, es seien nur Jochen Klepper, August Scholtis und Horst Lange genannt, aber das Wichtige und Bedeutsame ist, daß es polnische Germanisten gibt, die sich mit schlesischen Schriftstellern gründlich und persönlich engagiert beschäftigen. Das schlesische Erbe wird wieder lebendig, die polnischen Autoren, dazu noch einige sachkundige deutsche Stimmen, haben dies in dem Band über Schlesien im Werk seiner Schriftsteller geradezu dokumentarisch vorgestellt.
Herbert Hupka (KK)

 

„Reisen Sie mit Gott und langen Unterhosen“ nach Moskau
Andreas Meyer-Landrut: Mit Gott und langen Unterhosen, edition q, Berlin 2003, 295 S. mit 110 Abbildungen.

In dem Biberpelz, in dem sein Großvater bei 25 Grad minus im Januar 1945 aus dem Warthegau, wohin die Baltendeutschen 1939 umgesiedelt worden waren, nach Westen floh, reiste Andreas Meyer-Landrut 1957 als junger Botschaftssekretär nach Moskau. Ein Freund hatte ihm vorher telegraphiert: „Reisen Sie mit Gott und langen Unterhosen.“
Diese Empfehlung wurde zum Titel des Buches, in dem der 1929 in Reval geborene Deutschbalte Meyer-Landruth sein berufliches Leben als deutscher Diplomat, zweimaliger Botschafter in Moskau, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und schließlich Chef des Bundespräsidialamtes erzählt.
Der Autor räumt mit der hitlerschen Legende auf, die Deutschbalten seien „heim ins Reich“ geholt. In Wahrheit war es „eine Reise ins Blaue unter dem Hakenkreuz. Sie endete im besetzten Polen, von wo aus wir im Januar 1945 fliehen mußten, mit drei Koffern und einem Rucksack“. Meyer-Landruth beschreibt die Flucht zu Beginn seines Buches. Sie prägte sein Leben, half ihm zu realistischen Einschätzungen bei späteren Verhandlungen mit den Sowjets, die der Bonner Politik von großem Nutzen waren. Er spricht Russisch und Estnisch und konnte so nach der Wende auch den estnischen Präsidenten Lennart Meri freundschaftlich beraten. Für seine Hilfe beim estnischen Unabhängigkeitsprozeß wurde der seiner Heimat bis heute verbundene deutsche Diplomat mit dem an den Deutschen Orden erinnernden Marienorden ausgezeichnet.
Während seiner ganzen beruflichen Zeit in Moskau – mit Unterbrechungen von 1957 bis 1989 – begegnete Meyer-Landruth das Schicksal der Rußlanddeutschen. In der deutschen Botschaft lagen Bibeln für sie bereit, wenn man ihnen zunächst auch sonst wenig helfen konnte. Als Sonderbotschafter sollte Rolf Lahr 1957 an der Moskwa umsetzen, was Adenauer bei seinen Verhandlungen angestoßen oder erreicht hatte. Als er das Thema Rückführung der Rußlanddeutschen erstmals zur Sprache brachte, antwortete Minister Gromyko, wie Mayer-Landruth miterlebte: „Deutsche? Es gibt keine Deutschen in der Sowjetunion.“ Die deutsche Botschaft führte dann ausländischen Korrespondenten Karteischränke mit Rückführungsakten vor und erreichte, daß sich die Weltpresse des Themas annahm. „Die Prawda schäumte über diese Kellerkonferenz“ der Deutschen. „Auch zu Hause brachte diese Initiative Botschafter Haas nicht nur Applaus für sein couragiertes Verhalten ein, die Bundesregierung wollte zu jener Zeit keinen Krach mit Moskau.“
Ein Photo von 1989 zeigt den Massenandrang von Rußlanddeutschen vor dem deutschen Konsulat in Moskau. Der Bonner „General-Anzeiger“ berichtete vom „Zustand der Verzweiflung“, in dem sich Meyer-Landruth angesichts des „Dauerbrenners“ Familienzusammenführung und Ausreise der Rußlanddeutschen befand. Er half, wo er nur konnte, und scheute auch vor Tricks nicht zurück, um die sowjetischen Behörden in Einzelfällen zu überlisten.
Bundespräsident Carstens kam beim Breschnew-Besuch in Bonn auf Königsberg zu sprechen. Den von dort Vertriebenen sei es nicht gestattet, ihre Heimat wenigstens als Touristen zu besuchen. Der sowjetische Präsident zeigte sich ahnungslos, mußte erst seine Mitarbeiter befragen und „wechselte dann abrupt das Thema, ohne den Bundespräsidenten einer weiteren Antwort zu würdigen“.
Der Zukunft Rußlands, wo er jetzt als Berater für deutsche Unternehmen tätig ist, beurteilt Meyer-Landruth vorsichtig. „Bis es ein Pro-Kopf-Einkommen wie Portugal erreichen wird, braucht es nach heutigen Hochrechnungen noch die Zeitspanne bis 2030.“
Norbert Matern (KK)

 

Zeiten, in denen auch ein Abschied ein Liebesbeweis war
Ursula Seiring: Du sollst nicht sterben. Erlebnisse einer deportierten Ostpreußin. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn, Würzburg 2003, 152 S., 10 Euro

Unglaubliches Glück in allem kommenden Grausen hatte die junge Ursula, als sie im Januar 1945 in die Straf- und Arbeitslager Sibiriens deportiert wurde. „Wenn Sie das alles überleben wollen, brauchen Sie schon ein ganzes Geschwader Schutzengel“, hatte ihr der kriegsgefangene deutsche Pfarrer Palm in einem Außenlager des Gulag gesagt.
Die Autorin Ursula Seiring wurde in den 20er Jahren in Schönwiese bei Guttstadt, Kreis Heilsberg/Ostpreußen, geboren. Ihr Mädchenname lautete Goldau-Schönwiese. Sie wuchs auf dem elterlichen Gutshof auf. 1943 machte sie in Breslau das Abitur. Ihre „Kriegsdienstverpflichtung“ konnte sie zu Hause auf Gut Schönwiese praktizieren.
Im Januar 1945 war das Schicksal Ostpreußens – und bald darauf ganz Deutschlands – besiegelt. Die Sowjetarmee Uberflutete Ostpreußen. Flucht und Vertreibungen setzten ein. Es begannen die Verschleppungen der Zurückgebliebenen. In sachlich geprägter Schilderung erzählt Ursula Seiring ihren Weg und damit verbunden den Weg tausender Leidensgefährten in unsägliches Elend. Einige Kapitelüberschriften weisen den Buchinhalt aus: „Wie alles begann“, „Der Fußmarsch nach Zichenau (Ciechanów)“, „In den Straflagern der UdSSR“, „Abschied“, „Endlich in Deutschland, aber nicht zu Hause“.
Am 2. Februar 1945 beginnt der Marsch der Zusammengetriebenen nach Ciechanów bei Warschau. Von hier aus geht es in Viehwaggons in die sibirische Taiga. 18 Tage dauert die Fahrt. Sie endet vor einem Lager mit Sowjetstern, Wachen, Scheinwerfern, Baracken und Gruben für die Massengräber. Wo das Lager geographisch genau liegt, „weiß kein Mensch“. Gearbeitet wird im Wald. Bei eisiger Kälte müssen Baumstämme geschleppt werden. Jeweils acht Frauen bilden einen „Tragestock“. Die Tagesverpflegung besteht aus 125 Gramm Brot, Tee, Wassersuppe. Die täglichen Todesziffern steigen rapide. Aber es gibt ausreichend Gefangenennachschub aus Ostdeutschland. Es ist nur das erste von mehreren Lagern, in die Ursula eingewiesen wird. Ob Wald-, Torf- oder Moorlager, überall werden die Deportierten bis zum Zusammenbrechen geschunden.
Eines Nachts gerät Ursula beim Gang zur Latrine mit dem Fuß in Glutasche. Die grauenvolle Verletzung heilt nicht, weil Medikamente fehlen. Das Bein verfärbt sich. Sie wird „zur Amputation“ in das Gulag-Lazarett Schatura-Torf transportiert. Dort arbeiten gefangene deutsche Ärzte, unter ihnen der Chirurg Dr. Hellmut Seiring. Ursulas Bein kann er retten. Er gehört zum von Pfarrer Palm beschworenen „Schutzengelgeschwader“.
Am 30. Mai 1949 wird sie ihn in Köln heiraten. Bis dahin aber ist noch eine mit körperlichen Strapazen, Kummer und Mißhelligkeiten gespickte Lebensstrecke zu überwinden. Am siebenten Hochzeitstag stirbt Hellmut Seiring an den Folgen der Gefangenschaft. Die glücklichen Ehejahre bilden das Gerüst für die Erinnerung.
Noch aber sind beide in Schatura-Torf. Eine winzige Portion Butter erhält Ursula täglich. Sie weiß nicht, daß es Dr. Seirings Ration ist, die ihm als Arzt gewährt wird. Eines Tages sagt er zu ihr: „Wo du bist, da bin ich zu Hause.“ Das ist der Heiratsantrag für später, falls sie Sibirien lebend verlassen.
Im Herbst 1946 steht Ursula auf der Rückkehrerliste. Fahrtziel des Zuges: Frankfurt/Oder. Plötzlich wird ihr Name gestrichen. Dr. Seiring stürzt zum „Pallkownik“ (Lagerkommandant). Ursulas Name wird wieder auf die Liste gesetzt. Der „Pallkownik“ wollte es dem „Gulag-Liebespaar“ ermöglichen, zusammenzubleiben. Seiring besteht darauf, daß Ursula fährt, er möchte sie in Sicherheit wissen. Sie hat so sehnlich auf den Tag der Entlassung gewartet, und nun? „Du wirst fahren“, sagt Seiring bestimmt. Auch ein Abschied ist ein Liebesbeweis.
Die Erlebnisse in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands bilden den letzten Teil des Buches. Ursula erlebt ein deprimierendes Land mit psychisch niedergedrückter Bevölkerung. Trotzdem gibt es Bewährung von Mensch zu Mensch.
Im Anhang zu dieser zweiten Auflage kommen andere einstige Deportierte zu Wort. Deren Berichte bestätigen die Qualen im Gulag. Über die in den Lagern Verstorbenen spricht kein Mensch. Politischer Opportunismus erheischt noch heute Schweigen. Doch man kann sich wehren, die Toten vergessen zu s o l 1 e n. Berichte wie dieser belegen es.
Esther Knorr-Anders (KK)

 

Mit Kinderchor und Dampfkessel kommt man der Geschichte nicht bei

Eine Viertelstunde (12. März) sollte im WDR-Fernsehen das Thema heißen „Oberschlesien wird geteilt“. Mit gutem Recht darf man über die Kürze der Sendezeit zu diesem geschichtsträchtigen Gegenstand und wider die nächtliche Plazierung streiten. Aber es kam noch schlimmer. Der im Durchschnitt mit Oberschlesien nicht gerade vertraute Fernsehzuschauer erfuhr gar nicht erst, wo denn dieses überhaupt liegt. Ein landschaftliches Allerweltsbild sollte offenbar die Antwort sein. Wenn schon für eine geographische Skizze kein Platz vorgesehen war, dann hätten zumindest einige Ortsnamen von Oppeln über Beuthen bis Kattowitz für Aufklärung sorgen können.
Über das oberschlesische Drama mit den Fakten der Abstimmung und der deutschen Mehrheit auf der einen und der von der Genfer Botschafterkonferenz beschlossenen „Zerreißung Oberschlesiens“ andererseits wurde richtig berichtet. Und den Filmarchiven ist zu danken, daß Aufnahmen von der heftig geführten Auseinandersetzung vor der Abstimmung am 20. März 1921 gezeigt werden konnten, auch von den Zugfahrten der zur Abstimmung berechtigten, aus der Ferne heimkehrenden Oberschlesier.
Das war es dann auch, denn in der ohnehin so knappen Sendezeit redete in einem fort ein Pole namens Beblo, ein weiterer Pole namens Hojka kam schließlich hinzu. Eingeblendet war dann noch zweimal der bekannte Wortführer der Polen, Wojciech Korfanty, schließlich auch die repräsentanten der Interalliierten Kommission.
Warum sollte nicht auch die polnische Sicht der Dinge übermittelt werden? Natürlich soll sie das. Protestierend allerdings ist zu fragen, warum nicht auch ein Deutscher das Wort erhielt. Historisch objektiv berichtend hätte wohl Carl Ulitzka, Pfarrer und Zentrumsabgeordneter im Deutschen Reichstag, für die deutsche Sache genannt werden müssen. Zu den „polnischen Aufständen“, die aus polnischer Geschichtsbetrachtung gewürdigt wurden, wäre deutscherseits, erst jüngst wieder historisch belegt, über das Zusammenspiel Frankreichs mit dem polnischen Demagogen Korfanty vieles zu sagen gewesen.
Der einzige Deutsche, der das Wort erhielt, war einer, der in der oberschlesischen Heimat geblieben ist, aber zum Thema des Films selbstverständlich keinen Beitrag leisten konnte.
Die Sendung endete mit einem polnischen Kinderchor und einer großen Dampfwolke, die aus irgendeinem Kessel aufstieg. Die Chance, Geschichte in guter deutsch-polnischer Nachbarschaft auch nur annähernd aufzuarbeiten, wurde in unverantwortlicher Weise zu dieser späten Stunde leider vertan.
Herbert Hupka (KK)

 

Literatur und Kunst

Nähe zum Wasser verbindet Geburts- und Todesort
Uwe Johnson suchte auch in England das „wildwüchsige Bruch“ und die „federnden Wiesen“ seines pommerschen Ursprungs

Vor zwanzig Jahren, im Februar 1984, starb Uwe Johnson. Seine Romane „Ingrid Babendererde“, „Mutmaßungen über Jakob“, „Das dritte Buch über Achim“ und vor allem die auch durch eine gelungene Verfilmung weithin bekannt gewordenen „Jahrestage“ werden zu den bedeutendsten Leistungen der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gezählt. Ihr Autor gilt manchen sogar als der größte deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit.
Uwe Johnson ist ein Pommer, in Kammin/Kamien Pomorski geboren – aber dies nur, weil seine Mutter, „eine Bauerntochter aus dem Dorf Darsewitz auf dem Westufer der Dievenow“, zur Geburt des ersten Kindes aus Anklam zurückging „auf den Hof der Eltern, also in das Krankenhaus Kammin auf dem Ostufer, und ist da wohl zehn Tage geblieben“, so Uwe Johnson in einem Gespräch im Jahr 1973. Der Bauernhof der Sträbes war also so etwas wie der Stammsitz der Familie. In Darsewitz bei den Großeltern war der kleine Uwe bis zum Kriegsende oft.
Daß dort seine Lebenswurzeln sind, läßt sich aus so mancher Andeutung schließen, die der sonst sehr scheu seinen privaten Bereich verbergende Autor in seinen Werken macht. Klar ausgesprochen hat er die Bindung an das Land an der Dievenow in einem kurzen, lyrisch anmutenden Prosatext, in dem er Flüsse und Orte benennt, die in seiner Erinnerung geblieben sind. Die Dievenow steht an erster Stelle: „Die Orte des Aufwachsens aus dem Gedächtnis verlieren, das hieße ja die Dievenow vergessen, die für ein Kind zu breite Schlange Wassers mit ihren niedrigen schwarzen Booten, den glucksenden Fischkästen, dem wildwüchsigen Bruch und den federnden Wiesen an ihren Ufern.“
Die meisten Leser wissen nichts vom Hof, auf dem er aufgewachsen ist. Aber die schwermütig-schöne Flußlandschaft ist da und gibt eine Einführung in Johnsons Werk. Denn, was oft nicht ohne Kopfschütteln registriert wird, in Johnsons Romanen spielen die norddeutsche Landschaft und ihre Sprache und Lebensart eine große Rolle. „Regionalismus“ wird ihm zugeschrieben, allerdings keine Heimattümelei.
Als Johnson 1974 nach England in die Kleinstadt Sheerness-on-Sea übersiedelte, begann das bis heute andauernde Rätselraten, weshalb wohl die Wahl auf diesen ziemlich unattraktiven Ort gefallen war. Einerseits hatte Johnson offenbar die Nähe des Meeres gesucht. Ein Haus an der Ostsee hatte sich als unerschwinglich erwiesen. Deshalb hielt er nach einer anderen „weitläufigen Wasserfläche“ Ausschau. Aber offenbar war es weniger das Meer, das Johnson suchte. Hartnäckig behauptete er: „Sheerness liegt gar nicht an der See, wie es amtlich zu behaupten sucht, erst ihm gegenüber hört das Nordufer der Themse auf.“
Immer wieder erscheint in den Briefen, die in dem Band „Inselgeschichten“ nach seinem Tod zusammengefaßt wurden, die Themse. War es die Verwandtschaft zwischen Darsewitz, dem Kindheitsort, und Sheerness, das zu seinem Todesort werden sollte, die Johnson faszinierte? Beide Orte liegen auf Inseln im Mündungsgebiet eines großen Flusses, Darsewitz an einem Mündungsarm der Oder, Sheerness, wenn man Johnson folgt, an der in die Nordsee fließenden Themse. War es die Sehnsucht nach der Heimat seiner Kindheit, die den inzwischen berühmt gewordenen Schriftsteller in die verwandte Landschaft an der Themsemündung zog?
RoswithaWisniewski (KK)

 

„Für dergleichen bin ich nicht zu haben“
Kaum anders hätte Gerhart Hauptmann auf diese Aufführung reagiert

Gerhart Hauptmanns Stücke „Vor Sonnenaufgang“ , „Einsame Menschen“, vor allem „Der Biberpelz“ und „Die Ratten“ gehören zum festen Repertoire deutschsprachiger Bühnen – nicht jedoch „Die Weber“. Und dafür gibt es viele Gründe. Wer sich mit der Bühnengeschichte des Stückes befaßt, findet ein spektakuläres Konvolut von Reaktionen vor, von Entrüstung und Verboten bis zu emphatischen Jubelrufen eine breite Skala umfassen. Daß dabei auch immer wieder neue Wege in den Inszenierungen beschritten wurden, ist für die politische „Weber“-Deutung durchaus legitim – freilich darf dabei die Struktur als Kunstwerk nicht leiden. Hauptmann mochte selbst solche Gefahren sehen, als er ein Angebot ablehnte, sofort einen Film nach den „Webern“ zu drehen, wenn er sich entschließen könne, in einem Schlußbild zu zeigen, wie gut es heute den Webern geht. „Für dergleichen bin ich nicht zu haben.“ Eine Ablehnung einer durch das Theaterhaus Jena im Vorjahr praktizierten „Weber“-Aufführung ist dem Dichter, der am 6. Juni 1946 auf seinem „Wiesenstein“ in Agnetendorf verstorben ist, nicht möglich.
 Die Jenaer Aufführung hat mit Hauptmanns Drama nichts zu tun, obwohl man sich auf sein Stück ausdrücklich beruft und dabei betont, bei Hauptmann sei es um soziale Verhältnisse gegangen und um solche gehe es auch in dieser „Open-Air“-Aufführung. Der Weberaufstand im Eulengebirge von 1844 diente lediglich als eine Art Folie für diese Inszenierung. Das Problem sei jetzt nicht die Ausbeutung von Arbeitern (in diesem Falle der Weber), sondern das Abschaffen von Arbeit. Vor der Flimmerkiste und am Kiosk hängen die „Überflüssigen“, das Treibgut der Gesellschaft, während, zynischerweise, die Fabrikanten das Lied von der Vollbeschäftigung und der sozialen Wohlsfahrtsgesellschaft säuseln. „Die soziale Frage ist die nach dem Hunger“, wie Claudia Bauer, die Regisseurin ausführt. Die „Weber“ seien ein absolut politisches Stück. „Daraus kann man kein metaphysisches Stück machen.“
Ein Mißverständnis der Regisseurin! Die Geschichte der Aufführungen hat eindeutig den revolutionären und politischen Charakter des Hauptmannschen Dramas unterstrichen und dabei den historischen Rahmen bis in bedeutsame Details nicht angetastet. Die Jenaer Inszenierung tut das Gegenteil: Sie reißt die Struktur im Aufbau des Stückes willkürlich auseinander, löst den Spannungsgehalt bereits in der Exposition im 1. Akt völlig auf und reduziert den Vorgang auf willkürlich eingestufte Vorgänge ... Aus den Webern sind Weberinnen geworden, die „Schürzen in Blau“ tragen, aus dem Hintergrund emporsteigen und eine Holzbühne bevölkern, 1,80 Meter auf 82 Zentimeter abfallend auf eine Bühne, die als Podest mit 13 Metern Tiefe und 17 Metern vorderer Breite vor dem Theaterkasten steht. Platz genug für die Laiendarsteller, bei denen auch einige Weber-Männer in Jogging-Kluft herumlungern. Im Hintergrund spielte ein Jugendorchester, wobei der „Weber“-Film von Zelnik nach dem 2. Akt aufflammt.
Wie die Regisseurin offenherzig zugibt, ist bereits die erste Leseprobe am Text gescheitert, sie „war eine Ka tastrophe“. Nach diversen Telefonaten wurde dann ein „Mundartsprecher“ nach Jena geholt, um Sprech- und Lautübungen mit dem „Weber“-Personal durchzuführen, das Schlesisch nicht verstand und auch nicht sprechen konnte. So leidet die Sprechweise während der Aufführung an einer unklaren Lautmodulation oder einer überhöhten Stärke, die ganz unangemessen die Handlungsvorgänge stört – ohnehin ganz willkürlich zusammengestrichen. Herausragende Einzelleistungen waren ohnehin nicht zu erwarten, da sich das Figurenensemble weitgehend aus Laienkräften zusammensetzt.
Die politische Absicht tritt eindeutig in den Vordergrund. Das Stampfen auf der großen Holzbühne, so meint Claudia Bauer, sei eigentlich ein Fanal zum Aufstand. Nur – wie es aussieht – wird er nicht kommen. Trotz der revolutionären Wucht. Armer Gerhart Hauptmann.
Günter Gerstmann (KK)

 

Bedeutung bis zum Abwinken
Matei Visniecs Satire über die Geschichte des Kommunismus in Berlin

Die Vorstellung ist auch diesmal ausverkauft, die Leute warten im Foyer der Studiobühne des Gorki-Theaters, denn gespielt wird: „Die Geschichte des Kommunismus, nacherzählt für Geisteskranke“. Dieweil denke ich darüber nach, was mich an diesem reißerischen Titel stört. Ist er nicht doch eine Diskriminierung Geisteskranker? War Stalin, um den es hier offensichtlich gehen soll, nicht auch geisteskrank? Aber immerhin auf eine Art und Weise geisteskrank, daß ihm alle seine „normalen“ Anhänger zugejubelt haben. Soll es etwa heißen, alle normalen Menschen haben den Kommunismus intus, nur eben für die Schwachsinnigen muß er nacherzählt werden, damit sie ihn auch kapieren?
Allerdings muß man dem Autor Matei Visniec zugute halten, daß er auch eine „Geschichte des Panda-Bären, erzählt von einem Saxophonspieler, der eine Freundin in Frankfurt hat“ veröffentlichte. Er ist heute einer der meistgespielten rumänischen Dramatiker, nicht nur zu Hause, seine Stücke werden auch in kleinen Theatern und auf Festivals im Ausland aufgeführt. Dabei ist Ausland für ihn relativ geworden, weil er seit 1987 dortselbst, nämlich in Frankreich lebt. 1956 im bukowinischen Radautz geboren, hat er Rumänien als bekannter Lyriker verlassen, um später vor allem Theaterstücke auf französisch zu schreiben. So trägt er – wie Eugen Ionescu – zwei Namen, und schreibt sich heute Matéï Visniec, anstatt das s mit einer Cedille zu versehen.
Die heutige Aufführung wird als deutschsprachige Erstaufführung gepriesen, das Stück wurde aber schon vor einem Jahr an der Uni Göttingen gespielt. Der erste Eindruck des Bühnenbildes: originell! Man stelle sich vor: eine Turnhalle voller Medizinbälle, die verstreut herumliegen. An den Wänden entlang – viereckig – jeweils eine Sitzreihe mit Stühlen für die Zuschauer. Es riecht etwas muffig, wie in einer alten Turnhalle eben, und als die Tür zugeht, fühlt man sich wie in einer ,geschlossenen‘ Anstalt.
Herein kommen, von Pfiffen einer Trillerpfeife begleitet, die Akteure, vier „Patienten“ in senfgrün-braunen Trainingsanzügen, eine mit Militärmantel und Trillerpfeife ausgerüstete Antreiberin und ein staksiger langer Bursche, der ebenfalls einen senfgrünen Militärmantel und eine Ledertasche trägt. Während sie drei Runden marschieren, überlege ich weiter, warum denn unbedingt dieser militärische Drill immer so vordergründig inszeniert werden muß, wenn es um Ostblock und Kommunismus geht. Dabei soll es sich ja auch um ein lustiges Stück handeln.
Worum es geht: Der Schriftsteller Yuri (der lange Bursche) wird einige Wochen vor Stalins Tod in die zentrale Nervenanstalt Moskau eingeladen, um den geringfügig, mittelschwer und hochgradig Schwachsinnigen den Kommunismus zu erklären. Dies tut er auch in einfachsten Worten, und so findet er beispielsweise die Erklärung, daß Utopie dann entsteht, wenn zwei, die mit Verlaub ,in der Scheiße stecken‘, darüber nachdenken und einen wissenschaftlichen Plan entwerfen, da rauszukommen. Wobei Stalin einen wissenschaftlichen Plan für ein ganzes Land entwarf. Ich vermute, daß ,merde‘ im Französischen etwas eleganter klingt als sein deutsches Äquivalent, von Yuri (Felix Rech) aus voller Kehle gebrüllt!
Obwohl einleuchtend als Erklärung, scheint mir der große Mangel der Inszenierung (Marlon Metzen) auch weiterhin das Vordergründige. Man hätte sich für die kleine Studiobühne etwas mehr Zurückhaltung gewünscht. Schwachsinnige gebärdeten sich hochgradig schwachsinnig, ein Flirt wurde zur halben Vergewaltigung, es wurde geschrieen, gestampft, marschiert – bis es dann irgendwann doch kippte und mir das Spiel „unter die Haut“ ging – und ein wenig auch auf die Nerven. Und zwar an dem Punkt, als anhand einer Flugzeugmetapher die Fragwürdigkeit aller gesellschaftlichen Systeme herauskam und diese vier Schauspieler, um den Dichter versammelt, einen zarten Kanon zu singen begannen und dabei immer ,Uuuutooopiiiie‘ wiederholten. Da konnte sich Yuri nur noch dadurch retten, daß er ins Deckengestänge stieg.
Man muß der Inszenierung zugute halten, daß die Schwachsinnigen sich um so normaler verhielten, je schwerwiegender sie krank wurden, daß die äußere „Normalität“ die „Kranken“ der geschlossenen Anstalt einholte und schließlich auch den Schriftsteller zu einem der Ihren machte. Nein, wahrlich keine Komödie – ein bittertrauriges galgenhumoriges Stück.
Edith Ottschofski (KK)

 

Sein Lied ging um die Welt
Er selbst aber ins Exil und darin zugrunde: der Tenor Joseph Schmidt

Seine brillante Gesangstechnik verdankte der am 4. März 1904 in Czernowitz/Bukowina geborene Tenor seiner Schulung als Kantor. Es ist immer wieder verblüffend, wie unangestrengt Joseph Schmidt selbst die allerhöchsten Töne bis zum „d“ bilden konnte. Da er wegen seiner Körpergröße von 1,50 Meter keine Chance für eine Opernkarriere sah, drängte es ihn von Berlin aus auf die „Opern-Sendebühne“. Innerhalb weniger Jahre von 1924 an stand Joseph Schmidt beinahe wöchentlich vor den Mikrophonen des Senders und sang Partien des höchsten Schwierigkeitsgrades.
Dirigenten, unter deren Stabführung er sang, waren Erich Kleiber, Bruno Walter, George Szell und Leo Blech. Im Plattenstudio nahm er zwischen 1929 und 1933 rund achtzig Arien aus Opern und Operetten, Lieder und Schlager auf. Als Schmidt nach der Uraufführung seines Films „Ein Lied geht um die Welt“ am 9. Mai 1933 vor 3000 Berlinern wieder und wieder das Titellied sang, giftete Reichspropagandaminister Goebbels: „Was so ein Zwerg doch alles anrichten kann.“ Schon wenig später wurden die Tondokumente jüdischer Künstler aus den Archiven des Berliner Rundfunks entfernt.
Nach 1934 konnte Joseph Schmidt nur noch in Wien und London auftreten. Und als sein Lied überall in der Welt gehört wurde, befand er sich auf der Flucht, gab Konzerte in den Benelux-Staaten, wich nach Frankreich aus und floh von dort im Oktober 1942 in die Schweiz. Da er weder einen gültigen Pass hatte noch ein Visum und keinen Zugriff auf sein Geld, wurde er in ein Internierungslager verbracht und nach einer schweren Erkältung ins Züricher Kantonsspital eingewiesen. Seine Klagen über Schmerzen in der Herzgegend nahm niemand ernst. Als „Simulant“ wurde er ins Lager zurückgeschickt.
Dort ist der Tenor Joseph Schmidt, aus dem die Klage der Welt dringen konnte, am 16. November 1942 gestorben.
(KK)

 

Schönes Kind aus gutem Hause

Aus dem Pfaffenwinkel erreichte uns die Nachricht, Friederike Hübner-Hehler sei im Sommer vorigen Jahres ihrem geliebten Ehemann in den ewigen Frieden nachgefolgt. „Unser Hergott“, hieß es auf der Trauerkarte, „schenkte ihr die Gnade eines unversiegbaren Humors, der ihr auch half, ihre Leiden zu ertragen.“
Eigentlich war sie ja Sängerin, ausgebildet in Prag, wo sie im Schicksalsjahr 19l5 zur Welt gekommen ist, gerade noch zu Kaisers Zeiten. Und in Prag wäre sie, als „schönes Kind aus gutem Hause“, sicherlich gern geblieben, wenn das Schicksal es nicht anders gefügt hätte. So geriet sie, noch vor dem „Anschluß“ des Sudetenlandes, mit der Familie ins damals deutsche Reichenberg, wo sie entscheidende Jahre verbracht hat, die Jahre ihrer Jugend, der ersten künstlerischen Versuche. Davon berichtet sie ausführlich und temperamentvoll in dem autobiographischen Briefroman „Trügerische Geborgenheit“. Unbekümmert weiß sie vom regen gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt unterm Jeschken zu plaudern.
Auch sonst ist sie als Geschichtenerzählerin hervorgetreten, mit so kurzweiligen Büchern wie „Knoblauch, Kunst und Kindheit in Prag“, denen sie eine treue Lesergemeinde zu verdanken hat, insbesondere bei ihren deutschböhmischen Landsleuten.
Zu den treuen Lesern und Bewunderern ihrer Erzählkunst gehört auch der Verfasser dieser Zeilen, ihr stiller Verehrer
Otfried Preußler aus Reichenberg in Böhmen (KK)

 

KK-Notizbuch

Die Sendung Alte und neue Heimat des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, bringt am 11. April den Bericht von Florian Kellermann und Tatjana Montik über den „papierenen Vorhang“, der die erweiterte EU von den östlichen Nachbarn trennt. Klaus Kuntze thematisiert am 18. April den Antisemitismus in Osteuropa, und Inge Bell berichtet am 25. April von einem Umweltskandal in Tschechien.

„Letzte Tage in Schlesien. Tagebücher, Erinnerungen und Dokumente der Vertreibung“, 1981 herausgegeben von Herbert Hupka im Verlag Langen Müller Herbig in München, ist soeben in der 11. Auflage erschienen. Die Neuauflage kostet 9,95 Euro.

Das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg zeigt neben seiner Sonderausstellung mit Werken von Gerhard Löbenberg noch bis zum 18. April die Kabinettausstellung über „Juden der Lutherstadt Wittenberg im III. Reich“. Aufgrund einer Datenüberlagerung trägt unser Löbenberg-Bericht in der vorigen Ausgabe einen sachfremden Untertitel. Wir bitten um Entschuldigung.

Das Kulturzentrum Ostpreußen im Deutschordensschloß Ellingen erinnert mit einer Ausstellung bis zum 20. Juli an die „Wolfsschanze“ bei Rastenburg in Ostpreußen als Hauptquartier Hitlers und Ort des Widerstandes gegen ihn.

Das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen-Hösel präsentiert bis zum 9. Mai Werke des schlesischen Landschaftsmalers Otto Müller-Hartau (1898-1969) aus der Grafschaft Glatz. Gleichzeitig erlaubt die Ausstellung „Menschen. Maschinen. Kohle. Kunst“ dem Betrachter, „Künstlerblicke auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet“ zu verfolgen. Zu beiden Ausstellungen gibt es Kataloge.

Der Adalbert Stifter Verein zeigt seine Ausstellung über Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda unter dem Titel „Musen an die Front“ bis Ende Mai im Adalbert Stifter Institut in Linz, Österreich.

Die Museen der Stadt Kornwestheim und das Siebenbürgische Museum Gundelsheim präsentieren im Museum im Kornwestheimer Kleinhues-Bau bis zum 13. Juni rumänische Hinterglas-Ikonen.

Der pommersche Autor und Künstler Johannes Hinz eröffnet am 1. April eine Ausstellung mit Ölbildern, Zeichnungen und Holzschnitten im Heilig Geist Krankenhaus in Köln.

Das Gerhart-Hauptmann-Museum Erkner zeigt bis 25. April Michael Ottos Ausstellung „Richtung Transsylvanien“.
(KK)