Wolf Oschlies: Exportschlager deutsche Sprache (III)
Die zweiköpfigen kaiserlichen Adler wieder in der Aula Leopoldina
Michael Ferber: Briefmarke zum 150. Geburtstag von Paul Ehrlich
Interview mit Sir Peter Ustinov
Christian Schoger: Siebenbürgerin erhält den Leibniz-Preis
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Roswitha Wisniewski: Uwe Johnson und Pommern
Günter Gerstmann: Gerhart Hauptmanns Weber in Jena
Edith Ottschofski: Matei Visniecs Auseinandersetzung mit dem
Stalinismus
Vor 100 Jahren wurde der Tenor Joseph Schmidt geboren
KK-Notizbuch
Exportschlager deutsche Sprache (III)
Fejerverki vor Zar Peters kunstkamera
Ob russische Frauen das wohl billigen werden? Das Moskauer Journal
Bol'oj gorod (Großstadt) fand am 20. Februar 2004 heraus, daß ein
moderner lifcik begrifflich zwar dasselbe wie der klassische bjustgal'ter sei, aber viel
erotischer wirke. Und ein bjustgal'ter hieße auch buchgalter.
Was für ein cu' kann man da nur seufzen (und die russische Form des
deutschen Stuß gebrauchen). Denn bjustgal'ter und buchgalter bedeuten im Russischen exakt
das, was sie in ihrer deutschen Herkunftssprache bedeuten: Büstenhalter und Buchhalter.
Und das seit Jahrhunderten unverändert, obwohl solche Wörter im Deutschen langsam
aussortiert werden. Russen sind da zäher: Seit mindestens 600 Jahren heißen der Frisör
bei ihnen parikmacher und der Hut sljapa, welche Wörter es bei uns entweder gar nicht
mehr gibt oder nur in Zusammensetzungen wie Schlapphut (und mit der neuen
Bedeutung von Spion). So oder so ähnlich geht es mit ungezählten Wörtern,
von denen die Nezavisimja gazeta (Unabhängige Zeitung) am 17. Juni 1997 eine
beeindruckende Kostprobe auflistete unter dem schönen Titel nicel',
naps, tol'c (Schnitzel, Schnaps, Stolz).
Vor wenigen Monaten feierte das majestätische Sankt Petersburg sein 300jähriges
Bestehen, und dabei ergaben sich, abseits der Feiern und fejerverki (Feuerwerke),
interessante Lehrstunden zu sprachlichem Transfer. Als der große Russen-Zar Peter
(1672-1725) die Stadt 1703 förmlich aus dem Sumpf stampfte, da wollte er ein
Fenster nach Europa hin in des Reiches Feste brechen. So läßt Puschkin im
Ehernen Reiter den Herrscher sinnieren, was in Wirklichkeit wohl pragmatischer
ablief: Peter beabsichtigte, den russischen Norden militärisch gegen die Schweden zu
sichern und die neue Stadt eher zum Einfallstor für Dinge, Denker und Designer zu machen,
die es in Rußland noch nicht gab.
Daß damit gleich fremdsprachige Benennungen importiert wurden, gehört zu den
Grundgesetzen kulturellen Transfers, die in Sankt Petersburg schon auf Wegtafeln abzulesen
sind: Der Name der Stadt ist deutsch (weswegen sie im Ersten Weltkrieg zu Petrograd
umbenannt wurde), ihre Teile sind es nicht minder: Krontadt, lissel'burg,
Oranienbaum, Petergof (Peterhof) etc. Die Straßen hießen oder heißen Furtadskaja
(Vorstädtische) oder Pocamtskaja (Postamtliche), an den buchty (Buchten) des Wassers
stehen verfi (Werften) oder budki (Buden) mit Feuerlöschgeräten, in alten Zollämtern
bekamen weiland Importwaren ihren russischen tempel' (Stempel) und so weiter: Hatte
Gogol auch sprachlich recht, als er 1835 das schöne Piter in seiner städtischen
Gesamtheit als akkuraten Deutschen empfand?
Zar Peter und die Petersburger hätte man das nicht fragen dürfen. Der Zar warb ab oder
kaufte ein, was er kriegen konnte beispielsweise eine riesige zoologische Sammlung,
deren zahllose stuki (Stücke) später der Deutsche Johann Friedrich Brandt (1802-1879) zu
einer weltberühmten Exposition ordnete. Seit Peters Zeiten nannten die Bürger die
Sammlung nur kunstkamera und just so stellt sich das Museum heute im Internet vor: info@kunstkamera.ru. Daneben erheben sich immer noch
die Paläste mit groty (Grotten) im Garten, karcery (Karzer) im Keller, flagstoki
(Flaggstöcke) vor Portalen, spicy (Spitzen) auf den Dächern und Uhren mit mehreren
ciferblaty (Zifferblättern) auf den Türmen: Deutsches vom fundament bis zur kupol!
Sankt Petersburg war und bleibt gewiß eine Ausnahme, war sprachlich aber nie unrussisch.
Sagen wir es so: Zu Zeiten Katharinas der Großen wurden die Besucher der Parks von
musizierenden pridvornye egeri (Hofjägern) unterhalten, vermutlich nicht nur nach einem
klavirauscug; seit einigen Monaten hat die russische Staatspost eine gewichtige Konkurrenz
erhalten durch die fel'degeri (Feldjäger) der Armee, die dazu durch ihren
anspruchsvollen fel'dsluzba befähigt wurden. Die alte Lexik, die seit petrinischen Zeiten
so viele deutsche Bestandteile aufweist, lebt nicht nur fort, sie hat sich in neuen
Wortfeldern weiterentwickelt und so ihren standort im modernen Russisch gefestigt. Und das
Schönste daran ist, daß sich kein Russe aus sprachpuristischem Eiferertum darum schert!
Was immer an neuen deutschen Benennungen auftauchte, wurde von Russen auf unauffällige
Weise vereinnahmt: Früher war das deutsche Parlament der rejchstag, heute der bundestag,
vormals hieß der Gegner vermacht, heute heißt der Partner bundesver, und so geht es
vielfach weiter, was für Russen völlig natürlich ist.
Umgekehrt kam die russische Sprache nach 1945 in der pervertierten Form des
Moskauderwelsch (Karl Kraus) in die Länder Osteuropas, und die Auswirkungen
dieser parteilichen Sprachkonvention auf die jeweiligen Nationalsprachen war auch nicht
dazu angetan, Liebe und Verständnis für die Sprache Puschkins zu wecken. Das galt vor
allem für die DDR, was um so bedauerlicher war, als mit Wolfgang Steinitz (1905-1967) ein
exzellenter Fachmann bereitstand, der diese Gefahren frühzeitig vorausgesehen hatte und
ihnen rechtzeitig begegnen wollte. All das ist heute weder vergessen noch verschmerzt,
aber auch nicht weiter hinderlich, wenn man deutsch-russischer Wechselseitigkeit entlang
sprachlicher Transfer-Koordinaten nachspüren möchte. Dieser Ansatz untersucht die
Sprache als Medium von Normen, Werten, Systemen, Strukturen, Techniken etc., die ein Volk
von einem anderen übernimmt bzw. über die Sprachkonventionen eines dritten Volks
empfängt. Derartige Übernahmen führen keinesfalls zu Rangveränderungen der beteiligten
Sprachen in der Weise, daß plötzlich das Deutsche höherwertig, überlegen würde. Noch
vor wenigen Jahrzehnten wurde so etwas als unvermeidlich vorausgesetzt: Die Deutschen sind
kreative Alleskönner, die Slawen unfähige Taugenichtse die den Deutschen so gut
wie alles verdanken (wie zahllose Germanismen in ihren Sprachen verraten), ihnen aber für
nichts danken. Derlei nationalistischer Unsinn liegt hinter uns, und inzwischen wissen
wir: Selbst wenn das Deutsche höherwertig sein wollte, es könnte es gar nicht: Die
gebende Sprache ist immer die passive, während die nehmende Sprache souverän auswählt,
was sie übernimmt, wie sie es einsetzt, verändert, in eigene Sprach- und Sachstrukturen
einfügt.
Die problemlose Natürlichkeit des deutsch-russischen Sprachtransfers birgt natürlich ein
sprachhistorisches Datierungsproblem. Es geht uns dabei wie Numismatikern, die eine
Datierung von russischen Tropfenkopeken versuchen und schon glücklich sind,
wenn sie auf den Befund 14. bis 15. Jahrhundert kommen. Wann dürfte wohl die
russische Interjektion uvy aufgekommen sein? Vermutlich wurde sie vor Jahrhunderten dem
ersten O-weh-Geschrei des ersten Deutschen in Rußland abgelauscht. Und präziser können
wir zahllose weitere Wörter nicht bestimmen von denen wir nur wissen, daß sie
erstens uralt und zweitens in unverändert alltäglichem Gebrauch sind: buterbrod,
vachter, vunderkind, rampa, rjuksak, tjurma, forma (Uniform), straf, galstuk (Halstuch,
also Krawatte), jarmarka (Jahrmarkt, also Messe), rejtuzy (Reithosen) etc. Bis wann wurden
deutsche Übeltäter in einen Turm geworfen? Im Russischen besteht tjurma fort
in der Bedeutung von Gefängnis. Und wenn Lehnwörter ihre Bedeutung
wandeln, dann tun sie es im Russischen im Gleichschritt zum Deutschen: Hier wie dort waren
Schleuse oder sljuz als Wort und Begriff dasselbe, wie sie heute auch für
Türfilter in bakteriologischen Forschungsstätten stehen.
Mit der deutschen Sprache gehen Russen mitunter betont lakonisch um: Schon vor
Jahrhunderten machten sie aus dem deutschen Instrument ihr strument und
benutzten es als Synonym für Werkzeug. Neuerdings haben sie den deutschen
Nestbeschmutzer zum russischen besmutcer verknappt. Und was gar die
Wortverwendung betrifft, so geht das Russische manchmal verschlungene Wege: Was immer z.
B. ein Anschlag im Deutschen bedeuten kann Anschlag auf jemanden, auf
dem Klavier oder der Schreibmaschine, am Schwarzen Brett etc. , wird im Russischen
nicht nachgemacht; anslag bedeutet hier einfach volles, ausverkauftes Haus, egal ob für
einen Sportverein oder für eine Oper. Andererseits ist der russische durslag wie der
deutsche Durchschlag eine lästige bürokratische Pflichtübung.
Diese größeren oder kleineren Bedeutungswandlungen sind per se interessant, werden aber
überboten von dem souveränen Esprit, mit dem die russische Presse mitunter Germanismen
einsetzt. Als Putin im August 1999 plötzlich russischer Premier wurde, präsentierte sie
ihn als klonprinc, was erheblich tiefgründiger als etwa Kronprinz war, zudem ein
bezeichnendes Licht auf Jelzins Rolle bei dieser Inthronisierung warf. Als Putin später
zur Präsidentschaft ansetzte, durchforstete man die gesamte deutschsprachige
Zeitungslandschaft Europas (...bis Liechtenstein) nach Urteilen über ihn,
fand überwiegend positive und stellte diese Funde unter den lakonischen Titel obermens.
Als Präsident Putin erstmalig Visite in Berlin machte, erblickte man darin eine Rückkehr
ins Vaterland. Und als schließlich unübersehbar wurde, daß Präsident Putin politische
Entscheidungen am liebsten der altgedienten Kaste überließ, der in ihren hergebrachten
Sesseln sitzenden zic-fronda, da avancierte Putin umgehend zum zic-prezident.
Was also bleibt seit Peter dem Großen? Deutsch lebt bei den Russen in keiner nisa
(Nische), es ist quicklebendig und wird immer mehr trotz traur und blickrig in
jüngerer deutsch-russischer Vergangenheit. Mag Englisch auch in der Wirtschafts- und
Computerterminologie momentan stärker präsent sein, generell und im historischen Vorlauf
ist Deutsch den Russen vertraut, seit ihre Vorfahren erstmalig einen plug (Pflug) in den
Acker setzten, um von diesem dann allerlei frukty zu ernten. Und da es heute und in
Zukunft kaum noch einen slagbaum zwischen Deutschen und Russen gibt und auch anderweitig
die kircha im Dorf gelassen wird, wird uns (fast) jeder kommende Tag sprachliche und
andere Begegnungen der schönsten Art bescheren. Etwa im diesjährigen Karneval, als in
Köln und Mainz Narren, in russischen Städten aber laufar'i (Läufer) mit ihren larvy
fröhliches Chaos verbreiteten.
Wolf Oschlies (KK)
Die Zweiköpfigen kehren zurück
An der Tür zur Aula Leopoldina der Breslauer Universität wird mit den kaiserlichen
Adlern die heraldische Wahrhaftigkeit wiederhergestellt
Der schlesische und der jagellonische Adler befinden sich schon im Museum. An ihrer Stelle
erscheinen in Kürze an der Tür der Leopoldinischen Aula die zweiköpfigen kaiserlichen
Adler. Warum?
Die Tür zur Aula war in fatalem Zustand. Das Schnitzwerk war abgefallen, der rechte
Flügel verzogen, so daß er nicht mehr geschlossen werden konnte. Die Uni plante ihre
Konservierung im Zusammenhang mit der Erneuerung der gesamten Aula, aber man konnte nicht
länger warten. Die Tür ging also zur Renovierung, und an ihre Stelle wurde eine neue
eingesetzt, mit einer Tapete beklebt ...
Nun entstand die konservatorische und historische Frage: Soll das wichtigste Element
ihrer Dekoration, die zweiköpfigen Adler, die einst die Tür geschmückt haben,
wiederhergestellt werden oder nicht? erzählt Dr. Lukasz Krzywka, der
Bevollmächtigte des Rektors zu Fragen der Denkmalpflege. Während der
Vorbereitungen zum 300jährigen Jubiläum der Universität haben uns einige deutsche
Historiker Geschichtsfälschung vorgeworfen, denn an der Tür zur Aula befanden sich seit
Jahrhunderten die österreichischen Adler. Sie haben den Krieg überdauert, sogar zu
Hitlers Zeiten wurden sie nicht entfernt, und zur Zeit der Volksrepublik Polen sind sie
verschwunden.
Wie verschwunden, und wo befinden sie sich jetzt?
Das ist die Frage! Ich habe versucht sie ausfindig zu machen, bisher vergebens.
Höchstwahrscheinlich sind sie um die Wende der 40er zu den 50er Jahren während der
ersten Wiederherstellung der Aula entfernt worden. An ihrer Stelle erschienen neue Adler:
auf der einen Seite der schlesische, auf der andern der jagellonische. Im Archiv fand ich
den Bericht eines der Ausführenden. Er sagt, daß er die neuen Adler nach einem Entwurf
des Kunsthistorikers Professor Marian Morelowski angefertigt habe. Das waren merkwürdige
Adler: auf dem Band des schlesischen war kein Kreuz, und der polnische hatte keine Krone.
Erst später wurden die Wappenbilder vervollständigt. Nach dem Krieg wurde die Tür
einige Male konservatorisch behandelt, zuletzt 1982. Fast ein halbes Jahrhundert war die
Frage der hinzugefügten Adler nicht so heikel wie jetzt, wo die Universität zu ihren
Anfängen zurückkehrt und ihr 300jähriges Bestehen feiert. Wenn es so ist, dann muß man
der historischen Wahrheit treu bleiben.
Und die Wahrheit ist folgende: Die zweiköpfigen Adler mit den Initialen L I,
das ist Leopoldus Primus, die zusammen ein U, den ersten Buchstaben von
Universitas, bilden, waren anfänglich das Wappen der Breslauer
Jesuitenuniversität, erklärt Dr. Krzywka. 1741 schrieb der Breslauer Arzt Kundmann, die
Adler seien der Universität als Akt der Gnade Seiner Kaiserlichen Majestät
verliehen worden. Man kann sie an vielen Stellen dieses Barockgebäudes wiederfinden.
Wiederhergestellt werden also nicht die kaiserlichen habsburgischen Adler, sondern das
ursprüngliche Wappen der Universität.
Die Barockadler wurden nicht wiedergefunden. Daher mußten sie anhand fotografischer
Dokumentation rekonstruiert werden. Sehr gute Fotos des Zweiköpfigen an der
leopoldinischen Tür befinden sich im Herder-Institut in Marburg. Die Renovierung wird
etwa 6000 Euro kosten. Die Ausschreibung hat die Konservierungsfirma von Marta
Zukowska-Bosa gewonnen. Die Tür soll am 15. April fertig sein, also kurz vor dem Treffen
der Ehrendoktoren der Universitäten Breslau und Oppeln.
(Übersetzung aus Gazeta Wyborcza, Breslau, vom 9. Februar 2004)
(KK)
Werner Bader zeigt Kirchen im Havelland
Der Journalist und Buchautor Werner Bader, Vorstandsmitglied der Stiftung Ostdeutscher
Kulturrat, der nach der Wende in seine brandenburgische Heimat gezogen ist, hat in Görne
die Galerie im Grafenstall gegründet, wo am Himmelfahrtstag eine
Fotoausstellung über Kirchen im Havelland eröffnet wird.
Die Ausstellung, die derzeit in Vorbereitung ist, umfaßt Fotos von 118 havelländischen
Kirchen, zusätzlich eine Reihe von interessanten Innenaufnahmen.
Der Bilderreigen beginnt mit der Kirche in Bahnitz und endet mit der in Zollchow.
Natürlich ist die Rathenower Sankt Marien-Andreas-Kirche mit und ohne Turmspitze zu
sehen.
Fotografiert hat Torsten Lemke von den Rathenower Fotofreunden, der auch für die
Märkische Allgemeine tätig ist. Einige Maler haben Arbeiten mit kirchlichen
Motiven zur Verfügung gestellt.
Maler der Region sind zudem aufgerufen, sich an dieser Schau zu beteiligen. Gesucht werden
außerdem Kirchenmodelle, die in der Ausstellung gezeigt werden können (Tel. 03 32 35 / 2
29 11). Alte Kirchenfotos werden auch käuflich zu erwerben sein.
Die theologische Beratung bestreitet Pfarrer Martin Heinze, der ab dem 1. April 2004 die
Kirchengemeinde Görne betreuen wird und auch zur Eröffnung am 20. Mai eine kirchliche
Andacht hält.
(KK)
55 x 32,80 mm Gedenken an Paul Ehrlich
Die Deutsche Post erinnert mit der Herausgabe einer Briefmarke an den 150.
Geburtstag des Mediziners und Arzneimittelforschers
Am 11. März 2004 erinnert die Deutsche Post mit der Herausgabe einer Briefmarke an den
150. Geburtstag des Mediziners und Arzneimittelforschers Paul Ehrlich, der 1854 in
Schlesien geboren wurde.
In Strehlen bei Breslau erblickt er am 14. März 1854 das Licht der Welt, seine Eltern
sind die Kaufsmannstochter Rosa geb. Weigert und der jüdische Likörfabrikant Ismar
Ehrlich. Sie betreiben eine Gastwirtschaft mit Likörbrennerei und Lotterieannahmestelle.
Sohn Paul besucht zunächst in Breslau von 1864 bis 1872 das Sankt
Maria-Magdalena-Gymnasium, dem sich von 1872 bis 1877 ein Medizinstudium an den
Universitäten Breslau, Straßburg, Freiburg und Leipzig anschließt. Es folgt 1878 die
Promotion in Leipzig, die Dissertation trägt den Titel Beiträge zur Theorie und
Praxis der histologischen Färbung und enthält u. a. die Entdeckung der Mastzellen.
Er wird Assistent und später Oberarzt an der Charité in Berlin. Dort schafft er mit der
Einfärbung von Blutkörperchen die Grundlagen der modernen Hämatologie. 1882 beginnt
seine Zusammenarbeit mit Robert Koch. Die Forschungen auf dem Gebiet der Farbstoffe
(Färbung von bakteriellen Erregern) sind wesentliche Beiträge zur Diagnostik von
Blutkrankheiten, er befaßt sich mit Vitalfärbung mittels Methylenblau und wird 1884 mit
dem Professorentitel ausgezeichnet.
1883 heiratet er die Industriellentochter Hedwig Pinkus, mit der er zwei Töchter hat.
1887 wird er Privatdozent für innere Medizin an der Universität Berlin, der Titel seiner
Habilitationsschrift lautet Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus. Eine
farbenanalytische Studie. 1889 nimmt er Abschied von der Charité für einen
längeren Aufenthalt im Süden, in Ägypten und anderen Ländern, u. a. wegen einer
Lungentuberkulose, die er sich im Laboratorium zugezogen hat.
Von 1890 bis 1895 arbeitet er mit Emil von Behring zusammen. Es ist der Beginn der
Immunitätsforschung mit der Entwicklung wirkungsvoller Immunisierungsprotokolle zur
Gewinnung von Heilsera. Aus seinen Beobachtungen bei der Erforschung der Wirkung von Sera
und Toxinen entsteht die Seitenkettentheorie als erstes konsistentes Konzept der
Immunologie.
Von Robert Koch wird er 1891 an das neu gegründete Institut für Infektionskrankheiten in
Berlin (Robert-Koch-Institut) berufen. Er beschäftigt sich mit der Gewinnung von
Diphtherieserum, seiner Konzentrations- und Wertbestimmung. Dabei geht es um die Schaffung
einer international anerkannten Maßeinheit. Es folgen erste Schritte in der Chemotherapie
beim Einsatz von Methylenblau zur Malariatherapie am Klinikum in Moabit, später Versuche
mit Trypanrot, beides bleibt ohne Erfolg. 1896 wird er auf Vorschlag des preußischen
Ministerialdirektors Althoff zum Leiter des neu geschaffenen Instituts für Serumprüfung
und Serumforschung in Steglitz bei Berlin berufen. 1899 folgt der Umzug des Berliner
Instituts nach Frankfurt. Ehrlich übernimmt die Leitung des jetzt Königlichen Institutes
für experimentelle Therapie, dem auch die staatliche Kontrolle der im Handel befindlichen
Heilsera anvertraut wird.
Paul Ehrlich ist einer der ersten Wissenschaftler, die sich 1901 mit der Krebsforschung
befassen, 1902 läßt er auf eigene Kosten eine Abteilung für Krebsforschung einrichten.
1903 wird er mit der preußischen Großen Goldenen Medaille für Wissenschaft, mit der vor
ihm nur Rudolf Virchow ausgezeichnet worden ist, geehrt. 1904 beginnt er mit Arbeiten zur
experimentellen Chemotherapie von Trypanosomeninfektionen. Am 11. Dezember 1908 wird ihm
der Nobelpreis gemeinsam mit Elia Metschnikow, dem Entdecker der Phagozytose, zuerkannt.
1909 wird das Salvarsan als Mittel zur Behandlung von Syphilis entdeckt. Wichtigen Anteil
an diesem Erfolg hat Sachahiro Hata, Paul Ehrlichs japanischer Mitarbeiter im Labor. Es
folgt 1910 der Beginn der Chemotherapie von Syphilis mit Salvarsan.
1911 erhält Paul Ehrlich die höchste zivile Auszeichnung des preußischen Staates, die
Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat Exzellenz, es folgt
1914 die Ernennung zum Ordinarius an der neuen Frankfurter Universität. Nach schwerer
Krankheit stirbt der unermüdliche Forscher am 20. August 1915 in Bad Homburg. Auf dem
israelitischen Friedhof in Frankfurt am Main findet er seine letzte Ruhestätte.
Im Mehrfarbenoffsetdruck ehrt die Deutsche Post damit einen weiteren Wissenschaftler aus
Schlesien. Die Marke zeigt neben einem Porträt von ihm das Porträt des in Westpreußen
geborenen Wissenschaftlers Emil von Behring, der mit Paul Ehrlich eng zusammenarbeitete.
Der Entwurf der Marke stammt von Ursula Maria Kahrl aus Köln, die Marke wird bei der
Giesecke & Devrient GmbH in Leipzig auf DP-2-Papier im Format 55 x 32,80 mm
hergestellt und trägt die Wertstellung von 1,44 Euro.
Michael Ferber (KK)
Die Zweifel halten die Menschheit zusammen
Im Interview Sir Peter Ustinov, ein Mensch der Vereinten Nationen,
niemals Politiker, immer politisch
Wenigen ist bekannt, daß die Wurzeln des berühmten Schauspielers Sir Peter Ustinov in den Kern der deutsch-russischen Beziehungen hineinreichen, da die Familie seines Vaters viele Generationen in St. Petersburg gelebt hat und der Künstler seine Weltläufigkeit heute noch auf diesen Ursprung bezieht, den man lange verschüttet glaubte. Timo Fehrensen hat aus dem gerade erschienenen Buch: Die Zweifel halten die Menschheit zusammen. Henning von Vogelsang und Timo Fehrensen im Gespräch mit Sir Peter Ustinov. Gerhard Hess Verlag, Ulm 2003, einen Auszug für uns zusammengestellt.
Sir Peter Ustinov, getauft in Schwäbisch Gmünd, aufgewachsen in England, lebend in
der Schweiz. Hat ein solcher Mensch ein Nationalgefühl?
Ich bin wirklich ein Mensch der Vereinten Nationen. Ich empfinde Grenzen nicht als solche.
Insofern ist es auch für mich widersinnig, mich einer bestimmten Nation zurechnen zu
wollen. Ich habe gute Verbindungen zu Deutschland, ich habe viel in England gearbeitet,
auf der ganzen Welt. Dennoch ist es für mich unglaubwürdig, wenn ich mich als Patriot
irgendeines Landes fühlen sollte.
Wie verhält sich der Kosmopolit zu den Entwicklungen dieser Tage?
Ich habe vor kurzem einen Lehrstuhl gegen Vorurteile ins Leben gerufen. In Budapest ist
bereits eine erste Stelle gegründet worden. Gemeinsam mit den Professoren bemühe ich
mich, nicht nur akademisch dieses Feld zu erforschen, sondern zugleich aktiv gegen die
verheerenden Auswirkungen jeglicher Vorurteile anzugehen. Ein Nationalismus, wie er in
diesen Tagen in den USA stattfindet, ist wirklich erschreckend. Ich habe immer gesagt,
daß ich niemals einen Fahneneid leisten könnte. Ich wüßte ja nicht, ob nicht etwa
George W. Bush die Fahne halten würde. Insofern ist es für mich ziemlich schauerlich,
was da stattfindet.
Was kann der Künstler, was kann vor allem der Essayist Ustinov dagegen tun?
Ich habe nie gehofft, mit meinen Arbeiten irgend etwas verändern zu können. Ich habe
mich stets zu Wort gemeldet, tue dies in vielen Zeitungen auch heute noch. Aber ich weiß,
daß ein solches Engagement letztlich keine konkreten Folgen haben kann. Deswegen versuche
ich jetzt gerade durch meine Arbeiten, wie ich es momentan mit den
Universitätseinrichtungen gegen Vorurteile versuche, etwas Positives zu erreichen. Und
gerade in Deutschland findet meine Stiftung großen Anklang. Hier ist es letztlich ein
Werk der einzelnen Menschen, positive Ideen fortzusetzen.
Sie haben in Filmen wie etwa in Romanoff und Julia durchaus auch politische
Satire präsentiert. Gleichwohl sind Sie ein eher unpolitischer Künstler. War das
beabsichtigt?
Ich habe mich zu Wort gemeldet, wenn es nötig gewesen ist. Ich habe beispielsweise
Michail Gorbatschow schon zu einer Zeit unterstützt, als dies von vielen noch sehr
kritisch beäugt wurde. Ich habe von Anfang an gewußt, daß sein Weg der richtige ist.
Ich habe ihm vertraut, als dies noch sehr wenige getan haben. Letztlich hat er gezeigt,
daß man sehr wohl in einem starren System Positives anstoßen kann, wenn man den nötigen
Willen dazu hat. Freilich war er da ein Ausnahme-Politiker.
Und Sie selbst: Sie haben niemals Politiker werden wollen?
Wissen Sie, ich hatte kein Interesse daran, ständig Recht haben zu müssen. Ich schätze
Persönlichkeiten, wie etwa den früheren kanadischen Premierminister Pierre Trudeau, der
eine sehr unkonventionelle Art zu agieren hatte. Aber im allgemeinen halte ich mich von
diesem Geschäft gerne zurück.
Gibt es weitere vorbildliche Politiker für Sie?
Beispielsweise noch Nelson Mandela. Es waren letztendlich drei Menschen, Bischof Tutu,
Kofi Annan und eben Mandela, die dafür gesorgt haben, diesem von Aids, Kriegen und
Hungersnöten geplagten Kontinent so etwas wie Hoffnung zu geben.
Sie leben seit vielen Jahren in der Schweiz, reisen nach wie vor viel in der Welt. Was
kann Ihre Arbeit als UNICEF-Botschafter bewirken?
Ich habe vier Kinder, die alle mehr oder weniger intelligent und mehr oder weniger
erfolgreich sind. Ich habe dem Schicksal dankbar zu sein, vier solche prachtvolle Kinder
zu haben. Eine solche Erfahrung muß man weitergeben. Von daher ist es mir sehr wichtig,
gerade in einer solchen Aktion wie UNICEF tätig geworden zu sein, für die ich nun schon
seit Jahrzehnten arbeite.
Der Weltbürger Sir Peter Ustinov wird aber wohl nicht überall verstanden?
Das ist durchaus richtig. Gerade Kinder sprechen ja nicht auf der ganzen Welt Deutsch,
Englisch oder Französisch. Also habe ich mir das Bellen angewöhnt. Denn wenn man Kindern
in einem solch spielerischen Tonfall gegenübertritt, dann können sie von vornherein
schon mal kein allzu großes Mißtrauen schöpfen. Und die Hundelaute wirken nun mal am
besten. (Er lacht.)
Sie selbst waren fast den gesamten Zweiten Weltkrieg hindurch Soldat. Was hat Sie diese
Erfahrung gelehrt?
Ich habe vor allen Dingen erfahren, wieviel Beschränktheit es im Militär geben kann.
Wenn man mit Bajonetten in Sandsäcke stoßen muß und dann von seinen Vorgesetzten zu
hören bekommt, daß nur ein toter Deutscher ein guter Deutscher sei, da kommt man schon
ins Nachdenken. Wer jemals die Stupidität mancher Militärs erfahren hat, der kann nicht
ernsthaft glauben, daß Kriege oder militärische Einrichtungen der Zivilisation der
Menschheit dienen.
Gleichwohl haben Sie im Krieg Propagandafilme gedreht.
Na ja, Propagandafilme. Wir haben damals das deutsche Beispiel des Ohm Krüger
gesehen. In diesem Film wurde Königin Victoria ständig besoffen dargestellt, und der
junge Churchill hat seinen lüsternen Hunden Fleischstücke zugeworfen. Das war ja nun
eher ein Witz. Da wollte ich wenigstens etwas Humor darin verwenden, um harmlose Filmchen
für das Militär zu drehen. Gleichwohl hat auch das englische Militär nicht viel mehr
Humor gehabt als das deutsche. Nachdem ich einen Film gedreht hatte, war ich gespannt auf
das Urteil des Kommandeurs. Statt mir etwas zu sagen, ging er in den Vorführraum, um dem
Techniker zu dem gelungenen Streifen zu gratulieren. Soviel zu der Intelligenz des
gewöhnlichen Militärs.
Sie haben sich mittlerweile sehr auf die Musik konzentriert, gehen auf Tourneen mit
Orchestern, lesen eigene Novellen zu Klängen von Beethoven oder Mussorgski. Ist das eine
Flucht vor der Politik?
Absolut nicht. Aber viele meiner Vorfahren waren Musiker. Meine Mutter, eine sehr bekannte
Bühnenbildnerin, hat mich dafür begeistert, Schauspieler zu werden. Und die Arbeit mit
den Orchestern ist stets interessant, zumal wenn ich die Möglichkeit habe, eigene Texte
zu bereits berühmten Werken zu schreiben.
Nach wie vor gibt es den Anti-Deutschland-Reflex in England: Wie geht der englische
Staats- und Weltbürger Ustinov damit um?
Manche Engländer sind verblüfft, wenn ich ihnen erkläre, daß auch Deutsche eine sehr
spezielle Art von Humor haben. Glauben möchten sie das nicht immer, aber da gibt es sehr
viele dumme Meinungen, zumal wenn sie in einem Blatt verbreitet werden wie der
Sun des perfekten Opportunisten Rupert Murdoch, eines australischen
Staatsbürgers, der, um Steuern zu sparen, Amerikaner wurde. Und an der Wahrheit ist
dieser Mensch bestimmt nicht allzu interessiert. Es gibt nach wie vor sehr viele dumme
Pamphlete in dieser Richtung. Aber allzu ernst zu nehmen sind diese nicht mehr.
Wie stehen Sie zum heutigen Rußland? Es gibt viele intellektuelle Kritiker, die dem
russischen Präsidenten Putin, und das gewiss nicht zu Unrecht, seine brutale
Vorgehensweise in Tschetschenien vorwerfen.
Ich würde mich freuen, wenn diese Leute, diese Philosophen, mit genau demselben Ernst die
Entwicklungen in Israel kritisieren würden. Dort wird seit über einem halben Jahrhundert
brutal gekämpft. Dort finden auf beiden Seiten nach wie vor sehr schlimme Aktionen
menschenrechtsverletzender Art statt. Aber von den Putin-Kritikern kommen nur sehr wenige
auf die Idee, diese Politik zu kritisieren. Ich habe Putin vor einiger Zeit erlebt. Er ist
ein sehr unprätentiöser Mann, der mir gewiß nicht unsympathisch ist.
Wenn man die Situation gerade in Nahost beobachtet, kann man dann immer noch Optimist
sein?
Natürlich kann man Optimist sein. Denn ich glaube, mehr oder weniger intelligente Leute
sind pragmatisch genug, ihre Meinung zu ändern. Ich glaube, daß die ganze Haltung von
Scharon auf einer Tatsache basierte, nur nicht, daß er aufgrund seiner Mentalität in der
Opposition sein würde. In der Regierung ist er jetzt in eine ganz andere Politik
eingebunden. Ich habe diesen Mann einmal beobachtet, sogar in einem Hotel in Tel Aviv für
ihn Platz gemacht für ihn am Frühstückstisch. Er hat mich nicht einmal beachtet. Bis
heute bedauere ich, daß ich ihm kein Bein gestellt habe. Das ist eine der verpaßten
Gelegenheiten der Weltgeschichte.
(KK)
Siebenbürgerin mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet
Mit 1,55 Millionen Euro ist der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der
höchstdotierte Forschungspreis. Zu den elf diesjährigen Preisträgern gehört die in
Heidelberg forschende Neurobiologin Hannah Monyer, geboren am 3. Oktober 1957 in
Großlasseln, Siebenbürgen, Rumänien.
Den Preis erhält die Neurobiologin für ihre Forschungsarbeit auf dem Feld der
molekularen Grundlagen der Gehirnaktivitäten. Monyer untersucht, wie sich Nervenzellen im
Verbund zeitlich aufeinander abstimmen, so daß im Gehirn zusammenhängende, sinnvolle
Bilder der Außenwelt entstehen. Zum Nachweis neuronaler Aktivität führte sie ein
gentechnisches Verfahren ein, durch das bestimmte Nervenzellen ein fluoreszierendes
Eiweiß abgeben, heißt es in der Pressemitteilung der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, und weiter: An ihren Arbeiten besticht besonders der
integrative Ansatz, bei dem modernste molekularbiologische Techniken mit
systemphysiologischen Ansätzen verbunden werden.
Seit dem Mai 1999 leitet Professor Dr. Hannah Monyer als Ärztliche Direktorin die
Abteilung Klinische Neurobiologie der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg. In
Heidelberg hatte sie bereits ihr Medizinstudium absolviert und promoviert, ehe die
Stationen Mannheim, Lübeck und Stanford/Kalifornien folgten. Entgegen der in der
Pressemeldung der Deutschen Forschungsgemeinschaft formulierten Identifikation als
gebürtige Rumänin bezeichnet sich Hannah Monyer selbst als Siebenbürger
Sächsin aus Rumänien. In Großlasseln geboren, besuchte sie ab dem 14. Lebensjahr das
Spezialgymnasium mit englischer Unterrichtssprache in Klausenburg. Den multiethnischen
Austausch jener Jahre empfindet sie noch heute als prägend: Für mich bedeutet es
einen großen Reichtum, in Siebenbürgen geboren zu sein. 1975 siedelte ihre Familie
in die Bundesrepublik aus.
Die ihr als Leibniz-Preisträgerin zuerkannte Fördersumme von 1,55 Millionen Euro
beabsichtigt die Neurobiologin in den Aufbau zweier Nachwuchsgruppen mit jeweils fünf bis
sechs Wissenschaftlern (Elektrophysiologen und Verhaltensforscher) zu investieren.
Hochtechnologisches For-schungsgerät ist besonders teuer, so daß das Preisgeld sehr
willkommen ist.
Christian Schoger in der Siebenbürgischen Zeitung (KK)
Bücher und Medien
Kommunistischer Abenteurer, Kuchenbäcker und Poet
dazu
Walter Fähnders / Andreas Hansen (Hgg.): Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer.
Franz Jung in der Literaturkritik 1912-1963. Aisthesis, Bielefeld 2003, 540 Seiten, 65
Abb., geb. 50 Euro
Der kommunistische Schriftsteller Franz Jung war Börsenspekulant, Säufer und
Weiberheld, gläubiger Katholik und Oberschlesier aus Neisse in Oberschlesien, wüster
Randalierer in einer schlagenden Verbindung, Klavierspieler im Kinotheater,
Versicherungsbetrüger, Parkbankschläfer, Kartoffelschäler und Tellerwäscher. Er war
Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, entführte einen Fischdampfer nach Murmansk, wurde
von Lenin in Moskau empfangen und saß in Spandau in Festungshaft. Neben George Grosz,
John Heartfield, Erwin Piscator und Richard Huelsenbeck hat er als Gründungsvater des
Dadaismus zu gelten. Franz Jung leitete die Zündholzproduktion in Nowgorod, war blinder
Passagier, Emigrant, immer wieder inhaftiert, Kuchenbäcker für die italienische
Landbevölkerung und verfaßte quasi zwischendurch 30 Bücher: Dramen, Romane,
Reiseberichte und manches andere mehr.
Franz Jungs Leben war unstet, verwegen, rastlos und schräg bis zu seinem Tode 1963, aber
seine so schillernde, widersprüchliche und irrlichternde Biographie sorgte zumindest
dafür, daß er als eines der Enfants terribles der zwanziger Jahre nicht völlig in
Vergessenheit geriet. Das Zeugnis von Fritz J. Raddatz: Franz Jung einer der
unbekanntesten und lesenswertesten Autoren deutscher Sprache in der ersten Hälfte dieses
Jahrhundert, ist nachdrücklich zu unterstreichen. Gleichwohl setzte eine
Renaissance der Werke Jungs durch Lektüre bislang nicht ein trotz einer liebevoll
edierten vierzehnbändigen Werkausgabe im freilich eher unauffälligen Hamburger
Nautilus-Verlag.
Immerhin ist Franz Jung Gegenstand der Verehrung einer besonders umtriebigen
Gemeinde, die sich um den Osnabrücker apl. Prof. Walter Fähnders und den
Berliner Literaturwissenschaftler Andreas Hansen gruppiert. Von ihnen liegt nun eine
editorische Spezialität vor, die nur wenigen Dichtern zuteil wird. Wer nicht seit jeher
zu den oberen Zehntausend der Belletristik zählt, benötigt schon viel Glück und in
aller Regel auch die oben angesprochene Gemeinde, um dereinst mit einer
Werkausgabe zu neuem Ansehen zu gelangen. Im Fall Jung: erfolgt. Glücklicher noch darf
sich schätzen, wer es zu einer Personalbibliographie aller veröffentlichten Werke
schafft. Im Fall Jung: gleichfalls erfolgt. Fähnders und Hansen aber verhalfen nun Franz
Jung zu einer Textsammlung, die sämtliche greifbaren Rezensionen, die zu Lebzeiten Jungs
erschienen sind, nicht allein nachweist, sondern im Volltext sammelt und als chronologisch
sortierten Nachdruck bündelt. Zu 30 selbständigen Publikationen Jungs fanden sich mehr
als 300 Besprechungen und das Kalkül der Herausgeber, auf dieser
rezeptionsgeschichtlichen Welle das Interesse an Jung zu befördern, dürfte womöglich
aufgehen. Mit dem stark biographischen Interesse an Jung einher gingen lange Zeit
auch Desinteresse und Abwertung seines literarischen Oeuvres, heißt es im Nachwort
der Herausgeber; die Kritiken der Werke Jungs aber sind so lesenswert, daß Neugierde auch
bei dem alsbald einsetzen dürfte, der nie zuvor etwas von Jung gelesen hat. Hierfür
garantieren freilich auch die Qualitäten der Rezensenten wie Kurt Hiller, Kurt Pinthus,
Robert Musil, Alfred Wolfenstein, Otto Flake, Walter Semer, Franz Pfempfert, Max
Herrmann-Neisse, Oskar Loerke, Wieland Herzfelde, Kasimir Edschmid, Hans Sahl und Julius
Bab.
Das Spektrum der Presse ist politisch breit, die Urteile über Franz Jungs Schaffen
reichen von verzückter Begeisterung bis hin zu gehässiger Ablehnung. Die mal knappen,
mal ausufernd ausführlichen 300 Rezensionen, Buchankündigungen, Verlagsanzeigen,
Klappentexte und Nekrologe belegen die Beachtung Jungs über einen Zeitraum von immerhin
50 Jahren hinweg und wie zumeist ist auch diese Anthologie zugleich ein
(sprunghafter) Spiegel deutscher Geschichte. Der Band ist hervorragend ediert, mit
Abbildungen der Erstausgaben Jungs, Register und peniblen bibliographischen Nachweisen
versehen; vor allem aber verdient die Methode noch einmal besonders hervorgehoben und zur
Nachahmung empfohlen zu werden. Ein gewiß mitunter sperriges, aber entdeckenswertes Werk
wie jenes von Franz Jung auf dem Wege des gesammelten Wiederabdrucks der zeitgenössischen
Kritik zu popularisieren, ist eine pfiffige Idee. Für Leser der KK ist der Band durch die
Präsenz schlesischer Autoren (H. Chr. Kaergel, K. Schodrok, A. Hayduk, Fr. Kaminsky, A.
Lubos) von besonderem Gewinn.
Martin Hollender (KK)
Wiedergewinnung der Provinz im Literarischen und
Ästhetischen
Eine Provinz in der Literatur. Schlesien zwischen Wirklichkeit und Imagination.
Herausgegeben von Edward Bialek, Robert Buczek und Pawel Zimniak. Wroclaw Zielona
Gora (Breslau Grünberg), Verlag Oficyna Wydawnicza, ATAT Wroclawskie Wydawnictwo
Oswiatowice 2003, 370 S.
In einem erfreulich knapp gefaßten Vorwort von Pawel Zimniak, einem der drei
Herausgeber, heißt es: Deutlich sichtbar zeichnet sich (nicht nur im
deutschsprachigen Literaturbetrieb) eine Tendenz ab, die man als Bewegung zur
Wiedergewinnung der Provinz im Literarischen und Ästhetischen bezeichnen könnte. Das
Phänomen der Provinz als Nahraum, oft mit dem Topos der verloren gegangenen Provinzen
verbunden, legt offen, dass die Kategorie der Räumlichkeit als konzeptioneller
Schlüsselbegriff, ob im Kontext eines einzelnen Ortes oder einer Provinz begriffen,
literarisch und literaturwissenschaftlich immer noch interessant sein kann. Die Orte
und die Provinz, die im vorliegenden Sammelband thematisiert worden sind, heißen zum
Beispiel Schymanowitz oder Neurode, immer aber Schlesien.
Wie überhaupt dieser Sammelband, an dem 26 Autoren mitgewirkt haben, zustande gekommen
ist, wird nicht mitgeteilt, wohl aber, daß das Buch finanziert (wurde) aus den
PHARE.-CBC-Fördermitteln der EU, und es wurde, dies sei vorweggenommen, im Geiste
der Europäischen Gemeinschaft ein hervorragendes Projekt ermöglicht, das sich durch das
Fachwissen der Autoren auszeichnet. Unter den Autoren sind 19 polnische Germanisten, eine
französische Verfasserin (mit einem polnisch klingenden Namen) von einer französischen
Universität und sechs deutsche Fachwissenschaftler.
Die berühmten oder auch nur bekannten Schriftsteller Schlesiens haben sich hier ein
Stelldichein gegeben. Allerdings ist Joseph von Eichendorff, um auf das 19. Jahrhundert zu
verweisen, nicht behandelt worden und Gerhart Hauptmann nur in einem registrierenden
Aufsatz Gerhart Hauptmann im Lichte der nationalsozialistischen Presse ,Krakauer
Zeitung' (1939-1945) und ,Ostdeutscher Beobachter' (1939-1945) im Vergleich. Diese
Anmerkung soll jedoch dem Lob für den großartigen Band keinen Abbruch tun. Aus dem 18.
und 19. Jahrhundert begegnen wir dem Philosophen Christian Garve, Cark Wilhelm Salice
Contessa, Karl von Holtei und Gustav Freytag. Der Hauptakzent liegt jedoch auf dem 20.
Jahrhundert.
Das Aufregende und bis heute Singuläre der einzelnen Aufsätze ist der Umstand, daß sich
hier, mit ganz wenigen Ausnahmen, polnische Germanisten mit ausgezeichneten
Detailkenntnissen schlesischen Schriftstellern gewidmet haben. Es seien genannt Arno
Ulitz, Egon H. Rakette, Max Tau, Gerhart Pohl, Hans Zuchhold und Friedrich Bischoff, und
von den lebenden Schriftstellern Heinz Piontek, der inzwischen leider verstorben ist,
Dagmar von Mutius, Werner Heiduczek, Armin Müller und Dietmar Scholz, der gerade sein 70.
Lebensjahr vollendet hat. Die Schriftsteller Dagmar von Mutius, Werner Heiduczek und Armin
Müller, wie auch Günter Anders und Arno Schmidt werden von deutschen Verfassern
behandelt, während Dietmar Scholz von Pawel Zimniak, Universität Grünberg, dargestellt
wird. Diese ist unter den polnischen Universitäten am häufigsten genannt, auch der
zweite Herausgeber, Robert Buczek mit seinem Beitrag Heinz Pionteks Suche nach
seiner eigenen Identität, stammt von der Universität Grünberg. Der dritte
Herausgeber, Eduard Bialek mit seinem Beitrag über Hans Zuchhold, kommt aus Breslau, aber
auch die Universitäten Oppeln und Kattowitz, Posen und Lodz sind präsent.
Das Thema heißt immer Schlesien im Werk der Autoren, wobei besonders herausgestellt
werden soll, daß Eberhard Günther Schulz von der Universität Duisburg (Präsident der
Stiftung Ostdeutscher Kulturrat) nicht so sehr den Philosophen und Übersetzer Christian
Garve vorstellt, als, dem Thema gehorchend, den Mann aus Breslau, der über seine Heimat
Schlesien, durch viele Zitate nachgewiesen, liebevoll geschrieben hat. Aber
selbstverständlich erhält der Band auch polnische Schriftzüge, so in der Vorstellung
der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk, deren Roman Taghaus Nachthaus
in Neurode spielt, oder in der Vorstellung des aus dem Kreis Groß Strehlitz stammenden
Jan Gorczol, oder in der kritischen Behandlung von Karl Schodrok und seinem aus damaliger
Sicht zu begreifenden Zickzackkurs während der Hitler-Diktatur in und für Oberschlesien.
Wer schreibt hierzulande über Egon H. Rakette oder Hans Zuchhold? Grazyna Barbara
Szewczyk und Edward Bialek tun dies, wobei die polnischen Autoren keineswegs groben
Anstoß nehmen an manchem, was an Gefälligkeiten gegenüber dem nationalsozialistischen
Zeitgeist erinnert. Leider erscheint die Kulturzeitschrift
Schlesien seit 1995 nicht mehr, denn man wünschte sich all diese Aufsätze,
vielleicht zuvor schon, auch hier veröffentlicht, nicht zuletzt um der geistigen
Auseinandersetzung willen. Es sei nur unter anderem auf die Arbeiten über Carl Wilhelm
Salice Contessa verwiesen oder auf die über Else Ury, die Bestseller-Autorin der zehn
Bände Nesthäkchen, aus einem jüdischen Hause in Berlin stammend, in
Krummhübel im Riesengebirge mit Wohnsitz zu Hause, 1943 in Auschwitz ums Leben gekommen
(in diesem Buch die Vorstellung einer Erzählung aus dem Riesengebirge, Titel
Das Rosenhäusel) oder auf Olga Tokarczuk aus dem heute polnischer
Souveränität unterstellten Niederschlesien.
Man kann für dieses Buch mit den mehrheitlich von Polen dargestellten und profilierten
schlesischen Schriftstellern nur dankbar sein und den Autoren Lob und Anerkennung
aussprechen. Sicher fehlt aus dem 20. Jahrhundert auch mancher, es seien nur Jochen
Klepper, August Scholtis und Horst Lange genannt, aber das Wichtige und Bedeutsame ist,
daß es polnische Germanisten gibt, die sich mit schlesischen Schriftstellern gründlich
und persönlich engagiert beschäftigen. Das schlesische Erbe wird wieder lebendig, die
polnischen Autoren, dazu noch einige sachkundige deutsche Stimmen, haben dies in dem Band
über Schlesien im Werk seiner Schriftsteller geradezu dokumentarisch vorgestellt.
Herbert Hupka (KK)
Reisen Sie mit Gott und langen Unterhosen
nach Moskau
Andreas Meyer-Landrut: Mit Gott und langen Unterhosen, edition q, Berlin 2003,
295 S. mit 110 Abbildungen.
In dem Biberpelz, in dem sein Großvater bei 25 Grad minus im Januar 1945 aus dem
Warthegau, wohin die Baltendeutschen 1939 umgesiedelt worden waren, nach Westen floh,
reiste Andreas Meyer-Landrut 1957 als junger Botschaftssekretär nach Moskau. Ein Freund
hatte ihm vorher telegraphiert: Reisen Sie mit Gott und langen Unterhosen.
Diese Empfehlung wurde zum Titel des Buches, in dem der 1929 in Reval geborene
Deutschbalte Meyer-Landruth sein berufliches Leben als deutscher Diplomat, zweimaliger
Botschafter in Moskau, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und schließlich Chef des
Bundespräsidialamtes erzählt.
Der Autor räumt mit der hitlerschen Legende auf, die Deutschbalten seien heim ins
Reich geholt. In Wahrheit war es eine Reise ins Blaue unter dem Hakenkreuz.
Sie endete im besetzten Polen, von wo aus wir im Januar 1945 fliehen mußten, mit drei
Koffern und einem Rucksack. Meyer-Landruth beschreibt die Flucht zu Beginn seines
Buches. Sie prägte sein Leben, half ihm zu realistischen Einschätzungen bei späteren
Verhandlungen mit den Sowjets, die der Bonner Politik von großem Nutzen waren. Er spricht
Russisch und Estnisch und konnte so nach der Wende auch den estnischen Präsidenten
Lennart Meri freundschaftlich beraten. Für seine Hilfe beim estnischen
Unabhängigkeitsprozeß wurde der seiner Heimat bis heute verbundene deutsche Diplomat mit
dem an den Deutschen Orden erinnernden Marienorden ausgezeichnet.
Während seiner ganzen beruflichen Zeit in Moskau mit Unterbrechungen von 1957 bis
1989 begegnete Meyer-Landruth das Schicksal der Rußlanddeutschen. In der deutschen
Botschaft lagen Bibeln für sie bereit, wenn man ihnen zunächst auch sonst wenig helfen
konnte. Als Sonderbotschafter sollte Rolf Lahr 1957 an der Moskwa umsetzen, was Adenauer
bei seinen Verhandlungen angestoßen oder erreicht hatte. Als er das Thema Rückführung
der Rußlanddeutschen erstmals zur Sprache brachte, antwortete Minister Gromyko, wie
Mayer-Landruth miterlebte: Deutsche? Es gibt keine Deutschen in der
Sowjetunion. Die deutsche Botschaft führte dann ausländischen Korrespondenten
Karteischränke mit Rückführungsakten vor und erreichte, daß sich die Weltpresse des
Themas annahm. Die Prawda schäumte über diese Kellerkonferenz der Deutschen.
Auch zu Hause brachte diese Initiative Botschafter Haas nicht nur Applaus für sein
couragiertes Verhalten ein, die Bundesregierung wollte zu jener Zeit keinen Krach mit
Moskau.
Ein Photo von 1989 zeigt den Massenandrang von Rußlanddeutschen vor dem deutschen
Konsulat in Moskau. Der Bonner General-Anzeiger berichtete vom Zustand
der Verzweiflung, in dem sich Meyer-Landruth angesichts des
Dauerbrenners Familienzusammenführung und Ausreise der Rußlanddeutschen
befand. Er half, wo er nur konnte, und scheute auch vor Tricks nicht zurück, um die
sowjetischen Behörden in Einzelfällen zu überlisten.
Bundespräsident Carstens kam beim Breschnew-Besuch in Bonn auf Königsberg zu sprechen.
Den von dort Vertriebenen sei es nicht gestattet, ihre Heimat wenigstens als Touristen zu
besuchen. Der sowjetische Präsident zeigte sich ahnungslos, mußte erst seine Mitarbeiter
befragen und wechselte dann abrupt das Thema, ohne den Bundespräsidenten einer
weiteren Antwort zu würdigen.
Der Zukunft Rußlands, wo er jetzt als Berater für deutsche Unternehmen tätig ist,
beurteilt Meyer-Landruth vorsichtig. Bis es ein Pro-Kopf-Einkommen wie Portugal
erreichen wird, braucht es nach heutigen Hochrechnungen noch die Zeitspanne bis
2030.
Norbert Matern (KK)
Zeiten, in denen auch ein Abschied ein Liebesbeweis
war
Ursula Seiring: Du sollst nicht sterben. Erlebnisse einer deportierten
Ostpreußin. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn, Würzburg 2003, 152 S., 10 Euro
Unglaubliches Glück in allem kommenden Grausen hatte die junge Ursula, als sie im
Januar 1945 in die Straf- und Arbeitslager Sibiriens deportiert wurde. Wenn Sie das
alles überleben wollen, brauchen Sie schon ein ganzes Geschwader Schutzengel, hatte
ihr der kriegsgefangene deutsche Pfarrer Palm in einem Außenlager des Gulag gesagt.
Die Autorin Ursula Seiring wurde in den 20er Jahren in Schönwiese bei Guttstadt, Kreis
Heilsberg/Ostpreußen, geboren. Ihr Mädchenname lautete Goldau-Schönwiese. Sie wuchs auf
dem elterlichen Gutshof auf. 1943 machte sie in Breslau das Abitur. Ihre
Kriegsdienstverpflichtung konnte sie zu Hause auf Gut Schönwiese
praktizieren.
Im Januar 1945 war das Schicksal Ostpreußens und bald darauf ganz Deutschlands
besiegelt. Die Sowjetarmee Uberflutete Ostpreußen. Flucht und Vertreibungen
setzten ein. Es begannen die Verschleppungen der Zurückgebliebenen. In sachlich
geprägter Schilderung erzählt Ursula Seiring ihren Weg und damit verbunden den Weg
tausender Leidensgefährten in unsägliches Elend. Einige Kapitelüberschriften weisen den
Buchinhalt aus: Wie alles begann, Der Fußmarsch nach Zichenau
(Ciechanów), In den Straflagern der UdSSR, Abschied,
Endlich in Deutschland, aber nicht zu Hause.
Am 2. Februar 1945 beginnt der Marsch der Zusammengetriebenen nach Ciechanów bei
Warschau. Von hier aus geht es in Viehwaggons in die sibirische Taiga. 18 Tage dauert die
Fahrt. Sie endet vor einem Lager mit Sowjetstern, Wachen, Scheinwerfern, Baracken und
Gruben für die Massengräber. Wo das Lager geographisch genau liegt, weiß kein
Mensch. Gearbeitet wird im Wald. Bei eisiger Kälte müssen Baumstämme geschleppt
werden. Jeweils acht Frauen bilden einen Tragestock. Die Tagesverpflegung
besteht aus 125 Gramm Brot, Tee, Wassersuppe. Die täglichen Todesziffern steigen rapide.
Aber es gibt ausreichend Gefangenennachschub aus Ostdeutschland. Es ist nur das erste von
mehreren Lagern, in die Ursula eingewiesen wird. Ob Wald-, Torf- oder Moorlager, überall
werden die Deportierten bis zum Zusammenbrechen geschunden.
Eines Nachts gerät Ursula beim Gang zur Latrine mit dem Fuß in Glutasche. Die
grauenvolle Verletzung heilt nicht, weil Medikamente fehlen. Das Bein verfärbt sich. Sie
wird zur Amputation in das Gulag-Lazarett Schatura-Torf transportiert. Dort
arbeiten gefangene deutsche Ärzte, unter ihnen der Chirurg Dr. Hellmut Seiring. Ursulas
Bein kann er retten. Er gehört zum von Pfarrer Palm beschworenen
Schutzengelgeschwader.
Am 30. Mai 1949 wird sie ihn in Köln heiraten. Bis dahin aber ist noch eine mit
körperlichen Strapazen, Kummer und Mißhelligkeiten gespickte Lebensstrecke zu
überwinden. Am siebenten Hochzeitstag stirbt Hellmut Seiring an den Folgen der
Gefangenschaft. Die glücklichen Ehejahre bilden das Gerüst für die Erinnerung.
Noch aber sind beide in Schatura-Torf. Eine winzige Portion Butter erhält Ursula
täglich. Sie weiß nicht, daß es Dr. Seirings Ration ist, die ihm als Arzt gewährt
wird. Eines Tages sagt er zu ihr: Wo du bist, da bin ich zu Hause. Das ist der
Heiratsantrag für später, falls sie Sibirien lebend verlassen.
Im Herbst 1946 steht Ursula auf der Rückkehrerliste. Fahrtziel des Zuges: Frankfurt/Oder.
Plötzlich wird ihr Name gestrichen. Dr. Seiring stürzt zum Pallkownik
(Lagerkommandant). Ursulas Name wird wieder auf die Liste gesetzt. Der
Pallkownik wollte es dem Gulag-Liebespaar ermöglichen,
zusammenzubleiben. Seiring besteht darauf, daß Ursula fährt, er möchte sie in
Sicherheit wissen. Sie hat so sehnlich auf den Tag der Entlassung gewartet, und nun?
Du wirst fahren, sagt Seiring bestimmt. Auch ein Abschied ist ein
Liebesbeweis.
Die Erlebnisse in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands bilden den letzten Teil des
Buches. Ursula erlebt ein deprimierendes Land mit psychisch niedergedrückter
Bevölkerung. Trotzdem gibt es Bewährung von Mensch zu Mensch.
Im Anhang zu dieser zweiten Auflage kommen andere einstige Deportierte zu Wort. Deren
Berichte bestätigen die Qualen im Gulag. Über die in den Lagern Verstorbenen spricht
kein Mensch. Politischer Opportunismus erheischt noch heute Schweigen. Doch man kann sich
wehren, die Toten vergessen zu s o l 1 e n. Berichte wie dieser belegen es.
Esther Knorr-Anders (KK)
Mit Kinderchor und Dampfkessel kommt man der Geschichte nicht bei
Eine Viertelstunde (12. März) sollte im WDR-Fernsehen das Thema heißen
Oberschlesien wird geteilt. Mit gutem Recht darf man über die Kürze der
Sendezeit zu diesem geschichtsträchtigen Gegenstand und wider die nächtliche Plazierung
streiten. Aber es kam noch schlimmer. Der im Durchschnitt mit Oberschlesien nicht gerade
vertraute Fernsehzuschauer erfuhr gar nicht erst, wo denn dieses überhaupt liegt. Ein
landschaftliches Allerweltsbild sollte offenbar die Antwort sein. Wenn schon für eine
geographische Skizze kein Platz vorgesehen war, dann hätten zumindest einige Ortsnamen
von Oppeln über Beuthen bis Kattowitz für Aufklärung sorgen können.
Über das oberschlesische Drama mit den Fakten der Abstimmung und der deutschen Mehrheit
auf der einen und der von der Genfer Botschafterkonferenz beschlossenen Zerreißung
Oberschlesiens andererseits wurde richtig berichtet. Und den Filmarchiven ist zu
danken, daß Aufnahmen von der heftig geführten Auseinandersetzung vor der Abstimmung am
20. März 1921 gezeigt werden konnten, auch von den Zugfahrten der zur Abstimmung
berechtigten, aus der Ferne heimkehrenden Oberschlesier.
Das war es dann auch, denn in der ohnehin so knappen Sendezeit redete in einem fort ein
Pole namens Beblo, ein weiterer Pole namens Hojka kam schließlich hinzu. Eingeblendet war
dann noch zweimal der bekannte Wortführer der Polen, Wojciech Korfanty, schließlich auch
die repräsentanten der Interalliierten Kommission.
Warum sollte nicht auch die polnische Sicht der Dinge übermittelt werden? Natürlich soll
sie das. Protestierend allerdings ist zu fragen, warum nicht auch ein Deutscher das Wort
erhielt. Historisch objektiv berichtend hätte wohl Carl Ulitzka, Pfarrer und
Zentrumsabgeordneter im Deutschen Reichstag, für die deutsche Sache genannt werden
müssen. Zu den polnischen Aufständen, die aus polnischer
Geschichtsbetrachtung gewürdigt wurden, wäre deutscherseits, erst jüngst wieder
historisch belegt, über das Zusammenspiel Frankreichs mit dem polnischen Demagogen
Korfanty vieles zu sagen gewesen.
Der einzige Deutsche, der das Wort erhielt, war einer, der in der oberschlesischen Heimat
geblieben ist, aber zum Thema des Films selbstverständlich keinen Beitrag leisten konnte.
Die Sendung endete mit einem polnischen Kinderchor und einer großen Dampfwolke, die aus
irgendeinem Kessel aufstieg. Die Chance, Geschichte in guter deutsch-polnischer
Nachbarschaft auch nur annähernd aufzuarbeiten, wurde in unverantwortlicher Weise zu
dieser späten Stunde leider vertan.
Herbert Hupka (KK)
Literatur und Kunst
Nähe zum Wasser verbindet Geburts- und Todesort
Uwe Johnson suchte auch in England das wildwüchsige Bruch und die
federnden Wiesen seines pommerschen Ursprungs
Vor zwanzig Jahren, im Februar 1984, starb Uwe Johnson. Seine Romane Ingrid
Babendererde, Mutmaßungen über Jakob, Das dritte Buch über
Achim und vor allem die auch durch eine gelungene Verfilmung weithin bekannt
gewordenen Jahrestage werden zu den bedeutendsten Leistungen der deutschen
Literatur des 20. Jahrhunderts gezählt. Ihr Autor gilt manchen sogar als der größte
deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit.
Uwe Johnson ist ein Pommer, in Kammin/Kamien Pomorski geboren aber dies nur, weil
seine Mutter, eine Bauerntochter aus dem Dorf Darsewitz auf dem Westufer der
Dievenow, zur Geburt des ersten Kindes aus Anklam zurückging auf den Hof der
Eltern, also in das Krankenhaus Kammin auf dem Ostufer, und ist da wohl zehn Tage
geblieben, so Uwe Johnson in einem Gespräch im Jahr 1973. Der Bauernhof der
Sträbes war also so etwas wie der Stammsitz der Familie. In Darsewitz bei den Großeltern
war der kleine Uwe bis zum Kriegsende oft.
Daß dort seine Lebenswurzeln sind, läßt sich aus so mancher Andeutung schließen, die
der sonst sehr scheu seinen privaten Bereich verbergende Autor in seinen Werken macht.
Klar ausgesprochen hat er die Bindung an das Land an der Dievenow in einem kurzen, lyrisch
anmutenden Prosatext, in dem er Flüsse und Orte benennt, die in seiner Erinnerung
geblieben sind. Die Dievenow steht an erster Stelle: Die Orte des Aufwachsens aus
dem Gedächtnis verlieren, das hieße ja die Dievenow vergessen, die für ein Kind zu
breite Schlange Wassers mit ihren niedrigen schwarzen Booten, den glucksenden
Fischkästen, dem wildwüchsigen Bruch und den federnden Wiesen an ihren Ufern.
Die meisten Leser wissen nichts vom Hof, auf dem er aufgewachsen ist. Aber die
schwermütig-schöne Flußlandschaft ist da und gibt eine Einführung in Johnsons Werk.
Denn, was oft nicht ohne Kopfschütteln registriert wird, in Johnsons Romanen spielen die
norddeutsche Landschaft und ihre Sprache und Lebensart eine große Rolle.
Regionalismus wird ihm zugeschrieben, allerdings keine Heimattümelei.
Als Johnson 1974 nach England in die Kleinstadt Sheerness-on-Sea übersiedelte, begann das
bis heute andauernde Rätselraten, weshalb wohl die Wahl auf diesen ziemlich unattraktiven
Ort gefallen war. Einerseits hatte Johnson offenbar die Nähe des Meeres gesucht. Ein Haus
an der Ostsee hatte sich als unerschwinglich erwiesen. Deshalb hielt er nach einer anderen
weitläufigen Wasserfläche Ausschau. Aber offenbar war es weniger das Meer,
das Johnson suchte. Hartnäckig behauptete er: Sheerness liegt gar nicht an der See,
wie es amtlich zu behaupten sucht, erst ihm gegenüber hört das Nordufer der Themse
auf.
Immer wieder erscheint in den Briefen, die in dem Band Inselgeschichten nach
seinem Tod zusammengefaßt wurden, die Themse. War es die Verwandtschaft zwischen
Darsewitz, dem Kindheitsort, und Sheerness, das zu seinem Todesort werden sollte, die
Johnson faszinierte? Beide Orte liegen auf Inseln im Mündungsgebiet eines großen
Flusses, Darsewitz an einem Mündungsarm der Oder, Sheerness, wenn man Johnson folgt, an
der in die Nordsee fließenden Themse. War es die Sehnsucht nach der Heimat seiner
Kindheit, die den inzwischen berühmt gewordenen Schriftsteller in die verwandte
Landschaft an der Themsemündung zog?
RoswithaWisniewski (KK)
Für dergleichen bin ich nicht zu haben
Kaum anders hätte Gerhart Hauptmann auf diese Aufführung reagiert
Gerhart Hauptmanns Stücke Vor Sonnenaufgang , Einsame
Menschen, vor allem Der Biberpelz und Die Ratten gehören
zum festen Repertoire deutschsprachiger Bühnen nicht jedoch Die Weber.
Und dafür gibt es viele Gründe. Wer sich mit der Bühnengeschichte des Stückes befaßt,
findet ein spektakuläres Konvolut von Reaktionen vor, von Entrüstung und Verboten bis zu
emphatischen Jubelrufen eine breite Skala umfassen. Daß dabei auch immer wieder neue Wege
in den Inszenierungen beschritten wurden, ist für die politische
Weber-Deutung durchaus legitim freilich darf dabei die Struktur als
Kunstwerk nicht leiden. Hauptmann mochte selbst solche Gefahren sehen, als er ein Angebot
ablehnte, sofort einen Film nach den Webern zu drehen, wenn er sich
entschließen könne, in einem Schlußbild zu zeigen, wie gut es heute den Webern geht.
Für dergleichen bin ich nicht zu haben. Eine Ablehnung einer durch das
Theaterhaus Jena im Vorjahr praktizierten Weber-Aufführung ist dem Dichter,
der am 6. Juni 1946 auf seinem Wiesenstein in Agnetendorf verstorben ist,
nicht möglich.
Die Jenaer Aufführung hat mit Hauptmanns Drama nichts zu tun, obwohl man sich auf
sein Stück ausdrücklich beruft und dabei betont, bei Hauptmann sei es um soziale
Verhältnisse gegangen und um solche gehe es auch in dieser
Open-Air-Aufführung. Der Weberaufstand im Eulengebirge von 1844 diente
lediglich als eine Art Folie für diese Inszenierung. Das Problem sei jetzt nicht die
Ausbeutung von Arbeitern (in diesem Falle der Weber), sondern das Abschaffen von Arbeit.
Vor der Flimmerkiste und am Kiosk hängen die Überflüssigen, das Treibgut
der Gesellschaft, während, zynischerweise, die Fabrikanten das Lied von der
Vollbeschäftigung und der sozialen Wohlsfahrtsgesellschaft säuseln. Die soziale
Frage ist die nach dem Hunger, wie Claudia Bauer, die Regisseurin ausführt. Die
Weber seien ein absolut politisches Stück. Daraus kann man kein
metaphysisches Stück machen.
Ein Mißverständnis der Regisseurin! Die Geschichte der Aufführungen hat eindeutig den
revolutionären und politischen Charakter des Hauptmannschen Dramas unterstrichen und
dabei den historischen Rahmen bis in bedeutsame Details nicht angetastet. Die Jenaer
Inszenierung tut das Gegenteil: Sie reißt die Struktur im Aufbau des Stückes
willkürlich auseinander, löst den Spannungsgehalt bereits in der Exposition im 1. Akt
völlig auf und reduziert den Vorgang auf willkürlich eingestufte Vorgänge ... Aus den
Webern sind Weberinnen geworden, die Schürzen in Blau tragen, aus dem
Hintergrund emporsteigen und eine Holzbühne bevölkern, 1,80 Meter auf 82 Zentimeter
abfallend auf eine Bühne, die als Podest mit 13 Metern Tiefe und 17 Metern vorderer
Breite vor dem Theaterkasten steht. Platz genug für die Laiendarsteller, bei denen auch
einige Weber-Männer in Jogging-Kluft herumlungern. Im Hintergrund spielte ein
Jugendorchester, wobei der Weber-Film von Zelnik nach dem 2. Akt aufflammt.
Wie die Regisseurin offenherzig zugibt, ist bereits die erste Leseprobe am Text
gescheitert, sie war eine Ka tastrophe. Nach diversen Telefonaten wurde dann
ein Mundartsprecher nach Jena geholt, um Sprech- und Lautübungen mit dem
Weber-Personal durchzuführen, das Schlesisch nicht verstand und auch nicht
sprechen konnte. So leidet die Sprechweise während der Aufführung an einer unklaren
Lautmodulation oder einer überhöhten Stärke, die ganz unangemessen die
Handlungsvorgänge stört ohnehin ganz willkürlich zusammengestrichen.
Herausragende Einzelleistungen waren ohnehin nicht zu erwarten, da sich das
Figurenensemble weitgehend aus Laienkräften zusammensetzt.
Die politische Absicht tritt eindeutig in den Vordergrund. Das Stampfen auf der großen
Holzbühne, so meint Claudia Bauer, sei eigentlich ein Fanal zum Aufstand. Nur wie
es aussieht wird er nicht kommen. Trotz der revolutionären Wucht. Armer Gerhart
Hauptmann.
Günter Gerstmann (KK)
Bedeutung bis zum Abwinken
Matei Visniecs Satire über die Geschichte des Kommunismus in Berlin
Die Vorstellung ist auch diesmal ausverkauft, die Leute warten im Foyer der
Studiobühne des Gorki-Theaters, denn gespielt wird: Die Geschichte des Kommunismus,
nacherzählt für Geisteskranke. Dieweil denke ich darüber nach, was mich an diesem
reißerischen Titel stört. Ist er nicht doch eine Diskriminierung Geisteskranker? War
Stalin, um den es hier offensichtlich gehen soll, nicht auch geisteskrank? Aber immerhin
auf eine Art und Weise geisteskrank, daß ihm alle seine normalen Anhänger
zugejubelt haben. Soll es etwa heißen, alle normalen Menschen haben den Kommunismus
intus, nur eben für die Schwachsinnigen muß er nacherzählt werden, damit sie ihn auch
kapieren?
Allerdings muß man dem Autor Matei Visniec zugute halten, daß er auch eine
Geschichte des Panda-Bären, erzählt von einem Saxophonspieler, der eine Freundin
in Frankfurt hat veröffentlichte. Er ist heute einer der meistgespielten
rumänischen Dramatiker, nicht nur zu Hause, seine Stücke werden auch in kleinen Theatern
und auf Festivals im Ausland aufgeführt. Dabei ist Ausland für ihn relativ geworden,
weil er seit 1987 dortselbst, nämlich in Frankreich lebt. 1956 im bukowinischen Radautz
geboren, hat er Rumänien als bekannter Lyriker verlassen, um später vor allem
Theaterstücke auf französisch zu schreiben. So trägt er wie Eugen Ionescu
zwei Namen, und schreibt sich heute Matéï Visniec, anstatt das s mit einer Cedille zu
versehen.
Die heutige Aufführung wird als deutschsprachige Erstaufführung gepriesen, das Stück
wurde aber schon vor einem Jahr an der Uni Göttingen gespielt. Der erste Eindruck des
Bühnenbildes: originell! Man stelle sich vor: eine Turnhalle voller Medizinbälle, die
verstreut herumliegen. An den Wänden entlang viereckig jeweils eine
Sitzreihe mit Stühlen für die Zuschauer. Es riecht etwas muffig, wie in einer alten
Turnhalle eben, und als die Tür zugeht, fühlt man sich wie in einer ,geschlossenen
Anstalt.
Herein kommen, von Pfiffen einer Trillerpfeife begleitet, die Akteure, vier
Patienten in senfgrün-braunen Trainingsanzügen, eine mit Militärmantel und
Trillerpfeife ausgerüstete Antreiberin und ein staksiger langer Bursche, der ebenfalls
einen senfgrünen Militärmantel und eine Ledertasche trägt. Während sie drei Runden
marschieren, überlege ich weiter, warum denn unbedingt dieser militärische Drill immer
so vordergründig inszeniert werden muß, wenn es um Ostblock und Kommunismus geht. Dabei
soll es sich ja auch um ein lustiges Stück handeln.
Worum es geht: Der Schriftsteller Yuri (der lange Bursche) wird einige Wochen vor Stalins
Tod in die zentrale Nervenanstalt Moskau eingeladen, um den geringfügig, mittelschwer und
hochgradig Schwachsinnigen den Kommunismus zu erklären. Dies tut er auch in einfachsten
Worten, und so findet er beispielsweise die Erklärung, daß Utopie dann entsteht, wenn
zwei, die mit Verlaub ,in der Scheiße stecken, darüber nachdenken und einen
wissenschaftlichen Plan entwerfen, da rauszukommen. Wobei Stalin einen wissenschaftlichen
Plan für ein ganzes Land entwarf. Ich vermute, daß ,merde im Französischen etwas
eleganter klingt als sein deutsches Äquivalent, von Yuri (Felix Rech) aus voller Kehle
gebrüllt!
Obwohl einleuchtend als Erklärung, scheint mir der große Mangel der Inszenierung (Marlon
Metzen) auch weiterhin das Vordergründige. Man hätte sich für die kleine Studiobühne
etwas mehr Zurückhaltung gewünscht. Schwachsinnige gebärdeten sich hochgradig
schwachsinnig, ein Flirt wurde zur halben Vergewaltigung, es wurde geschrieen, gestampft,
marschiert bis es dann irgendwann doch kippte und mir das Spiel unter die
Haut ging und ein wenig auch auf die Nerven. Und zwar an dem Punkt, als
anhand einer Flugzeugmetapher die Fragwürdigkeit aller gesellschaftlichen Systeme
herauskam und diese vier Schauspieler, um den Dichter versammelt, einen zarten Kanon zu
singen begannen und dabei immer ,Uuuutooopiiiie wiederholten. Da konnte sich Yuri
nur noch dadurch retten, daß er ins Deckengestänge stieg.
Man muß der Inszenierung zugute halten, daß die Schwachsinnigen sich um so normaler
verhielten, je schwerwiegender sie krank wurden, daß die äußere Normalität
die Kranken der geschlossenen Anstalt einholte und schließlich auch den
Schriftsteller zu einem der Ihren machte. Nein, wahrlich keine Komödie ein
bittertrauriges galgenhumoriges Stück.
Edith Ottschofski (KK)
Sein Lied ging um die Welt
Er selbst aber ins Exil und darin zugrunde: der Tenor Joseph Schmidt
Seine brillante Gesangstechnik verdankte der am 4. März 1904 in Czernowitz/Bukowina
geborene Tenor seiner Schulung als Kantor. Es ist immer wieder verblüffend, wie
unangestrengt Joseph Schmidt selbst die allerhöchsten Töne bis zum d bilden
konnte. Da er wegen seiner Körpergröße von 1,50 Meter keine Chance für eine
Opernkarriere sah, drängte es ihn von Berlin aus auf die Opern-Sendebühne.
Innerhalb weniger Jahre von 1924 an stand Joseph Schmidt beinahe wöchentlich vor den
Mikrophonen des Senders und sang Partien des höchsten Schwierigkeitsgrades.
Dirigenten, unter deren Stabführung er sang, waren Erich Kleiber, Bruno Walter, George
Szell und Leo Blech. Im Plattenstudio nahm er zwischen 1929 und 1933 rund achtzig Arien
aus Opern und Operetten, Lieder und Schlager auf. Als Schmidt nach der Uraufführung
seines Films Ein Lied geht um die Welt am 9. Mai 1933 vor 3000 Berlinern
wieder und wieder das Titellied sang, giftete Reichspropagandaminister Goebbels: Was
so ein Zwerg doch alles anrichten kann. Schon wenig später wurden die Tondokumente
jüdischer Künstler aus den Archiven des Berliner Rundfunks entfernt.
Nach 1934 konnte Joseph Schmidt nur noch in Wien und London auftreten. Und als sein Lied
überall in der Welt gehört wurde, befand er sich auf der Flucht, gab Konzerte in den
Benelux-Staaten, wich nach Frankreich aus und floh von dort im Oktober 1942 in die
Schweiz. Da er weder einen gültigen Pass hatte noch ein Visum und keinen Zugriff auf sein
Geld, wurde er in ein Internierungslager verbracht und nach einer schweren Erkältung ins
Züricher Kantonsspital eingewiesen. Seine Klagen über Schmerzen in der Herzgegend nahm
niemand ernst. Als Simulant wurde er ins Lager zurückgeschickt.
Dort ist der Tenor Joseph Schmidt, aus dem die Klage der Welt dringen konnte, am 16.
November 1942 gestorben.
(KK)
Aus dem Pfaffenwinkel erreichte uns die Nachricht, Friederike Hübner-Hehler sei im
Sommer vorigen Jahres ihrem geliebten Ehemann in den ewigen Frieden nachgefolgt.
Unser Hergott, hieß es auf der Trauerkarte, schenkte ihr die Gnade
eines unversiegbaren Humors, der ihr auch half, ihre Leiden zu ertragen.
Eigentlich war sie ja Sängerin, ausgebildet in Prag, wo sie im Schicksalsjahr 19l5 zur
Welt gekommen ist, gerade noch zu Kaisers Zeiten. Und in Prag wäre sie, als
schönes Kind aus gutem Hause, sicherlich gern geblieben, wenn das Schicksal
es nicht anders gefügt hätte. So geriet sie, noch vor dem Anschluß des
Sudetenlandes, mit der Familie ins damals deutsche Reichenberg, wo sie entscheidende Jahre
verbracht hat, die Jahre ihrer Jugend, der ersten künstlerischen Versuche. Davon
berichtet sie ausführlich und temperamentvoll in dem autobiographischen Briefroman
Trügerische Geborgenheit. Unbekümmert weiß sie vom regen gesellschaftlichen
und kulturellen Leben der Stadt unterm Jeschken zu plaudern.
Auch sonst ist sie als Geschichtenerzählerin hervorgetreten, mit so kurzweiligen Büchern
wie Knoblauch, Kunst und Kindheit in Prag, denen sie eine treue Lesergemeinde
zu verdanken hat, insbesondere bei ihren deutschböhmischen Landsleuten.
Zu den treuen Lesern und Bewunderern ihrer Erzählkunst gehört auch der Verfasser dieser
Zeilen, ihr stiller Verehrer
Otfried Preußler aus Reichenberg in Böhmen (KK)
Die Sendung Alte und neue Heimat des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, bringt am 11. April den Bericht von Florian Kellermann und Tatjana Montik über den papierenen Vorhang, der die erweiterte EU von den östlichen Nachbarn trennt. Klaus Kuntze thematisiert am 18. April den Antisemitismus in Osteuropa, und Inge Bell berichtet am 25. April von einem Umweltskandal in Tschechien.
Letzte Tage in Schlesien. Tagebücher, Erinnerungen und Dokumente der Vertreibung, 1981 herausgegeben von Herbert Hupka im Verlag Langen Müller Herbig in München, ist soeben in der 11. Auflage erschienen. Die Neuauflage kostet 9,95 Euro.
Das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg zeigt neben seiner Sonderausstellung mit Werken von Gerhard Löbenberg noch bis zum 18. April die Kabinettausstellung über Juden der Lutherstadt Wittenberg im III. Reich. Aufgrund einer Datenüberlagerung trägt unser Löbenberg-Bericht in der vorigen Ausgabe einen sachfremden Untertitel. Wir bitten um Entschuldigung.
Das Kulturzentrum Ostpreußen im Deutschordensschloß Ellingen erinnert mit einer Ausstellung bis zum 20. Juli an die Wolfsschanze bei Rastenburg in Ostpreußen als Hauptquartier Hitlers und Ort des Widerstandes gegen ihn.
Das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen-Hösel präsentiert bis zum 9. Mai Werke des schlesischen Landschaftsmalers Otto Müller-Hartau (1898-1969) aus der Grafschaft Glatz. Gleichzeitig erlaubt die Ausstellung Menschen. Maschinen. Kohle. Kunst dem Betrachter, Künstlerblicke auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet zu verfolgen. Zu beiden Ausstellungen gibt es Kataloge.
Der Adalbert Stifter Verein zeigt seine Ausstellung über Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda unter dem Titel Musen an die Front bis Ende Mai im Adalbert Stifter Institut in Linz, Österreich.
Die Museen der Stadt Kornwestheim und das Siebenbürgische Museum Gundelsheim präsentieren im Museum im Kornwestheimer Kleinhues-Bau bis zum 13. Juni rumänische Hinterglas-Ikonen.
Der pommersche Autor und Künstler Johannes Hinz eröffnet am 1. April eine Ausstellung mit Ölbildern, Zeichnungen und Holzschnitten im Heilig Geist Krankenhaus in Köln.
Das Gerhart-Hauptmann-Museum Erkner zeigt bis 25. April Michael Ottos
Ausstellung Richtung Transsylvanien.
(KK)