KK1181 von 2004-02-20

INHALT

Eberhard Günter Schulz: Zum 200. Todestag Immanuel Kants   2

Dietmar Stutzer: Polens Brüsseler Veto 4

Helmut Neubach: Tagung der Kommission für Geschichte der Deutschen in Polen 7

Ausstellung über Emilie Schindler in Stuttgart    8

Dieter Göllner: Zdenek Mateiciucs Hommage auf Gustav Ulrich 10

Bücher und Medien 11

Literatur und Kunst

Erich Pawlu: Arme Schlucker. Prosa 17

Georg Aescht: Karl Emil Franzos, ein Osteuropa-Aufklärer   18

Herbert Hupka: Der Maler Willy Jaeckel    20

Peter Mast: Eberhard G. Schulz über Günther Bleisch    21

KK-Notizbuch      23



KK1181 Seite 02
Die Größe Kants
Zum 200. Todestag des Königsberger Philosophen am 12. Februar


Der Körper Kants war nur 1,56 Meter groß. Aber die Kraft seines Geistes und die Ausdauer, mit der er von dieser Kraft Gebrauch gemacht hat, scheint alles zu überragen, was vor ihm in der Geschichte des Denkens der Menschheit anzutreffen war.
Man kann die Singularität Kants in den Lehren sehen, die er vertreten hat: in der Subjektivität seiner Erkenntnistheorie, nach der es in Gestalt der Anschauungsformen Raum und Zeit und der Kategorien des reinen Verstandes Bedingungen unserer Erkenntnis der Wahrheit gibt, die in unserem Erkenntnisvermögen, also im erkennenden Subjekt selbst, anzutreffen sind. Man kann sie in seinem formalen Prinzip der Ethik, dem kategorischen Imperativ, sehen, der uns unsere Verbindlichkeiten dem Inhalte nach bestimmen läßt und gleichzeitig allein ausreicht, uns zur Erfüllung dieser Verbindlichkeiten zu motivieren. Man kann sie in seiner Geschichtsphilosophie sehen, nach der das Ziel der Geschichte durch die moralische Forderung einer unverrückbar am Recht orientierten Staatlichkeit ebenso wie einer Friedensordnung im Verhältnis zwischen den Staaten bestimmt ist. Zumindest diese Lehrstücke, die sich aus Kants Denken in den Jahren von 1770 bis 1798 ergeben haben, zeichnen den „Königsbergischen Weltweisen“ als eine einzigartige Erscheinung unter den Philosophen der Menschheit aus. Das heißt freilich nicht, daß diese Lehren für alle Zeiten, nämlich solange es vernünftige Wesen auf dieser Erde gibt, Bestand haben müssen. Sie sind selbst aus dem Versuch entstanden, auf Fragen, die zu stellen das denkende Wesen Mensch nicht vermeiden kann, und auf Fragen, die sich aus bisherigen Lösungsversuchen ergeben haben, überzeugende Antworten zu geben.
So ist das Denken Kants ein Beitrag zum Denken der Menschheit, der durch neue Beiträge, die zu anderen Resultaten führen, überholt werden kann. Das Großartige seiner philosophischen Leistung besteht gerade darin, daß er bis zur Erschöpfung seiner Denk- und Aussagefähigkeit um Verbesserung seiner Lehren bemüht gewesen ist. Die Resultate seines Philosophierens sind Ergebnisse eines diskursiven und nicht eines intuitiven Verstandesgebrauchs. Hier wird in genau bestimmten Begriffen gedacht und aufgrund von für gesichert gehaltenen Prämissen geschlossen. Hier ist kein Platz für Meinungen oder Wahrscheinlichkeiten. Aber auch ein genau bestimmter Begriff kann sich als unbrauchbar und ein gültiger Schluß als unter falschen Voraussetzungen erzielt erweisen. Alles Denken der Menschheit ist durch die Überwindung von Irrtümern zur Wahrheit vorgedrungen.
Nun sind philosophische Wahrheiten, soweit sie auf der Vernunft selber beruhen, also Erkenntnisse a priori darstellen, nicht dem Fortschritt empirischen Denkens unterworfen und also als Gedankengebäude abgeschlossen. Aber die beanspruchte Unumstößlichkeit dieses Gebäudes bedarf ständig der Überprüfung, indem es allemal sein kann, daß ein Satz fälschlich für tragend gehalten wird und daher dringend der Auswechslung bedarf.
Man hat allen Grund, in bezug auf das von Kant errichtete philosophische Gedankengebäude von der Erhabenheit seiner Philosophie zu sprechen. Aber dies ist ein Faszinosum lediglich der Form und Methode nach. Über die Wahrheit der Aussagen ist mit diesem ästhetischen Werturteil nichts gesagt. So unterliegt auch das Denken Kants in seinen noch so imponierenden, umwälzenden Ergebnissen jederzeit möglichen Korrekturen, ja im Falle einer verfehlten Gründung im ganzen sogar einer möglichen umfassenden Auswechslung. Das hat Kant nicht anders gesehen.
In einer Fußnote zu seiner Streitschrift gegen den Hallenser Wolffianer Johann August Eberhard, „Über eine Entdeckung, nach der alle Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“, lesen wir:
„Wenn es jemandem einfiele, den Cicero zu tadeln, daß er nicht gut Latein geschrieben habe: so würde irgendein Scioppius (ein bekannter grammatischer Eiferer) ihn ziemlich unsanft, aber doch mit Recht in seine Schranken weisen; denn was gut Latein sei, können wir nur aus dem Cicero (und seinen Zeitgenossen) lernen. Wenn jemand aber einen Fehler in Plato's oder Leibnizens Philosophie anzutreffen glaubte, so wäre der Eifer darüber, daß sogar an Leibnizen etwas zu tadeln sein sollte, lächerlich. Denn was philosophisch-richtig sei, kann und muß keiner aus Leibnizen lernen, sondern der Probirstein, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, ist die gemeinschaftliche Menschenvernunft, und es giebt keinen klassischen Autor der Philosophie.“
Und am Schluß dieser Schrift, in der es eben darum geht, den Nachweis zu liefern, daß keine Rede davon sein kann, als hätten Leibniz und Christian Wolff und seine Schule, zu der auch Johann August Eberhard gehört, alles bereits gesagt, was an der Kantischen Erkenntnistheorie richtig sei, bezieht Kant diesen Gedanken ausdrücklich auch auf seine eigene Philosophie: „Übrigens mag die Kritik der reinen Vernunft, wenn sie kann, durch ihre innere Festigkeit sich selbst weiterhin aufrechterhalten. Verschwinden wird sie nicht, nachdem sie einmal in Umlauf gekommen, ohne wenigstens ein festeres System der reinen Philosophie, als bisher vorhanden war, veranlaßt zu haben.“
So befinden wir uns also mit Kant in Übereinstimmung, wenn wir es als das Entscheidende bezeichnen, daß wir an seiner Philosophie auch nach seiner alles bisherige Denken überwindenden Wende ein Beispiel haben für den ungebrochenen Drang, zu neuen Ufern der Wahrheit vorzudringen. Gewiß gebietet das, was er uns als seine Lehre vorstellt und präzise begründet, Achtung und Anerkennung. Es handelt sich bei ihm nicht um einige geistreiche Ideen, die imponierend sind und es verdienen, im Kuriositätenkabinett für Produkte menschlichen Geistes der Nachwelt überliefert zu werden. Es ist schon ein Gedankengebäude, das durch seine Totalität wie seine Prägnanz faszinierend und der Sache nach ein einzigartiger Versuch ist, aus den Resultaten des abendländischen Denkens von zweieinhalb Jahrtausenden eine abschließende Konsequenz zu ziehen.
Übertroffen aber wird diese Großartigkeit des Kantischen Denkens durch die stets wache Selbstkritik und Aufgeschlossenheit für die Gedanken anderer, wie sie sich besonders in den Fortschritten seines Denkens nach Abfassung der „Kritik der reinen Vernunft“ zeigt. Als er dieses gewaltige Werk seinen Zeitgenossen als harte Nuß zu knacken gab, war er selbst der Meinung, sein kritisches Geschäft damit abgeschlossen zu haben und nunmehr zu den systematischen Werken auf dem Felde sowohl der Naturphilosophie als auch besonders der Moralphilosophie übergehen zu können. Da er aber kurz nach dem Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ einsah, daß der von ihm als für die Moralphilosophie ausreichend angesehene Begriff einer bloß komparativen Freiheit den menschlichen Willen zu einer bloßen Marionette des Naturmechanismus machen würde, ergab sich die Notwendigkeit, unter Zugrundelegung eines absoluten Freiheitsbegriffes, der die Autonomie des Willens ermöglicht, seine „Kritik der praktischen Vernunft“ zu schreiben. Aus dem gleichen Grund und auch aus dem Grunde, weil er nun im Gegensatz zum Jahre 1781 ein regulatives Prinzip a priori für das ästhetische Werturteil für möglich hielt, ergab sich die Notwendigkeit, seine „Kritik der Urteilskraft“ als Schlußstein seines kritischen Unternehmens hinzuzufügen. Durch derartige Positionsänderungen hat Kant selbst ein Beispiel dafür gegeben, daß die Aufgabe des Denkens niemals als gänzlich abgeschlossen angesehen werden kann.
Dadurch wird Kants Philosophie auch dann noch vorbildlich für alles vernünftige Denken sein, wenn das Gebäude seiner kritischen Philosophie selbst in den Grundrissen durch ein neues, vielleicht tatsächlich für immer haltbares Gedankengebäude ersetzt sein sollte.
Eberhard Günter Schulz (KK)

KK1181 Seite 04
Der polnische Gipfel-Sturm
Polen hat es mit seinem Brüsseler Veto auf einen tiefen Riß zwischen den EU-Beitrittsländern ankommen lassen

Es ist bis zum Überdruß wiederholt worden: Bei dem Gipfel-Sturm von Brüssel ging es darum, daß die Polen und die Spanier nicht bereit waren, von dem beim Chaos-Gipfel von Nizza  im Dezember 2000 vertraglich vereinbarten Prinzip abzugehen, daß jedes Land für die Abstimmungen im Ministerrat eine Stimmenzahl hat, die an die Bevölkerungszahl zwar angelehnt, aber nicht proportional aus ihr abgeleitet ist. Das hat den Polen und den Spaniern  mit je etwa 40 Millionen Einwohnern eine Stimmenzahl von 27, den beiden größten, Deutschland und Frankreich, nur um zwei mehr, also 29, eingetragen. Derartige Abstufungen  sind nicht unbedingt guter, aber alter EU-Brauch, gegen den die kleineren Mitgliedsländer  so gut wie nie ernste Einwände erhoben haben. Er begründete nämlich ihre oft überproportionale Macht, weil die Großen genötigt waren, die Stimmen von Kleinen für sich zu gewinnen, wenn sie ihre Positionen behaupten wollten. Kein Mitgliedsland hat auf diesem Klavier so virtuos gespielt wie Luxemburg .
Nun kann wohl weder in Paris noch in Berlin bestritten werden, daß das letzte Grundsatzdokument der EU, das als Ausdruck kompetenter politischer Handlungskunst   anerkannt werden kann, die Einheitliche Europäische Akte von 1988 ist. Von da an wurde jeder der sich jagenden „Gipfel-Verträge“ schlampiger verhandelt als der vorherige, der „Wachstums- und Stabilitätspakt zum Euro“ eingeschlossen. Ab Maastricht 1991 gerieten die   „Grundsatzverträge“ nur noch zum diplomatischen und juristischen Pfusch, bis der Höhepunkt beim Chaos-Gipfel von Nizza 2000 erreicht war. Das Versagen der französischen Diplomatie und vor allem der Bürokratie war mindestens  so erschreckend zu sehen wie jetzt das Italiens. Vor allem aber ist nach diesem Chaos-Gipfel deutlich geworden oder hätte deutlich werden können, daß Joschka Fischer als Außenminister auch im Ausland mindestens so überschätzt wird wie einst Gorbatschow in Deutschland.  Er und seine Meisterdiplomaten haben nämlich erst nachher gemerkt, daß sie das eigentlich  gar nicht wollten, was sie in Nizza unterschrieben hatten. Der Bundeskanzler störte sie nicht in dieser Erkenntnis und vor allem nicht darin, das Projekt einer „Europäischen Verfassung“ zu erfinden, um der Korrektur des eigenen Pfusches einen schönen Namen und damit auch ein schönes Gesicht geben zu können. Es ist verständlich und berechtigt, daß die Polen und die Spanier keine Neigung hatten, diese völlig versalzene und mit   verdorbenen Zutaten versehene Suppe mit auszulöffeln.
Doch was bringt vor allem den Polen ihre Haltung außer dem miserablen Ruf, ihre Mitgliedschaft mit einer kapitalen Torheit, einem Veto begonnen zu haben? Gar nichts, denn die neue Stimmengewichtung wäre ohnehin erst 2009, faktisch bestenfalls 2010 zum Tragen gekommen. Bis dahin wird so abgestimmt, wie es im Vertrag von Nizza steht. Doch selbst wenn es nicht so wäre, die Stimmenrechnerei bringt ohnehin nichts. Für die   „Schneemenschen von Brüssel“, also die „politischen Beobachter“, von denen jeder hört, die aber niemand sieht, war es immer relativ leicht, zu orakeln, wie „ein Rat“ ausgehen würde, weil das meiste vorher ausgekungelt wurde und wird, die „Abstimmungen im Rat“ dann bestenfalls noch akklamatorischen Charakter haben. Und vor allem: Ist den Polen an dem  Schicksal des „Stabilitätspaktes“ nicht deutlich geworden, daß sich die großen Mitgliedsstaaten im Ernstfall keinen Deut um europäische Verträge und europäisches Recht scheren und mit Hilfe der Kommission das gesamte Vertragswerk solange weichklopfen, bis es auf alles und alle paßt?
Was Polen jetzt not tut, ist die Schaffung der Strukturen, mit denen es die Zahlungen aus Brüssel umsetzen kann, die ab 2004 fließen werden. Zustande gebracht hat es bisher nicht einmal die dafür geforderte und nötige „Finanzierungsagentur“. Das Volk wird den Regierenden Dank wissen, wenn es das Geld, namentlich für die Bauern, nicht bekommt, das ihm versprochen wurde!
Dafür bekommt Norbert Elias wieder einmal recht mit seinem Wort von den „Mentalitäten, für die 500 Jahre eine fatal kurze Zeit sind“. 1572 starb mit Zygmunt August der letzte  Jagellonenkönig Polens. Von da an hat der damals größte Territorialstaat Europas – mit den Lehensgebieten der polnischen Krone waren es 1,3 Millionen Quadratkilometer – seine unlösbaren inneren Konflikte in der Königsfrage immer wieder nach außen getragen. Es folgten einander ungarische, schwedische und sächsische Könige, nur noch einmal war mit Jan Sobieski ein Pole darunter. Das Ende im russischen Protektorat und in den Teilungen ist bekannt. Kaum anders ist das jetzige Strickmuster. Polens Präsident Kwasniewski und Premier Miller sind einander in mindestens so aufrichtiger gegenseitiger Abneigung verbunden wie Italiens Berlusconi und Kommissionspräsident Prodi, was einiges besagt. In den italienischen Wahlen 2004 wollen die beiden Condottieri gegeneinander zu Felde ziehen.  Die EU-Kommission wird einen neuen Präsidenten brauchen – und der polnische kann nicht noch einmal kandidieren. Wer da in Warschau auf dem Umweg über Brüssel wem „die Tour vermasseln will“, muß sich noch zeigen.
Doch nicht nur Norbert Elias (der einem eigentlich täglich einfallen sollte), auch Josef Weinheber fällt einem ein: „so namenlos fern!“ Wie fern  ist die Zeit, als die königliche Kanzlei auf dem Krakauer Wawel mit 15 Völkern in 12 Sprachen verkehrte und die polnische Diplomatie der Jagellonen als eine der geschicktesten in Europa galt, die nicht selten sogar der venezianischen und genuesischen gewachsen war! (Venedig hätte die Liga von Cambrai ohne polnischen Flankenschutz nicht auseinanderdividieren können.) Das geduldige  und geschmeidige Verhandeln und pragmatische Austarieren von Gegensätzen war das „europäische Markenzeichen“ der jagellonischen Diplomatie, das sich auch auf die Sprache ausgewirkt hat. Die oft fatale Vieldeutigkeit und der Wortreichtum des Polnischen haben darin einen ihrer Ursprünge.
Die polnische Gesellschaft ist die einzige der größeren Gesellschaften Europas, die den Staatsbegriff der Renaissance und vor allem der Französischen Revolution bis heute nicht wirklich akzeptiert, so wenig wie das römische Recht wirklich rezipiert wird. In der polnischen „Polis“ mischen sich altslawisches Genossenschaftsprinzip mit dem gesellschaftlichen Harmonieideal der Scholastik. Der frühere polnische Botschafter Janusz Reiter hat die gültigste Deutung der Brüsseler Bruchlandung  geliefert: „Wenn man sich nur ein wenig für die polnischen Mentalitäten und ihre kulturellen Grundlagen interessiert hätte, wäre dieses Desaster nicht passiert.“
Das wirklich Not-Wendige voneinander zu wissen ist keine politische, schon gar keine bürokratische Aufgabe. Es ist allein eine der kulturellen Kommunikation. Ein europäisches Unglück ist das Desaster von Brüssel nicht, ja noch nicht einmal eine richtige Krise, sieht man einmal davon ab, daß wieder das Wort des Epiktet gilt: „Nicht die Dinge sind es, welche die Menschen erschrecken, sondern die Meinung, die sie von ihnen haben.“
Die Krise findet sich auf einem anderen Feld: Die Polen haben unbedacht eine Spannung zwischen sich und den anderen osteuropäischen Beitrittsländern geschaffen. Der tschechische und ungarische Unwille ist nicht zu überhören, der slowenische und der litauische spürbar. Die EU wird es ausbaden müssen, daß die inneren Fremdheiten der westslawischen Völker, dazu die baltischen Eigenwilligkeiten, nur ein paar schreckliche Jahrzehnte hindurch zugedeckt waren, aber nicht gelöst sind. Polen hat es auf einen neuen tiefen Riß ankommen lassen.
Dietmar Stutzer (KK)

KK1181 Seite 07
Traditionen weiter-, aber auch zurücktragen
Tagung der Kommission für Geschichte der Deutschen in Polen am Gründungsort ihrer Vorgänger-Gesellschaft in Posen

Die Kommission für Geschichte der Deutschen in Polen e. V. kann 2005 auf eine 120jährige Tradition zurückblicken. Auch wenn sie erst seit 1950 besteht, sieht sie sich insofern als Nachfolgerin der 1885 in Posen gegründeten Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen, als ihr Forschungsbereich auch diese ehemalige preußische Provinz einschließt. Schon die Gründungsväter von 1950 durchbrachen die regionale Begrenzung, indem sie dieser Institution den längsten Namen aller ostdeutschen bzw. ostmitteleuropäischen Kommissionen gaben: Historisch-landeskundliche Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen.
In der Regel alle zwei Jahre tagten die Mitglieder dieser wissenschaftlichen Vereinigung bisher in westdeutschen Städten, meistens in Marburg. Wenn sie zu ihrer jüngsten Versammlung Posen als Tagungsort wählten, dann hauptsächlich wegen zweier Jubiläen: Vor 750 Jahren wurde die Stadt Posen und vor 100 Jahren die Posener Akademie gegründet. Freilich spielte noch ein dritter Grund mit: Längst noch nicht alle Mitglieder kannten die ehemalige Provinzhauptstadt, in der die Historische Gesellschaft gegründet worden ist.
Die von Dr. Wolfgang Kessler, dem Direktor der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, und Dr. Hanna Krajewska aus Warschau geleitete Tagung stand unter dem Rahmenthema „Deutsche und Polen in der Zeit der Teilungen Polens 1848-1918“. Nach dem öffentlichen Vortrag von Professor Dr. Rex Rexhäuser aus Lüneburg über „Die Stadt Posen und ihre Juden 1518-1538“ zog Dr. Andreas Lawaty aus Lüneburg mit seinem Referat „Deutsche und Polen im 19. Jahrhundert“ einen „Problemhorizont“, der sich auf alle drei Teilungsgebiete bezog. Über den russischen Sektor (Kongreßpolen) sprach Dr. Robert Traba aus Warschau, über den österreichischen (Galizien) Dr. Isabel Röskau-Rydel aus Berlin und über den preußischen (Posen) Dr. Wolfgang Kessler. Von den Spezialreferaten, die sich mit der Provinz Posen beschäftigten, seien herausgegriffen: Der katholische Klerus (Eligius Janusz, Marburg), das Militär und die Verwaltung (Jens Boysen, Tübingen), das Vereinswesen (Prof. Dr. Siegfried Baske, Berlin) sowie die Königliche Akademie (Christoph Schröder, Marburg). Mit den Protestanten im Königreich Polen befaßte sich Dr. Elzbieta Alabrudzinska aus Thorn, mit den dortigen deutschen Kolonisten Dr. Seweryn Pawlitta aus Düsseldorf und mit der Arbeiterschaft in Hindenburg/Zabrze Dr. Bernard Linek aus Oppeln. Anerkennung verdienen die Programmgestalter nicht nur für die bunte Mischung der Referenten, sondern auch für die Vielfalt der Themen.
Tiefe Eindrücke hinterließ bei den deutschen Teilnehmern die Stadtführung bei schönstem Wetter. Der Gang vom Gästehaus der Polnischen Akademie der Wissenschaften im Universitätsviertel, wo die Teilnehmer sehr gut untergebracht waren, über den Alten Ring bis auf die Dominsel wird ihnen unvergeßlich bleiben. Besonderes Interesse fanden dabei das Rathaus und der Dom. Am Posener Wahrzeichen, der „Bamberka“, einem zur Erinnerung an die deutschen Einwanderer aus dem Bamberger Raum errichteten Denkmal, war ein Foto obligatorisch. Besuche in einer Außenstelle der polnischen Akademie der Wissenschaften und in der Universitätsbibliothek vermittelten Einblicke in die Arbeit der polnischen Kollegen. Ähnlich erfolgreich war eine allerdings etwas strapaziöse Besichtigung der Stadt Gnesen mit ihrem Dom, ihrem Museum und ihrem Stadtarchiv.
In der Mitgliederversammlung wurden insbesondere die anstehenden Forschungsarbeiten besprochen. Zum Jahresende 2003 hat die Kommission die Erinnerungen des Superintendenten Artur Rhode, des Vaters des bekannten Mainzer Osteuropa-Historikers Gotthold Rhode (1916-1990) für die Zeit des Ersten Weltkriegs in der Provinz Posen und „Beiträge zu einem Posener deutschen Biographischen Lexikon“ zum Druck gegeben. Bezogen werden können die Bücher zum Preis von 16,80 bzw. 25 Euro über die Martin-Opitz-Bibliothek, Berliner Platz 5, 44623 Herne.
Allgemein kann festgestellt werden, daß die Kommission unter dem Vorsitz von Dr. Wolfgang Kessler, der die Forschungsarbeit immer wieder mit neuen Ideen belebt, einen spürbaren und allseits anerkannten Aufschwung nimmt, der auch in Posen, dem Gründungsort der Historischen Gesellschaft, Früchte trug.
Helmut Neubach (KK)

KK1181 Seite 08
„... daß meine Geschichte wahrheitsgemäß erzählt wird“
Ausstellung über Leben und Wirken der Emilie Schindler (1907-2001)

Die Kabinettausstellung vom 4. März bis zum 30. April zeigt Zeugnisse aus dem Leben jener Frau, die an der Seite ihres Mannes Oskar Schindler über 1200 Juden vor der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus rettete. Zu sehen sind neun Bild-Text-Tafeln, außerdem bietet eine Hörstation Interview-Ausschnitte. Ergänzt wird die Ausstellung, die von Dr. Eva Habel, der Heimatpflegerin der Sudetendeutschen, konzipiert wurde,
durch einige Originalexponate u. a. aus dem Haus der Geschichte in Bonn, durch Faksimiles der legendären Häftlingslisten vom 18. April 1945 aus dem 1999 in Hildesheim entdeckten Koffer Oskar Schindlers sowie Äußerungen von Zeitgenossen, die das Bild der Emilie Schindler vervollständigen.
Die Ausstellung wird am Mittwoch, dem 3. März 2004, um 19 Uhr im Großen Saal des Stuttgarter Hauses der Heimat eröffnet. Dr. Eva Habel wird in die Ausstellung einführen, die international bekannte Kammersängerin Helene Schneidermann von der Staatsoper Stuttgart im Begleitprogramm des Abends jiddische Lieder singen.
In Kooperation mit der Volkshochschule Stuttgart, dem Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.“ und der Musikhochschule werden vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg eine Reihe von Begleitveranstaltungen angeboten. Am 4. März 2004, 20 Uhr, veranstaltet die Volkshochschule Stuttgart im Treffpunkt, Rothebühlplatz 28 in Stuttgart-Mitte, einen Dia-Vortrag über Böhmen, in dem der Referent Dieter Kugler auch den Spuren von Emilie Schindler nachgeht.
Am internationalen Frauentag, Montag, dem 8. März 2004, findet um 16 Uhr im Haus der Heimat ein „Erzählcafé“ auf den Spuren von Emilie Schindler mit Zeitzeugen statt. Bei Kaffee und Kuchen sollen die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit Emilie Schindlers in Wort, Text und Musik lebendig werden. Es werden auch Menschen zu Wort kommen, die Emilie und Oskar Schindler persönlich gekannt haben, darunter Mietek Pemper, der im KZ
Plaszow unfreiwillig als eine Art Sekretär des KZ-Kommandanten Amon Göth tätig war. Unter Lebensgefahr versorgte Mietek Pemper Oskar Schindler mit geheimen Informationen, wodurch Schindlers Rettungsaktionen überhaupt erst stattfinden konnten. Am 27. April 2004 referiert um 19 Uhr im Haus der Heimat Professor Rudolf Grulich, Leiter des Instituts für Kirchengeschichte Böhmen-Mähren-Schlesien in Königstein/Ts., über „Lebenswelten von Tschechen, Deutschen und Juden in Mähren“. Zu einer landeskundlichen Studienreise in die Heimat von Oskar und Emilie Schindler lädt das Haus der Heimat in der Zeit vom 31. Mai bis zum 7. Juni 2004 ein. Die Studienreise ist offen für alle Interessenten und wird von Stuttgart über Prag nach Znaim, Nikolsburg, Brünn, Proßnitz und Olmütz führen. Weitere Stationen sind Wischau, der Schönhengstgau mit Mährisch-Trübau und Zwittau, Kremsier und Troppau.
Für weitere Informationen zur Ausstellung oder zur Studienreise wenden sich Interessenten an das Haus der Heimat in Stuttgart (Tel. 07 11 / 6 69 51 11).
(KK)


KK1181 Seite 09
Folgendes Programm ist eine Initiative der Melchior Wankowicz Journalistenhochschule Warschau und wird in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Stiftung und dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk durchgeführt: Zehn Journalisten werden von der Robert Bosch Stiftung zu einem einmonatigen Weiterbildungsaufenthalt mit Reisen, Vorträgen, Gesprächen, Begegnungen und journalistischer Praxis (Beiträge zu verschiedenen einschlägigen Themen) nach Polen eingeladen. Die Ergebnisse sollen sowohl in polnischen als auch in deutschen Medien veröffentlicht werden. Detaillierte Informationen unter www.medientandem.pl. Dort kann auch das Bewerbungsformular abgerufen werden.
Das Programm richtet sich an junge deutsche Journalisten mit Berufserfahrung und Interesse an Polen. Englische Sprachkenntnisse werden vorausgesetzt, Polnischkenntnisse sind willkommen, werden jedoch nicht erwartet. Bewerbungsschluß ist der 15.  März 2004. Die Schirmherrschaft hat der Polnische Journalisten-Verband.
(KK)

KK1181 Seite 10
Landsleute über die Zeit hinweg
Zdenek Mateiciucs Hommage auf Gustav Ulrich

„Ich mußte erwägen, auf welche Weise ich die Fotografien und auch das Leben unseres Landsmannes Gustav Ulrich der Öffentlichkeit vorstellen soll. Eine Ausstellung oder ein Buch? Zuletzt entschied ich mich für beides. Beides hat seinen Reiz und seinen Sinn. Das Werk Gustav Ulrichs verdient es“, sagte der engagierte tschechische Unternehmer Zdenek Mateiciuc aus Odrau/Odry bei der Vernissage der im vorigen Heft angekündigten Sonderausstellung „Fotos aus dem Altvatergebirge“ im Museum für schlesische Landeskunde in Königswinter.
Beim Betrachten der rund 80 Bilder wird man in die Zeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert versetzt. Das Leben in der damaligen Welt im mährischen „Altvaterland“ scheint voller Behaglichkeit zu sein, doch der Schein trügt: Die meisten Menschen hatten ein mühsames Leben voller Entsagungen. Der Fotoamateur, Künstler und vor allem der Mensch Gustav Ulrich (1860-1932) hielt die ihm am nächsten stehenden Dinge fest: Familie, Freunde, Kinder, Menschen bei der Arbeit und Muße, sein Geburtsland, seine Heimat.
Der Ausstellungsgestalter Mateiciuc, der in der polnisch-tschechischen Grenzregion lebt, widmete die Präsentation „dem Andenken unserer Landsleute und unserer gemeinsamen Heimat in Böhmen, Mähren und Schlesien“.
Die Fotografien sind bis zum 21. März im Eichendorffsaal von Haus Schlesien zu besichtigen.
Dieter Göllner (KK)


Bücher und Medien

KK1181 Seite 11
Kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet. Carl Hanser Verlag, München, Wien 2003, 205 S., 17,90 Euro

Unter den deutschen Autoren, die aus Rumänien gekommen sind, ist die Autorin Herta Müller in der deutschen Öffentlichkeit am häufigsten und vielleicht am intensivsten präsent. Die meisten Aufsätze, die sie in diesem Buch gesammelt vorlegt, sind Ergebnisse öffentlicher Auftritte, sind Wortmeldungen jenseits der vier Wände des eigenen Kopfes, wo Literatur ja gemeinhin gemacht wird.
Jeden, der ihre erzählende Prosa flüchtig kennt, wird diese „Äußerlichkeit“ fürs erste wundern, denn zwar sind ihre Geschichten und Romane in der Zeitgeschichte und in der Gegenwart verankert, doch Faktenhuberei oder Polemik sind ihr genauso fremd wie rhetorisches Gestikulieren. Vielmehr sind ihre Texte ganz und gar und im innerlichsten Sinn eigene, ihr Pflichtgefühl und ihr Verantwortungsbewußtsein gehen nach innen, der Bezug zur Wirklichkeit wird in keinem äußeren Koordinatensystem, nach keinem allgemein sanktionierten Kanon definiert, sondern sie stellt sich der Welt gegenüber – ganz auf sich gestellt.
Ob Herta Müller über Literatur redet oder über Politik, immer redet sie zuerst über sich. Das Schöne aber ist, daß Hörer oder Leser sich weder ausgeschlossen noch bevormundet fühlen müssen, daß sie ihr Wort für Wort folgen können, weil dem Text etwas zugrunde liegt, was am ehesten als Ernst, Redlichkeit, als totale Abwesenheit von Demagogie bezeichnet werden kann. Wem alles so nahegeht wie Herta Müller und wer sich so ungeschützt darauf einläßt, tut es weder zum Zweck der Produktion von Texten noch der Selbstdarstellung, und stände sie selbst auch noch so exponiert im Vordergrund.
Hier spricht eine Geschädigte, der die Verfolgung im totalitär regierten Rumänien und die fortwirkende Angst ein Erkenntnismittel beschert hat, das sie im gleichnamigen Aufsatz als „Fremden Blick“ bezeichnet. „Der mitgebrachte Fremde Blick ist alt. Neu daran ist nur, daß er zwischen intakten Blicken auffällt. Er läßt sich nicht von heute auf morgen abstellen, vielleicht nie mehr.“ Zwar heißt es von ihm, er habe „mit Literatur nichts zu tun“, aber am Anfang der Literatur von Herta Müller steht er allemal. „Man spürt die überanstrengten Nerven buchstäblich im Körper wie Zwirn und kann sie nicht abwerfen. Man wird sich überdrüssig und muß sich lieben.“ Dieser Überdruß und diese Liebe laden ihre realitätsgesättigte Prosa mit lyrischer Spannung auf.
Die Verletzlichkeit ist bei Herta Müller eine ästhetische Größe, im ursprünglichen wie im literarische Sinn. „Ich muß mich im Schreiben dort aufhalten, wo ich innerlich am meisten verletzt bin, sonst müßte ich doch gar nicht schreiben.“ Die sinnliche Erfahrung erzeugt allemal eine Wunde, und daraus wird Sprache. Das erscheint bei dieser Autorin so natürlich wie ein physiologischer Vorgang – und ist nichts weniger als das. Davon zeugen die Essays: von höchster Reflexion eigenen und fremden Arbeitens mit Sprache, von Einsicht in die Welt der Worte und ihre Beziehung zur Welt, von Wissen um die Vorläufigkeit eigener Erfahrung und die beschränkten Möglichkeiten, sie so mitzuteilen, daß sie auch wirklich „geteilt“ wird.
Die vermeintlich nur ihrer Spontaneität verpflichtete, aus ursprünglich naiver Wahrnehmung heraus Bilder imaginierende Dichterin zeigt sich hier von – nein, nicht von einer anderen Seite, sondern in all ihrer Vielseitigkeit. Anrührend ist zu sehen, wie selbst der unpoetischste Gegenstand unter ihrem unverwandten Blick bedrängende Formen gewinnt, wie alles und jedes aus der Gleichgültigkeit gehoben und der Banalität entkleidet wird – denn alles kann „der Fall“, alles kann „Sache“ sein. Wenn man es richtig ansieht, sieht es zurück: Hobelspäne, das Haar, der Panzer, die Schlinge, die Familiengeschichte, die Sprache, das Nachthemd, die Bäume im Frühling: „In den Parks saß der Tod, wenn die ganz jungen, leicht rötlichen Blätter der Pappelalleen nach den Zimmern alter Leute rochen. Und der wachshelle Tod saß auch die Straßen entlang, in blühenden Linden, wenn dieser gelbe Staub fiel. Auf dem Asphalt rochen die Linden anders, es gab unzählige Linden im Dorf, aber nur hier in der Stadt fiel mir, wenn sie blühten, beim Riechen das Wort ,Leichenzucker' ein.“
Wenn man dankbaren Neid darüber empfindet, daß einem selbst solche Worte nicht einfallen, ist das ein Zeichen, wie unmittelbar man sie versteht. Diese Unmittelbarkeit ist es, die die Lektüre zu einem bedrängenden Erlebnis werden läßt. Denn Herta Müller nimmt den Leser mit ihren Sätzen buchstäblich in die Pflicht, sie gönnt ihm keinerlei Bequemlichkeit der kontemplativen Anschauung oder Gefälligkeit der unverbindlichen Erbauung. „Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht. Jeder gute Satz mündet im Kopf dorthin, wo das, was er auslöst, anders mit sich spricht als in Worten.“ Das ist nicht einfach, das kann es gar nicht sein, sonst müßte sie „doch gar nicht schreiben“. Man darf sich wünschen, daß sie weiter kann, wie sie muß.
Georg Aescht (KK)


KK1181 Seite 12
Kein Ort, niemals
Jörg Bernig: Niemandszeit. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2002, 282 S., 19,80 Euro

Niemandszeit im Niemandsort! Der 1964 in Sachsen geborene und in der DDR aufgewachsene Autor studierte Deutsch und Englisch in Leipzig und wurde nach der Wende Lehrer in Schottland und Lektor in Wales. 1994 nahm er Wohnsitz in Berlin. Er promovierte an der Freien Universität mit einer Arbeit über Kriegsromane. Krieg ist auch das Thema seiner neuen Veröffentlichung „Niemandszeit“.
Das Romangeschehen ist im Gebiet des Dreiländerecks zwischen Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei angesiedelt und hat die Vertreibung von etwa drei Millionen deutscher Einwohner nach Kriegsende 1945 zum Inhalt. Darin liegt die Schwierigkeit. Vielleicht ist noch nicht Zeit genug verflossen, daß man die an Deutschen begangenen Unmenschlichkeiten während der „Säuberungsaktionen“ in Romanform wiedergeben könnte, wobei hier nicht zur Debatte steht, daß Rachetaten vorausschaubare Reaktionen auf früher stattgefundenes Unrecht waren. Obwohl mit markanten Einzelschicksalen geschildert, tritt Erschütterung – so empfindet es die Rezensentin – nicht ein. Jeder Dokumentarbericht, jede noch so stolperhafte Zeitzeugenaussage erschüttert mehr als dieser stilistisch beachtenswerte Roman. Daß der Autor sämtliche Jahreszahlen in Buchstaben wiedergibt (z. B. neunzehnhundertsechsundvierzig), ist eine Masche, die Leseunwillen erregt.
Der Hauptstrang in Kürze: Der junge Gablonzer Gürtler Tomás Andél schließt sich 1945 den sogenannten „Menschenjägern“ an, einer nach Kriegsende gebildeten Garde, deren Aufgabe es ist, Deutsche aufzuspüren, auszuplündern, zu töten und die übrigen zur Grenze zu treiben: Fort mit euch! Weg! „Sie sahen sich als die Rächer ihres Volkes, die Richter über die Taten und Verbrechen der Deutschen im Lande.“ Tomás aber sucht unentwegt nach Theres, seiner großen Liebe. Sie ist Deutsche. Wenn sie nicht schon vertrieben ist, muß sie sich versteckt halten. Viele tun es in abgelegenen Dörfern, unzugänglichen Wäldern. Er will Theres retten, deshalb ist er bei der Garde. Er gaukelt sich vor, daß beide irgendwo Unterschlupf finden werden, er, der dann als Deserteur gilt, und sie, die gejagte Deutsche.
Als „Pfadfinder“ seiner Gruppe hat Tomás die Aufgabe, Wege und Ortschaften, die auf keiner Karte verzeichnet sind, zu erkunden und zu melden. Als Vorhut macht er sich allein auf die Suche. Er folgt seinem Gespür, entdeckt ein Dorf hinter einem Steinbruchkrater, umgeben von Walddickicht; ein paar Häuser, wie vom Leben vergessen. Aus sicherer Deckung heraus beobachtet er die wenigen Einwohner. Später wagt er sich zu ihnen vor. Wie vermutet, sind es Deutsche, aber auch Tschechen. Er begegnet zwei Kameraden, Deserteure aus seiner Gruppe. Dann schlägt sein Herz höher: Den Dorfpfad entlang geht Theres. Wie die anderen hat sie hier Zuflucht gefunden.
Zuflucht? Im Niemandsort in der Niemandszeit? Nein! Die Gruppe der Menschenjäger hat die Fährte von Tomás ausfindig gemacht, für sie ist er Verräter, abgehauen, desertiert. Sie finden das Dorf und stürmen es am Abend ...
Esther Knorr-Anders (KK)

KK1181 Seite 13
Ein polnischer Historiker ist der Wahrheit von Lamsdorf auf der Spur
Edmund Nowak: Lager im Oppelner Schlesien im System der Nachkriegslager in Polen (1945-1950).

Hg. Zentrales Kriegsgefangenenmuseum Lambinowice-Opole 2003, 380 S., 15 Euro

Im Literaturverzeichnis ist der Autor Dr. Edmund Nowak mit über 40 Titeln vertreten, und dies ist wohlbegründet. Er hat seit der Wende von 1989 als erster Pole das Thema des Lagers Lamsdorf im Kreise Falkenberg in Oberschlesien wissenschaftlich behandelt. 1991 erschien in Oppeln sein Buch „Schatten von Lambinowice. Versuch einer Rekonstruktion der Geschichte“, seit 1994 in deutscher Übersetzung vorliegend. Das jetzt erschienene Buch zieht gleichsam Bilanz aus all dem, was seither über Lamsdorf bekannt geworden ist, angereichert durch Berichte über die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen errichteten Lager.
Mehrere Absichten verfolgt der Autor, 1945 in Biskupitz im Kreise Rosenberg in Oberschlesien geboren. Offen bekennt er, daß in den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft in Polen die Existenz des Lagers mit all den mörderischen Grausamkeiten totgeschwiegen worden ist. Der Hauptschuldige, der Feldwebel und Lagerleiter Czeslaw Geborski (gesprochen: Gemborski), war zwar nach seinem vielmonatigen sadistischen Wüten abgelöst, aber schließlich vor Gericht freigesprochen und sogar hochrangig befördert worden.
Seit 1969 gibt es in der Bundesrepublik Deutschland das Buch von Heinz Esser über „Die Hölle von Lamsdorf“. Die darin angegebenen Zahlen des Lagerarztes von Lamsdorf, selbst ein Gefangener, widerlegen und aufklärend wirken soll nun dieses Buch (bis zur süffisanten Notiz, daß Heinz Esser seit 1932 Mitglied der NSDAP gewesen sei, wobei unterschlagen wird, daß Heinz Esser später in der Bundesrepublik Deutschland für die SPD Mitglied eines Stadtrates war).
Der persönliche Stolz Edmund Nowaks sind die Archivmaterialien über Lamsdorf. Übrigens wurden noch nach der Wende bestimmte Archivbestände zurückgehalten und konnten erst nach der Erstveröffentlichung von 1991/1994 benutzt und mitgeteilt werden. Edmund Nowak gibt sich als der beste Kenner des Lagers Lamsdorf aus, und dem kann man nicht widersprechen. Nur geht er mit anderen Autoren, die sich gleichfalls um eine der Wahrheit verpflichtete Darstellung bemüht haben, allzu rechthaberisch und abwertend um.
„Um dieses Lager entstanden viele Mythen, Halbwahrheiten, Vorurteile und Unklarheiten. Sie haben ihren Ursprung einerseits in dem apokalyptischen und extremen Bild dieses Lagers, welches von den westdeutschen Landsmannschaften und den dortigen Massenmedien lanciert wurde, zum anderen aber auch im von Polen betriebenen Abstreiten der Fakten über die in diesem Lager begangenen Rechtsverletzungen und Verbrechen. Das Verschweigen der wahren Geschichte des Nachkriegslagers Lambinowice war in der Zeit Volkspolens unvermeidlich.“
Es folgt dann das Wort „Nachkriegshölle“, also die Übernahme des Titels von Heinz Esser, der inzwischen in der zwölften Auflage vorliegt. Das war und ist ein moralischer Aufschrei und Ausdruck des berechtigten Verlangens nach Wahrheit und Verurteilung. Darum muß widersprochen werden, wenn mit Blick auf die deutsche Veröffentlichung über Lamsdorf von „Verfälschung“ gesprochen wird. Die von Heinz Esser genannten Zahlen von 8000 Inhaftierten und 6500 gewaltsam ums Leben gekommenen Lagerinsassen entsprachen dem damaligen Wissensstand. Erst viele Jahre nach der Wende ist es jetzt Edmund Nowak möglich, mit überzeugendem Zahlenmaterial, erhärtet durch eifriges Archivstudium, aufzuwarten. Die polnischen Ortsnamen erschweren unnütz die Lektüre. Wer weiß schon, daß das wiederholt genannte Niemodlin, in dessen Kreis Lamsdorf liegt, in deutscher Sprache Falkenberg heißt? Zumal das Buch „mit finanzieller Unterstützung aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland“ gedruckt werden konnte, wäre die Achtung und Benutzung der deutschen Sprache geboten gewesen.
Obwohl die Zahlen, die Heinz Esser genannt hat, revidiert werden mußten, steht auch jetzt fest, daß Lamsdorf unter den über 200 Lagern in Polen als außergewöhnlich bezeichnet werden muß, mit einer Sterbeziffer von 25 Prozent, und diese wird nur noch vom Lager „Zgoda“ bei Schwientochlowitz überstiegen. Das Lager Lamsdorf war nach den jüngsten und wohl als zuverlässig geltenden Recherchen mit 5000 Inhaftierten belegt. Die Zahl der Toten in diesem Lager, das vom Juli 1945 bis zum Oktober 1946 bestanden hat, wird jetzt mit 1000 bis 1500 angegeben! Den Ausdruck Konzentrationslager lehnt Edmund Nowak grundsätzlich ab, denn im Gegensatz zu den Lagern im nationalsozialistischen Deutschland sei nicht die Vernichtung der Insassen das Programm gewesen. An sich seien es zunächst Lager des Gewahrsams für die zur Vertreibung vorgesehenen Deutschen gewesen. Den Ausdruck „Umsiedlung“ zieht er allerdings vor.
Als Häftlinge zählten die Deutschen überhaupt, weil sie wegen ihrer deutschen Nationalität als Familien oder Dorfgemeinschaften „aussortiert“ werden sollten. In gleicher Weise war potentieller Lagerinsasse, wer in irgendeiner Verbindung mit der NSDAP oder ihren Unterorganisationen gestanden hatte oder haben sollte. Im Arbeitslager Lamsdorf waren die Bedingungen nicht anders als zuvor die in vielen deutschen Konzentrationslagern, Unmenschlichkeit und Verfolgungswahn obsiegten. Der Lagerkommandant Czelaw Geborski maßte sich, nicht anders als Salomon Morel im Lager „Zgoda“, in grenzenloser Willkür die Rolle eines Rächers an. Im Gegensatz zu Morel, der sich heute in Israel aufhält und trotz polnischen Begehrens nicht ausgeliefert wird, steht Geborski seit Januar 2001 vor dem Bezirksgericht Oppeln unter Anklage. Deren Gegenstand ist zum ersten Mal die Ermordung von 48 Häftlingen am 10. Oktober 1945. Der Prozeß ist wiederholt aus formaljuristischen Gründen unterbrochen worden. Edmund Nowak, dem es um ein gutes deutsch-polnisches Nachbarschaftsverhältnis geht, rätselt über den Ausgang des Prozesses. Ein Freispruch des Hauptschuldigen würde den „Mythos Lamsdorf“ als offene Wunde zwischen den beiden Völkern nur neu beleben.
Das Buch verdient Anerkennung ob der Gewissenhaftigkeit einer um Objektivität bemühten Darstellung und der Anklage brutaler Unmenschlichkeit, leidet jedoch an den vielen Wiederholungen. Mindestens ein Fünftel des Umfanges hätte man sich sparen können. Der Leser hat die durch Belege beweiskräftig gewordene Geschichte des Lagers längst begriffen. Lamsdorf als Lager war grausam und ist zu einem Inbegriff der Grausamkeit geworden.
Herbert Hupka (KK)


KK1181 Seite 15
Ich schreibe Briefe, also bin ich – noch
„Bitte um baldige Nachricht“. Alltag, Politik und Kultur im Spiegel südostdeutscher Korrespondenz des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts.

Hg. von Joachim Wittstock und Stefan Sienerth. IKGS Verlag, München 2004
(Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas),
358 S., 26 Euro
(Bestellung über Herold Druck- u. Verlag GmbH, Raiffeisenallee 10, 82041 Oberhaching, Tel. 0 89 / 61 38 71 15)
 
Dieses Buch bietet einen Ausschnitt aus der umfangreichen, noch kaum erforschten Korrespondenz südostdeutscher Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Maler, Musiker und Politiker des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Die Briefe – darunter viele von bemerkenswerter Lebendigkeit und Farbigkeit -, die aus zahlreichen Archiven und Privatnachlässen zusammengetragen worden sind, bereichern die Kenntnis über die Biographien und Werke zahlreicher Persönlichkeiten aus Südosteuropa mit einer Reihe wichtiger Daten und Informationen.
Der Sammlung sind auch einige Zuschriften gewöhnlicher Zeitgenossen beigegeben, erschütternde Briefbotschaften aus den Jahren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Kargheit meist nur weniger, bei aller Angst wohlüberlegter Worte ist von Demütigung, Enteignung und Verfolgung der Juden in Rumänien die Rede, aber auch von den Sorgen und Nöten der Deutschen in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, in stalinistischen Arbeits- und Straflagern. Ergänzt wird dieser Teil der Korrespondenz mit Briefen südostdeutscher Politiker und an Politik interessierter Schreiber sowie mit Zuschriften, die von der Vereinnahmung des deutschsprachigen Kulturlebens durch die Nationalsozialisten und von den Drangsalierungen der Intellektuellen zur Zeit der kommunistischen Diktatur berichten.
Die gesamte hier veröffentlichte Korrespondenz gewährt nicht nur aufschlußreiche Rückblicke auf ein tragisches und spannungsreiches Jahrhundert, wie es das vorausgegangene war, sie vermittelt auch einen Querschnitt durch die Lebenswirklichkeit der Deutschen in Südosteuropa vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kommunismus. Der Reichtum an kultur- und sozialgeschichtlichen Informationen, von dem die Korrespondenz der Südostdeutschen ein beredtes Zeugnis ablegt, sichert diesen Quellen einen hohen dokumentarischen Wert.
Die Kommentare der Herausgeber versuchen, den Kontext, in dem die Briefe jeweils geschrieben wurden, zu erschließen und die existentielle Situation der Briefpartner zu erhellen.
(KK)


KK1181 Seite 15
Primär oder sekundär: Hauptsache Hauptmann
 
Die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft, 1952 gegründet, ist ein literarischer Verein mit dem Ziel, Werk und Persönlichkeit des schlesischen Nobelpreisträgers allen Interessierten näherzubringen und die mit ihm und seinen Zeitgenossen verbundene Literatur und Forschung zu pflegen. Neben einer Reihe von Buchveröffentlichungen, in der zuletzt als Band 12 der dritte Teil der „Internationalen Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns“ des kanadischen Germanisten Sigfrid Hoefert erschien (über die Jahre 1987-2001), gibt sie seit 1999 halbjährlich die „Gerhart-Hauptmann-Blätter“ heraus, „Literarisches Biographisches Kritisches“ über den Dichter.
Bisher sind zwölf Ausgaben (davon zwei Sonderhefte) erschienen. In seinem Geleitwort zur ersten Nummer betont Dr. Klaus Hildebrandt, der Vorsitzende der Gesellschaft, daß sie ein Gesprächsforum seien, über die Rezeption von Hauptmanns Werk vielfältig informieren sollen. Deshalb schließt jede Ausgabe mit „Hauptmann-Nachrichten“ über Aktivitäten und Novitäten.
Jedes Heft wird mit der Rubrik „Vor 100 Jahren“ (oder mehr) eröffnet, die einer Uraufführung bzw. Erstausgabe gewidmet ist. Neue Beiträge der Sekundärliteratur über das Schaffen des Dichters, auch bisher unveröffentlichte Texte werden vorgestellt. Auch wird an Persönlichkeiten erinnert, die sich um sein Werk verdient gemacht haben. Berichtet wurde und wird über die Arbeit der Gesellschaft, das Hauptmann-Haus auf Hiddensee, das Museum in Erkner und die erfreuliche Entwicklung beim „Wiesenstein“, einst Agnetendorf. Dazu gibt es interessante Einzelbeiträge zu Themen wie: die Anregung zur Novelle „Die Spitzhacke“, Hauptmanns Lyrik, Hauptmann und die Atombombe, Hauptmann sieht Brecht, seinen Plan einer Palästina-Reise, Hauptmann in Dachau, Hauptmann in Georgien, die polnische Werkausgabe, Berichte von Hauptmann-Schulen.
Ein Sonderheft ist dem Thema Hauptmann und der Nationalsozialismus gewidmet und enthält Beiträge über „Widerstand im Werk“ und die Ereignisse auf Hiddensee 1933 (mit Briefen). Das zweite bringt Briefe seines „Eckermann“ Joseph Chapiro.
Mit der Ausgabe 11/2003 wurde der fünfte Jahrgang der Gerhart-Hauptmann-Blätter abgeschlossen. Schon das Titelbild erinnert an die Uraufführung der „Rose Bernd“ vor 100 Jahren, es folgen Kritikerstimmen und ein Bericht von Henny Porten über ihren Stummfilm von 1919. Der Regisseur Thomas Langhoff beantwortet Fragen zu seiner fünften Hauptmann-Inszenierung (zuletzt „Michael Kramer“ am Berliner Ensemble ). Joachim Biener erzählt von seinem Weg zum Werk des Dichters. Es folgen Beiträge über Hauptmanns Goethe-Gedichte und sein Eintreten für den Schriftsteller Ernst Hardt.
Neue Bücher über Hauptmann in Dresden und Radebeul und über die Atriden-Tetralogie stellen die Autoren Manfred Altner und Alexander Pfleger vor. Nach Margarete Hauptmanns Tagebüchern werden die letzten Begegnungen mit Russen und Polen behandelt. Abgedruckt wird die „Gemeinsame Erklärung zur Zusammenarbeit“ der drei Hauptmann-Häuser. Den Abschluß bilden wieder Hauptmann-Nachrichten.
Die neuen Ausgaben kosten 2,20 Euro, sie können über den Buchhandel oder direkt beim Gustavs Verlag (16341 Zepernick, Goslarer Straße 4) bestellt werden – natürlich auch im Abonnement. Die Mitglieder der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft erhalten sie wie auch die „Veröffentlichungen“ kostenlos zugesandt. Im selben Verlag erschien jetzt auch eine Broschüre „Aufgaben, Akzente und Tendenzen der Gerhart-Hauptmann-Forschung. 50 Jahre Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft“ mit den Vorträgen, die auf der Jubiläumsveranstaltung im Museum Erkner gehalten wurden.
H. D. Tschörtner (KK)

„Schlesien – Evangelische Kirchengeschichte im Herzen Europas. Forschungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft“ ist das Thema einer Tagung, die vom Verein für Schlesische Kirchengeschichte e. V. vom 26. bis zum 28. März 2004 in der Evangelischen Akademie in Jauernick-Buschbach bei Görlitz durchgeführt wird. Näheres ist zu erfahren beim Vorsitzenden des Vereins, Pfarrer em. Dr. Christian-Erdmann Schott, Elsa-Brändström-Str. 21, 55124 Mainz.
(KK)


Literatur und Kunst

KK1181 Seite 17
Erich Pawlu
Arme Schlucker

„Für ein Versuchskaninchen bist du viel zu verdrossen“, sagte Kathrin, meine Frau. „Sobald das Medikament leichte Wirkungen zeigt, wirst du dauernd herumnörgeln.“
Kathrin unterschätzte offenbar meine Bereitschaft, der Wissenschaft zu dienen. Zusammen mit neun anderen vom Leben gezeichneten Männern nahm ich im Pharmawerk eine rosarote Tablette entgegen. Wir schluckten sie unter Aufsicht und wurden für diesen Forschungsbeitrag anständig bezahlt. „Sie erhalten Anticalvitin, eine Tablette mit völlig harmlosen Wirkstoffen“, sagte Dr. rer. nat. Rübe, der Testleiter. „Ich empfehle Ihnen dringend, alle Auffälligkeiten in Ihrem Befinden sorgfältig zu registrieren.“
Ich paßte gut auf: Schon auf dem Heimweg gefielen mir in der Fußgängerzone kurz hintereinander drei Mädchen. Eine vierte junge Dame lächelte mich an. Vielleicht strahlte ich zu diesem Zeitpunkt schon ansteckende Lebenslust aus.
Als ich mir nach ein paar Tagen wieder die fällige Tablette abholte, schilderte ich unserem Versuchsleiter die seelische Bereicherung, die mir sein Medikament verschafft hatte: Mit dem Schlucken des Präparats sei sofort mein Gefühl verflogen, ein armer Schlucker zu sein. Dr. Rübe starrte über seine Brille hinweg prüfend in meine Augen und erkundigte sich, ob meine Familie von irgendwelchen erblichen Übeln heimgesucht sei. „Von einer gewissen Anlage zur Verdrießlichkeit abgesehen, sind wir alle gesund“, antwortete ich.
Vierzehn Tage später überraschte ich Kathrin nach zehnjähriger Geschenkpause mit einem Blumenstrauß. Meine Frau strich mir freundlich über die Stirn, sagte „Das ist aber lieb“ und telefonierte mit Dr. Rübe. Der Pharmazeut wandte mir am nächsten Tag bei der Tablettenausgabe seine besondere Aufmerksamkeit zu. Das war durchaus begreiflich; denn ich zog seine Assistentin, ein langhaariges Mädchen namens Irene, in ein munteres Gespräch über die unbegrenzten Möglichkeiten der pharmazeutischen Forschung und über die Chance, dem ruppigen Teil der Menschheit mit Tabletten beizukommen. Abschließend bemühte ich mich, Irene zum gemeinsamen Besuch einer Eisdiele zu bewegen.
Leider wurde der Langzeit-Versuch abgebrochen, als ich mit der Gründung des Aktionskreises „Frohe Kontakte ohne Komplikation“ Aufsehen erregte. Unser Testleiter belehrte mich, daß ich nun mit der Aushändigung weiterer Anticalvitin-Tabletten nicht mehr rechnen dürfe.
„Das ist jammerschade“, sagte ich. „Die harmlosesten Wirkstoffe haben aus mir einen ganz neuen Menschen gemacht.“
„Die Nebenwirkungen“, sagte Dr. Rübe, „sind wirklich erstaunlich. Eigentlich wurde Anticalvitin ja zur Bekämpfung des Haarausfalls entwickelt. Aber die Versuchsergebnisse legen die Vermutung nahe, daß wir nun etwas gefunden haben, mit dem wir die ganze Menschheit heiter stimmen können. Ich denke, in wenigen Jahren wird das Präparat unter dem Namen Boneuphor den Markt erobert haben.“
Nun warte ich – von der alten Verdrießlichkeit geplagt – auf den Ausbruch des Boneuphor-Zeitalters. Als Wegbereiter des wissenschaftlichen Fortschritts weiß ich, wie heiter die Zukunft sein wird. Da fällt es schwer, sich in der ärgerlichen Gegenwart zurechtzufinden.
Erich Pawlu (KK)


KK1181 Seite 18
Georg Büchners Weg über Galizien in die Moderne
Das Geleit gab ihm Karl Emil Franzos, der Aufklärer des osteuropäischen 19. Jahrhunderts, der vor 100 Jahren gestorben ist

Das Geklingel des gegenwärtigen Literaturbetriebs nervt zwar mitunter, ist aber glücklicherweise nicht laut genug, um Stimmen zu übertönen, die sich aus zeitlicher und räumlicher Ferne melden. Im Gegenteil, oft genug kommt deren sonore Qualität gerade vor dem Hintergrund des Geklingels erst richtig zur Geltung.
Die Ränder deutschsprachiger Literatur, immer schon aufs schönste ausgefranst bis ins östlichste Europa, werden heutzutage auch aufgrund der politischen Entwicklung immer intensiver wahrgenommen. Landschaften, für deren kulturelles Gedächtnis sich nur wenige zuständig sahen, deren „landsmannschaftliches“ Bemühen mit politisch korrekter Verachtung gestraft wurde, rücken ins Blickfeld der akademischen Forschung und des Feuilletons, dem es immer wieder gelingt, auch dort, wie allenthalben, sich selber zu entdecken.
War er denn nicht immer schon unser, dieser Karl Emil Franzos, der deutsche Jude, einem galizischen Schtetl entwachsen und zeitlebens bemüht, diese seine Heimstatt dem Abendland zuzuführen? Zwar sind die meisten seiner Texte verschollen, zwar hat man grundsätzliche Einwände gegen seine Darstellung des Gettos, aber interessant findet man das alles schon. Zwar glaubt man ihm vorwerfen zu müssen, daß er in seinen Büchern „Aus Halb-Asien“ (1876), „Vom Don zur Donau“ (1878), „Aus der großen Ebene“ (1888) allgemein gängige Klischees und Vorurteile gleichsam zementiert hat, daß er die Rückständigkeit des jüdischen Gettos, des slawischen Nationalismus, der spätfeudalen östlichen Gesellschaft nicht in großen geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen gesehen und deshalb nicht zu den Differenzierungen gediehen ist, derer man sich heute befleißigt, aber Pionierleistungen sind das schon.
Der Arztsohn, 1848 im galizischen Czortkow geboren, in Czernowitz aufs Gymnasium gegangen und dann nach Wien, später nach Berlin gezogen, hatte kein historisch-kritisches, kein soziologisches Rüstzeug zur Hand, als er sich aufmachte, das „Halb-Asien“ seiner Herkunft, das ja auch ein halbes Europa sein mußte, für dieses verständlich zu machen in Aufsätzen, Erzählungen, Schilderungen, historischen Exkursen und feuilletonistischen Glossen. Er hatte lediglich aus eigener Anschauung und menschlichem Anstand ein Unrechtsbewußtsein gewonnen, das ihm half, jene Welt als reformwürdig zu begreifen und seinen unermüdlichen Griffel dafür einzusetzen, wenngleich er wohl wußte, daß zum großen literarischen Entwurf weder der Gegenstand taugen noch die eigene Kreativität reichen würden. So unterwarf er sich denn der Fron der schrittweisen publizistischen Aufklärung mit „Kulturbildern aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien“, wie seine Bücher im Untertitel heißen – einer Aufklärung, die in beide Richtungen ging: Der Osten sollte lernen, daß er zu Europa gehörte, und Europa sollte über seinen Osten, den halb-asiatischen, lernen.
Die Konfliktsituation hat einer seiner berufensten Nachfolger, der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß, so zusammengefaßt: „Es ist die Tragik dieses Autors, daß er von der kulturellen Mission der Deutschen im Osten träumte, während diese in Deutschland zunehmend imperialistisch gewendet wurde; daß er die Emanzipation der osteuropäischen Juden aus deutschem Geist verlangte, während sich die Studentenverbindungen seiner Jugend Arierparagraphen gaben und Juden aus dem universitären Leben zu verbannen suchten. Unbeirrt, zunehmend verzweifelt hielt Franzos wider die Realität an einem Bildungstraum deutscher Kultur fest, als dieser sich bereits zersetzt hatte. (...) Für all die Krankheiten des Ostens wußte er eine deutsche Arznei, nur hatte er übersehen, daß der deutsche Arzt nicht Lessing, sondern Bismarck hieß.“
Im Geiste Lessings stand gewiß seine Zeitschrift „Deutsche Dichtung“, mit der er sich vom eigenen weitläufigen, heute weitgehend vergessenen Opus gleichsam abwandte und den Traditionen der deutschen Bürgerkultur zum Ende ihres Jahrhunderts, ihren glanzvollen Vertretern Conrad Ferdinand Meyer, Gustav Freytag, Theodor Fontane, Theodor Storm Kränze flocht.
Zugleich jedoch hat Karl Emil Franzos der deutschen Literatur einen Schriftsteller wiedergegeben, dessen schmales Werk eines 24jährigen Lebens auch das nächste Jahrhundert prägen sollte und noch lange nicht „ausgelesen“ ist: Georg Büchner. Mit der ersten Büchner-Gesamtausgabe von 1879 einschließlich einer ersten Lesart des „Woyzeck“ hat er sich zahlreichen philologisch durchaus berechtigten Anfechtungen ausgesetzt, aber eine Restitution geleistet, die viele revolutionär sich gebärdende literarische Manifeste und Manifestationen auch hundert Jahre danach in den Schatten stellt.
Ist es ein Zufall, daß Georg Büchner auf dem Umweg über Galizien ins literarische Bewußtsein der Gegenwart gelangt ist? Dann ist es ein bedenkenswerter Zufall, der vieles erhellt, nicht zuletzt, wenn auch viel zu spät, Galizien.
Georg Aescht (KK)


KK1181 Seite 20
Die Einmaligkeit des Menschen ins Bild gehoben
Zum 60. Todestag des Malers Willy Jaeckel

Dreimal in einem Leben, das gerade 56 Jahre währte, wurde Willy Jaeckel ein Opfer seiner Zeit, in die er am 12. Februar 1888 in Breslau hineingeboren worden war: 1933 wollten ihm die Nationalsozialisten das Amt eines Professors der Staatlichen Kunstakademie in Berlin absprechen. Bereits mit 37 Jahren hatte er 1925 Amt und Titel erreicht. Die Studenten protestierten und erwirkten die Rücknahme der Enthebung. Aber der Nationalsozialismus griff erneut nach ihm, indem er ihn zu den „entarteten Künstlern“ zählte, so daß seine Bilder und Grafiken aus den öffentlichen Sammlungen entfernt werden mußten. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zog er sich ins Allgäu zurück, wo er bereits in früheren Jahren für längere Dauer Aufenthalt genommen hatte. Der Zweite Weltkrieg schlug dann aber gleich zweimal vernichtend zu. 1943 wurde sein Atelier in der Kunstakademie zerstört. Im Jahr darauf traf am 30. Januar (einem ohnehin bitteren Gedenktag deutscher Geschichte) eine Fliegerbombe das Haus, und Willy Jaeckel wurde zusammen mit anderen Hausbewohnern im Luftschutzkeller ein Todesopfer.
Und die Werke? Dem Sohn war es durch eine abenteuerliche Fahrt gelungen, auf Hiddensee, des Malers Lieblingsinsel, einen Teil zu retten, den dieser hier in Sicherheit gebracht hatte. Diese Sammlung war im Jahre 2000 als Schatz des Tegernseer Tales in Miesbach und in Tegernsee zu sehen. Das Museum Ostdeutsche Galerie in Regensburg hat mehrmals Gemälde und Grafiken ausgestellt. Auch auf internationalen Kunstauktionen stößt man gelegentlich auf Werke des Künstlers.
In den 20er bis in die beginnenden 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts galt Willy Jaeckel als einer der nicht nur bekanntesten, sondern vor allem dank seiner Grafiken und dann seiner großartigen Porträts, meist Frauenbildnisse, zu Recht gerühmten Maler, schon 1919 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, die Galerie Fritz Gurlitt zeigte früh sein Werk, die Nationalgalerie in Berlin kaufte Bilder, in der Villa Massimo war er Gast. Aber heute folgt dieser Erinnerung häufig die Frage: Wer war eigentlich Willy Jaeckel? Selbst bei seinen schlesischen Landsleuten sind Name und Werk nahezu unbekannt.
Der geborene Breslauer kommt aus der schlesischen Hauptstadt, besucht mit 18 Jahren zuerst die Breslauer Kunst- und Kunstgewerbeschule, Eduard Kaempf ist hier sein Lehrer, dann von 1906 bis 1911 die Akademie in Dresden, um zunächst nach Breslau zurückzukehren. Berlin wird sein neues Zuhause. Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges treffen auch ihn, er wird Kartenzeichner bei der Truppe in Rußland. Auch sei nicht verschwiegen, daß er ursprünglich sein Geld als Dekorationsmaler verdient hatte.
„Krieg zeugt Religion“, dieses Wort ist nicht ohne Grund auf Willy Jaeckel gemünzt worden und meint seine vielen graphischen Blätter religiöser Thematik (zum Alten Testament) und mit Motiven zwischenmenschlicher, vornehmlich erotischer Verbindungen. Hier begegnet man, sollte der Grafiker stilistisch eingeordnet werden, dem Expressionisten, zugleich dem Anthroposophen und Mystiker. Die Blätter tragen Titel wie „Wille“, „Weisheit“, „Der Herrscher des Lichts“, „Der Ich-Sucher“, aber auch „Die Selbstoffenbarung“, „Verschmelzung von Gottgeist und Menschengeist“, „Der Turmbau zu Babel“ – eine zur glühenden Lichtturmspitze sich verjüngende Häufung von Körpern und Körperteilen, ein Blatt aus dem Jahre 1921, das mit Anlaß für die Etikettierung „entartet“ gewesen sein soll.
Ein anderer Willy Jaeckel offenbart sich in den Porträts und Landschaften. Hier stellt sich der Expressionist als Realist vor. In den Landschaften schwingt Skepsis gegenüber dem Sosein mit. Und die prachtvollen Porträts sind zwar Wiedergabe der realen Wirklichkeit des Gegenübers, aber sie atmen einen Hauch von Melancholie. Die Porträts wollen gefallen, aber das Bild ist Zeuge einer doppelten Subjektivität, derjenigen der/des Porträtierten und derjenigen des Malers. Keines der Bildnisse frönt der Eitelkeit, im Gegenteil, das Morbide hinter allem schönen Schein soll spürbar werden. Die Wahl der Farben hat der Aussage zu dienen, der Hintergrund ist meist monokolor, die Farben sind zurückhaltend, denn das Thema ist die Einmaligkeit des jeweiligen Menschen.
Es ist einmal kritisch angemerkt worden, Willy Jaeckel dürfe nicht in einem Atemzug mit Lovis Corinth oder Oskar Kokoschka oder Max Beckmann genannt werden, aber darauf kommt es gar nicht an, denn dieser große Maler sollte und darf nicht zu den Vergessenen und Verlorenen gezählt werden, sein Werk als Maler und Grafiker gehört zu den großartigen und bewundernswerten Leistungen des ersten Drittels des vorigen Jahrhunderts.
Herbert Hupka (KK)



KK1181 Seite 21
„Er hatte etwas vom Taugenichts“
Professor Eberhard Günter Schulz würdigte Ernst Günther Bleisch im Münchner Haus des Deutschen Ostens

Mit Ernst Günther Bleisch ist ein Lyriker von eigenem Rang dahingegangen. Er starb am 24. September 2003 in München, nur wenige Tage nach Abschluß der 53. Wangener Gespräche, bei denen er, der von 1978 bis 1987 Vorsitzender des Wangener Kreises war, noch aus seinem Werk gelesen hatte. So wurden nun zwei Veranstaltungen in München, mit denen man seinen 90. Geburtstag zu feiern gedachte, zu Stunden des Abschieds. Im Münchner Haus des Deutschen Ostens war es Professor Eberhard G. Schulz, der Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn, der Bleisch am 15. Januar einen geradezu liebevollen Nachruf widmete.
Ernst Günther Bleisch war am 14. Januar 1914 in Breslau geboren worden und hatte nach dem Besuch des dortigen Elisabeth-Gymnasiums den Beruf des Buchhändlers ergriffen. Nach Berufsjahren in Bückeburg, Weimar und Wien sowie Kriegsdienst in der Wehrmacht verschlug es ihn nach München, wo er als Journalist und Rundfunkredakteur, später als Publizist und freier Schriftsteller wirkte. Manch einer wird seine Stimme noch von der Sendereihe „Ostdeutsches Tagebuch“ (später „Ost-West-Tagebuch“) des Bayerischen Rundfunks her in Erinnerung haben, wo Bleisch zu Themen der Kulturgeschichte und der Literatur seiner schlesischen Heimat das Wort nahm.
Auch in seinem dichterischen Schaffen, das mehr und mehr in den Vordergrund trat, nahm der Rückblick auf die verlorene Heimat einen bedeutenden Platz ein. Wie Schulz sagte, könne nur derjenige Bleisch ganz verstehen, der sein Vertreibungsschicksal bedenke. Er habe schwer gelitten unter dem Verlust der Heimat und der Abtrennung des Landes, unter der Tatsache, daß dort nun Polen und die polnische Sprache zu Hause sind. Selbst wenn man in seinem Titel „Isersommer“ in Bayern einen Druckfehler auszumachen meinte, sei ihm das schmerzlich gewesen. Erst in den siebziger Jahren habe er sich mit seinem Schicksal aussöhnen können, das Trauma, das in ihm gelegen habe, überwunden.
Schulz charakterisierte Bleisch als einen faszinierenden Schilderer der Natur, in der er Parallelen zum Menschenleben entdeckt habe, aufgeschlossen für Menschen, Schicksal und Weltgeschehen. Gleichzeitig aber lebte er in der Traumwelt des Dichters. Er habe nicht nur jünger erscheinen wollen, als er war, sondern sei es auch tatsächlich gewesen. „Er hatte einiges von Eichendorffs Taugenichts. Es war immer Sonntag in seinem Gemüte.“ Bei aller Skepsis, die ihm auch eigen gewesen sei.
Selbst melancholische Züge waren Bleisch, wie sein lyrisches Werk verrät, nicht fremd. Dessen Grundzug ist als „existentialistische Chiffrierung von Naturbildern“ (Volker Busch) beschrieben worden. Dabei hat sich Bleisch mehr und mehr von der traditionellen Machart der Versdichtung entfernt. Inhaltlich kreiste sein Dichten, wie es Schulz in knapper Kennzeichnung darstellte, um die Natur (in den Variationen der Jahreszeiten), um die Liebe sowie um Tod und Vergänglichkeit. Aber selbst bei den Todesgedichten habe ihn, so Schulz, der Humor nicht verlassen. „Ohne Humor ist der Dichter Bleisch nicht zu denken.“
Den dauernden Mittelpunkt seines Lebens und Dichtens fand der Breslauer Ernst Günther Bleisch in München, wo er seit 1978 den Schwabinger Literaturkreis „Die Seerose“ leitete. Seine Freunde aus diesem Kreis haben am 14. Januar, dem 90. Geburtstag von Bleisch, mit Lesungen aus seinen und eigenen Werken ernst und heiter Abschied von ihm genommen.
Sein lyrisches Werk ist vor allem in den Bänden „Zeit ohne Uhr“ (1983) und „Anfällig für Romanzen“ (2002) gesammelt. Es fand mit der Verleihung des Andreas-Gryphius-Preises der Künstlergilde (1985), des Ernst-Hoferichter-Preises (1989), der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande (1990) und mit der Einladung in die Villa Massimo nach Rom (1992) seine Würdigung. Bleisch wußte selbst literarische Qualität von modernem Wortgeklingel zu unterscheiden und dem Wirken von Dichtern vergangener Zeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wie Schulz ihm nachrühmte.
Peter Mast (KK)


KK1181 Seite 22
In der KK 1179 vom 10. Januar 2004 ist der Beitrag „Der Mut zum Maß aller Dinge. Erinnerung an den österreichischen Künstler Hans Fronius“ von Franz Heinz erschienen. Ergänzend teilt uns Christin Fronius, die Witwe des Künstlers, bei der alle Reproduktionsrechte liegen, mit: „In der Zeit von 1943 bis 1988 erschienen 115 Mappenwerke und Bücher und davon mehr als die Hälfte in deutschen Verlagen. Auch nach dem Tod sind sieben in deutschen Verlagen erschienen.“
(KK)

KK1181 Seite 23
KK-Notizbuch

Die Sendung „Alte und neue Heimat“ des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, bringt am 7. März einen Bericht über Deutsche als Zwangsarbeiter. Am 14. März lädt Christian Finkenwirth zu einem Spaziergang durch die „fremde Heimatstadt“ Stettin ein.

Am 12. März um 23 Uhr strahlt das WDR-Fernsehen einen Film von Ulla Lachauer über „Ostpreußens lange Nachkriegszeit“ aus. Der Film erzählt Geschichten vom „Aufbau des Sozialismus im fremden Land“ und von seinem dramatischen Scheitern. Für die von der Sowjetmacht hier angesiedelten Menschen war die deutsche Vergangenheit tabu, und über die eigene, aus Weißrußland oder der Ukraine mitgebrachte durften sie ebensowenig sprechen. Die Wende hat nur Kaliningrad und den Ostseebädern einen Aufschwung beschert. Das Hinterland dagegen verwildert, die Memelniederung etwa ist in den Urzustand zurückgefallen.

Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Verbindung mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht veranstaltet vom 3. bis zum 5. März im Adam-Stegerwald-Haus in Königswinter eine Tagung zum Thema „Das Recht auf die Heimat“ über Grundsatzfragen und aktuelle Probleme insbesondere im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen Union. Die wissenschaftliche Leitung übernehmen Professor Dr. Dieter Blumenwitz und Professor Dr. Dietrich Murswiek, die Tagungsleitung hat Hans-Günther Parplies inne.

Die Deutsche Selbstverwaltung Budapest zeigt zur Zeit im Haus der Ungarndeutschen in Budapest eine Fotoausstellung zur „Vertreibung der Deutschen in Osteuropa (1945-1947)“ mit ergänzenden Führungen und Zeitzeugengesprächen.

Das Münchner Haus des Deutschen Ostens präsentiert bis zum 2. April die Ergebnisse einer „Fotoreise“ von Kurt Kaindl zu den „unbekannten Europäern“, den kleinen Volksgruppen der Aromunen, Sefarden, Gottscheer, Arbereshe und Sorben. In seinen Begleittexten skizziert Karl Markus Gauß die Geschichte dieser Nationalitäten.

Das Gerhart-Hauptmann-Haus Düsseldorf zeigt in Zusammenarbeit mit dem Litauischen Kunstmuseum Memel/Klaipeda Werke des aus Preußisch Litauen stammenden Pranas Domsaitis. Der 1890 in Cropiens als Franz Carl Wilhelm Domscheit geborene Künstler zählte zur Zeit der Weimarer Republik zu den bedeutenden Vertretern des Expressionismus und war an gemeinsamen Präsentationen in Berlin, Stettin und Königsberg beteiligt, betonte dann aber auch durch die Namensänderung seine baltische Herkunft.

Dr. Reinold Schleifenbaum, der Vorsitzende der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Mitglied im Stiftungsrat und im Beirat der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, ist am 29. Januar in Siegen gestorben. Die Kulturstiftung und die Arbeitsgemeinschaft Deutsches Kulturerbe des Ostens, die sie mit dem OKR eingegangen ist, schulden ihm Dank für seinen unermüdlichen Einsatz und sein von großem Pflichtbewußtsein getragenes Engagement.

Erhard W. Appelius, geboren 1929 in Deutsch Krone, der als Jurist (Völkerrechtsreferent), Dozent, Journalist und schließlich Ministerialrat vielfältig tätig gewesen ist und sich um die ostdeutscheKultur wissenschaftlich wie organisatorisch ehrenamtlich verdient gemacht hat, feiert am 2. März seinen 75. Geburtstag.

Der aus Siebenbürgen stammende Lyriker Oskar Pastior ist mit der Liliencron-Dozentur ausgezeichnet worden. Diese einzige allein der Lyrik vorbehaltene Poetikdozentur am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität Kiel und dem Literaturhaus Schleswig-Holstein besteht aus drei Vorlesungen, einem begleitenden Kolloquium und einer Lesung, mit der die Reihe am 24. Mai eröffnet wird.

Den mit 20 000 Euro dotierten Kant-Preis der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius erhält der Münchner Philosoph Dieter Henrich, Autor einer dreibändigen Monographie zu Kant und dem deutschen Idealismus, am 22. April im Rahmen einer internationalen Kant-Konferenz in Königsberg.

Der polnische Philosoph Krzysztof Michalski, Gründer und Rektor des Wiener Instituts für die Wissenschaft vom Menschen, wird am 3. April 2004 in Stuttgart mit dem diesjährigen Theodor-Heuss-Preis geehrt.
(KK)