KK1179 2004-01-10

 

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Deutsche und Russen im 20. Jahrhundert –
Zeitzeugen und Zeitzeugnisse in Geschichtswissenschaft und Unterricht

Wildeck liegt nicht weit von der Bahnstrecke zwischen Bebra und Eisenach. Gerstungen ist einer der Ankunftsorte für Bahnreisende. Jahrzehntelang war er einer der Grenzkontrollpunkte im innerdeutschen Bahnverkehr und sicher noch einigen Teilnehmern von daher bekannt als Ort, wo Herzen erregter schlugen, wenn man sich ihm näherte. Heute ist das glücklicherweise Vergangenheit, und Wildeck bot sich deshalb als Tagungsort für die Lehrer und Multiplikatoren des Pädagogischen Arbeitskreises Mittel- und Osteuropa aus Hessen und den Kollegen aus Thüringen an, weil es von den neuen Ländern aus gut erreichbar ist und der Thüringer Hof den Anforderungen an eine Tagungsstätte voll gerecht wird.

Brigitte Walzer aus Schöneck hieß die Teilnehmer willkommen. Diese Tagungsleiterin erwies sich als Glücksgriff, denn sie ist ihrer Herkunft nach selbst ein „Wolfskind“ und war daher mit wesentlichen Teilen des Tagungsthemas auch von ihrem Schicksal her bestens vertraut. In Wildeck konnte sie zeitweise über 50 Personen zu den einzelnen Veranstaltungen begrüßen, neben den 31 Gästen, die im Thüringer Hof übernachteten, immer auch Tagesgäste von den umliegenden Schulen, die zu den einzelnen Veranstaltungen kamen. Studiendirektor Gustav Ullrich war für die vorbereitende Organisation zuständig gewesen. Er hatte diese Aufgabe zum Lob aller Gäste gemeistert.

Gerolf Fritsche stellte gleich anfangs in Form eines Interviews Professor Wladimir Gilmanow als Zeitzeugen vor. Geschickt arbeitete er die Wandlung vom unkritischen Sowjetbürger in der abgeschlossenen Oblast Kaliningrad zum kritischen Dissidenten des Regimes heraus. Am Abend war Professor Gilmanow gleich wieder im Einsatz. Gerolf Fritsche führte in einem eindrucksvollen Lichtbildervortrag die historisch-kulturellen Schwerpunkte des nördlichen Ostpreußen vor. Sie waren so aneinandergereiht, daß dadurch die wesentlichen Bereiche idealtypisch zusammengeführt wurden. Königsberg/Kaliningrad bildete dabei den Ausgangspunkt, der Dom, die Universität, die Stadttore und die Mars/Wityas die Schwerpunkte, wobei natürlich Geschichte und Gegenwart immer in den Blick genommen wurden. Vorgestellt werden auch Tilsit und das Memelufer, Trakehnen und der Osten des Landes, das Frische Haff mit dem Fluchtstrand bei Balga, das Samland von Tenkitten über Germau und Palmnicken bis zum Kap am Brüster Ort und von da an der Bäderküste entlang, schließlich die große Epha-Düne der Kurischen Nehrung. Professor Gilmanow konnte dazu die aktuellsten Informationen im Kommentar beisteuern und darüber Auskunft geben, welches das jüngere Schicksal der Gebäude und Orte war. So konnte er auch erklären, weshalb einige ganz verschwunden sind.

Professor Rudi Maskus referierte am nächsten Vormittag über Zeitzeugenberichte als unverzichtbare Grundlage der Geschichtswissenschaft. Er führte eindrucksvoll vor, wie solche Berichte gesammelt, informativ ausgestaltet und eingesetzt werden. Sein Kollege Seibert hatte nach Absprache einige gesammelte Berichte vorbereitet und konnte so den Vortrag illustrieren. Am Nachmittag führte Studiendirektor Eckhard Scheld in das biographische Schaffen von Professor Iring Fetscher ein, von dem für viele erst jüngst bekannt geworden ist, daß er im März/April 1945 als junger Offizier in der Nähe von Heiligenbeil beim Zusammenbruch Ostpreußens Zeitzeuge war. Nach Absprache mit Eckhard Scheld las er einige der markantesten Passagen aus seinen Aufzeichnungen. Anschließend kam es zu einer sehr angeregten Aussprache.

Am Abend konnte Brigitte Walzer einen weiteren Höhepunkt ankündigen. Apolinaria Sujewa war wie Wladimir Gilmanow aus Königsberg/Kaliningrad angereist. Sie las aus ihrem Werk „Sprich doch mit mir, du meine Stadt!“ Auch einige noch nicht veröffentlichte Gedichte las sie, einige auf russisch.

Am nächsten Vormittag berichtete Kadiriye Güven über das Schicksal der Wolfskinder im Grenzgebiet zwischen Litauen und dem russischen nördlichen Ostpreußen. Sie ist eigens dorthin gereist, um sich vor Ort kundig zu machen. Die Wolfskinder hatten sie herzlich aufgenommen und sie auch mit Urkunden- und Bildmaterial ausgestattet, das sie nun vorführte. Vor allem das Zeitzeugnis der Christel Verprauskas beeindruckte die Teilnehmer. Sie gehört zu den wenigen Wolfskindern, die durch glückliche Umstände die deutsche Sprache wiedergewonnen haben und deshalb vor deutschem Publikum ohne Dolmetscher berichten können. Aus dem Projekt dieser Tagung ist ein umfassender Zeitzeugenbericht von Christel Verprauskas entstanden, der erste so informativ gestaltete eines Wolfskindes überhaupt. Er kann gegen eine Gebühr in Briefmaken beim PAMO bestellt werden. Gesondert können außerdem die Protokolle von Gerolf Fritsche, Oppelner Str. 8, 63071Offenbach, Telefon 0 69 / 85 39 94 angefordert werden.

Harald Wolf konnte einen eindrucksvollen Schlußpunkt setzen. Er hatte in einer Projektarbeit mit Realschülern der 10. Klasse seiner Schule in Neuhof bei Fulda verschiedene Wolfskinder im litauischen Grenzgebiet aufgespürt und interviewt. Als Übersetzer hatten die Schüler der Partnerschule in Kaunas zwanglos geholfen. Harald Wolf fiel es leicht, glaubhaft zu machen, daß seine Schüler von ihren Entdeckungen bestürzt, daß sie aber auch begeistert waren, etwas entdeckt zu haben, wovon andere überhaupt nichts wissen. Wer den Neuhofer Schülern nacheifern will, muß sich beeilen, denn die Wolfskinder sind ihrem historischen Schicksal nach mindestens in das letzte Fünftel ihres Lebens eingetreten.

Gerolf Fritsche lud am Ende die Teilnehmer zur nächsten Veranstaltung zum Thema „Deutsche und Tschechen – aus Gesprächen kann Versöhnung werden“ vom 31. Mai bis zum 3.Juni 2004 nach Bad Kissingen ein.

Franz Gissau (KK)

 

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Ulitzka
Gemeindepfarrer und Europapolitiker
Carl Ulitzka, der „ungekrönte König von Oberschlesien“

Kein anderer oberschlesischer Politiker hat das Gesicht Oberschlesiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart gestaltet und geprägt wie der katholische Geistliche Carl Ulitzka, Prälat aus Ratibor-Altendorf. In seiner Heimat galt er als „ungekrönter König von Oberschlesien“, der seine Heimat vierzehn Jahre hindurch in der Nationalversammlung und im Reichstag vertrat.und der den Führungsgremien der Zentrumspartei während der gesamten Epoche der Weimarer Republik angehorte.

Carl Adolf Franz Ulitzka wurde am 24. September 1873 in Jernau, Kreis Leobschütz, an der Südwestgrenze der preußischen Provinz Schlesien geboren. Nach dem Abitur studierte er in Breslau und Graz Theologie. Im Jahre1896 beendete er an der Universität Breslau sein Theologiestudium, in dessen Verlauf er auch die polnische Hochsprache erlernt hatte. Es folgte bis 1901 die Kaplanszeit in Kreuzburg, der einzigen Stadt in Oberschlesien mit einer mehrheitlich protestantischen Bevölkerung.

Mit den Erfahrungen eines katholischen Seelsorgers in einem evangelisch dominierten Umfeld ausgestattet, übernahm er 1901 als junger Pfarradministrator die katholische Gemeinde in Bernau bei Berlin. Nebenher betätigte er sich publizistisch, indem er 1903, im Todesjahr von Papst Leo XIII., eine Sammlung von Enzykliken dieses großen sozial denkenden Papstes im Selbstverlag in deutscher Sprache herausbrachte.

Im Jahre 1910 kehrte Ulitzka als Pfarrer der St.-Nikolaus-Kirche in Ratibor-Altendorf in seine oberschlesische Heimat zurück. In der zweisprachigen Gemeinde wirkte Ulitzka in deutscher und polnischer Sprache. Nebenher engagierte sich der politisch aufgeschlossene Geistliche in der Ratiborer Kommunalpolitik für die katholische Zentrumspartei.

Die große Stunde des Politikers Carl Ulitzka schlug im November 1918, als der wiedererstehende polnische Staat Besitzansprüche auf das zweisprachige Oberschlesien anmeldete. In diesem Spannungsfeld ergriff Carl Ulitzka, getrieben von den Ereignissen, die Initiative. Er führte den oberschlesischen Parteiverband des Zentrums unter dem Namen „Katholische Volkspartei“ in die Selbständigkeit und propagierte als Lösung der „Oberschlesischen Frage“ ein von Preußen – und damit auch vom Rest Schlesiens – losgelösten Bundesstaat Oberschlesien innerhalb des Deutschen Reiches.

In den Friedensbedingungen der Alliierten war die Forderung nach einer bedingungslosen Abtretung von ganz Oberschlesien an Polen enthalten. Das Zentrum unter Ulitzka stellte sich an die Spitze der prodeutschen Bewegung. Bis zum Plebiszit, das am 20. März 1921 ein Stimmenverhältnis von 60 zu 40 Prozent zugunsten Deutschlands erbrachte, blieb der Vorsitzende des oberschlesischen Zentrums einer der wichtigsten Gegenspieler des polnischen Abstimmungskommissars Wojciech Korfanty sowie des Präsidenten der Interalliierten Plebiszitkornmission (IK), General Henri Le Rond, der im Auftrag seiner Regierung massiv die polnische Seite unterstützte. Nachdem mit französischer Billigung und Unterstützung im Mai 1921 der „Dritte Polnische Aufstand“ in Oberschlesien ausgebrochen war, organisierte sich die zivile deutsche Seite in einem parteiübergreifenden „Zwölferausschuß“. Vorsitzender dieses Gremiums wurde, als Führer der stärksten Partei, Carl Ulitzka. Erst jetzt, unter chaotischen, bürgerkriegsähnlichen Umständen, wurde Ulitzka zum unbestrittenen Vertreter der deutschen Sache in Oberschlesien. Dennoch warf man ihm auf der äußersten Rechten bis 1933 auch unentwegt vor, als Vorsitzender des Zwölferausschusses 1921 „Hochverrat“ begangen zu haben, weil er nach der Eroberung des Annaberges am 23. Mai 1921 statt eines weiteren deutschen Vorstoßes aus Gründen der militärischen wie politischen Vernunft das Gespräch gesucht hatte.

Nach der Teilung Oberschlesiens durch den Völkerbund verschrieb sich Carl Ulitzka in seinem außenpolitischen Engagement ganz der Revision der neuen Grenze. Als Sprecher seiner Fraktion im Reichstag begleitete er die die revisions- und verständigungspolitischen Aktivitäten des deutschen Außenministers Gustav Stresemann und propagierte eine liberale und moderne Minderheitenpolitik im deutschen Teil Oberschlesiens, die fest eingebettet war in die allgemeine Entwicklung der nach 1922 eigenständigen preußischen Provinz und welche die Anziehungskraft auf die polnischsprachigen Oberschlesier jenseits der künstlichen Grenze mit der Zeit so groß werden lassen sollte, daß eine Wiedervereinigung des Landes innerhalb des Deutschen Reiches zumindest denkbar erschien. Doch Ulitzkas „Magnettheorie“ war durchaus ambivalent. Sie fand ihr logisches Gegenstück in seinem Engagement für die deutsche Minderheit in Ostoberschlesien.

Seine größte politische Leistung aber hat Carl Ulitzka zweifellos beim Aufbau der eigenständigen Provinz Oberschlesien vollbracht. Als Vorsitzender der mit Abstand größten Partei Oberschlesiens, stellvertretender Landeshauptmann, Vorsitzender des oberschlesischen Provinzialausschusses sowie Mitglied des Provinziallandtages war er maßgeblich daran beteiligt, daß Oberschlesien nach Jahren des Chaos, der Ungewißheit und des blutigen Bruderkrieges wieder zur Ruhe gelangte und sich politisch wie ökonomisch festigte.

Dem aufkommenden Nationalsozialismus versuchte Ulitzka von 1930 an durch Treue gegenüber dem Zentrumskanzler Heinrich Brüning zu begegnen. Nach den letzten pluralistischen, aber längst nicht mehr freien Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933 trieben SA-Formationen den politischen Prälaten bei der letzten großen Zentrumsversammlung in Gleiwitz unter Schmährufen aus dem Saal und mißhandelten ihn. Dennoch stimmte auch Ulitzka wenige Wochen später, unter Androhung physischer Gewalt und in tiefer Sorge um den Erhalt wenigstens der kirchlichen Freiheiten, im Reichstag für die Annahme des Hitlerschen Ermächtigungsgesetzes.

Carl Ulitzka, der stets seine priesterliche Berufung über die Tätigkeit als Politiker gestellt hatte und die ganze Zeit seines politischen Engagements hindurch Gemeindepfarrer in Ratibor geblieben war, konzentrierte sich fortan ganz auf die Seelsorge. Sein Eintreten für die polnische Sprache in Kirche und Seelsorge brachte ihm im Juli 1939 schließlich die Ausweisung aus Schlesien ein. Nach seiner Vertreibung wurde Ulitzka Krankenhausseelsorger im Berliner St. Antonius-Hospital. Über alte Weggefährten wie Hans Lukaschek erhielt er auch Kenntnis von den Attentatsplänen der Verschwörer des 20. Juli, ohne allerdings selbst beteiligt gewesen zu sein. Nach dem Scheitern des Anschlages verhaftete die Gestapo Ulitzka am 28. Oktober 1944 und wies ihn – ohne Verhör und Begründung – am 21. November in das KZ Dachau ein. Im März 1945 endete für den fast 72jährigen Geistlichen die Leidenszeit überraschend, wie sie begonnen hatte. Ende Juni 1945 versuchte Ulitzka via Berlin in seine oberschlesische Heimat zurückzukehren, Dort traf er nach einer wochenlangen abenteuerlichen Reise am 5. August 1945 ein. Nachdem ihm unmißverständliche Morddrohungen zugegangen waren und er von den neuen polnischen Stadtbehörden keinen Schutz erhielt, sah sich Ulitzka bereits am 12. August 1945 dazu gezwungen, Oberschlesien fluchtartig und für immer zu verlassen. In Berlin nahm er nun wieder seine Tätigkeit als Krankenhausseelsorger auf.

Politisch engagierte sich Ulitzka umgehend in der neu gegründeten CDU, ohne allerdings Mandate oder Parteiämter anzustreben. Anstatt in die hohe Parteipolitik einzusteigen, widmete er sich der Problematik seiner vertriebenen Landsleute. Er verfaßte zahlreiche Denkschriften über die Unrechtmäßigkeit der Oder-Neiße-Linie, votierte für ein Rückkehrrecht der Vertriebenen und Flüchtlinge und schrieb tröstende Grußworte für die ersten Heimattreffen.

Bereits vom Tod gezeichnet, feierte er am 24. September 1953 seinen 80. Geburtstag im Kreise seiner Freunde ganz bewußt als großes Abschiedsfest. Wenige Wochen darauf, am 12. Oktober, starb Carl Ulitzka in Berlin-Friedrichshagen. Die Erfüllung seines größten Wunsches, die oberschlesische Heimat wiederzusehen, ist ihm versagt geblieben.

Guido Hitze (KK)

 

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Der „Aufbau des Sozialismus“ konnte das Vertriebenenproblem nicht erledigen
Michael Schwartz sprach in München über Flucht und Vertreibung in der Literatur der DDR

Die Flüchtlinge und Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und späteren DDR konnten ihr Schicksal nicht vergessen und viele von ihnen die Oder-Neiße-Linie, offiziell „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ genannt, nicht akzeptieren. Andererseits – und gerade deshalb – belegte das SED-Regime den gesamten Themenkomplex Flucht und Vertreibung mit einem Tabu. Die daraus erwachsende Spannung im parteistaatlich kontrollierten Geschichtsbild Mitteldeutschlands vermochte die dortige Belletristik in einem nicht geringen Maße zu mildern. Das war ihr nur deshalb möglich, weil sie das Thema nicht durchwegs mied und dabei nach sehr konformen Anfängen die Anpassung an die Parteilinie nicht auf Gedeih und Verderb in Kauf nahm.

Zu diesem Ergebnis kam Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte, Arbeitsstelle Berlin, in einem Vortrag im Sudetendeutschen Haus in München zu „Flucht und Vertreibung in der literarischen Öffentlichkeit der DDR“, zu dem der Adalbert Stifter Verein eingeladen hatte.

Schwartz vertrat die irritierende These, daß die Flüchtlinge in der Sowjetzone bzw. DDR, dort beschönigend „Umsiedler“ genannt, in ihrer neuen Umgebung zunächst schneller Fuß gefaßt hätten als diejenigen in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik. Bis zum Jahr 1952, in dem in Bonn das Lastenausgleichsgesetz in Kraft gesetzt wurde, habe östlich der Demarkationslinie ein „sozialpolitischer Leistungsvorsprung“ bestanden. Richtig ist – und darauf kam es Schwartz an –, daß die Sowjetzonen-Behörden darum bemüht waren, das Umsiedlerproblem möglichst schnell von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Es sei um eine „unumkehrbare Integration“ gegangen; eine Revision der Vertreibung „als Denkvorbehalt“ habe man unbedingt ausschließen wollen. Das heißt, gemäß dem Bestreben der Sowjets, ihr neues Imperium zu konsolidieren, sollte Ostdeutschland und das Schicksal seiner Bewohner vergessen gemacht werden.

Dem hatte auch die Literatur zu dienen. Als Beispiel dafür nannte Schwartz die 1953 erschienene Kurzerzählung „Die Umsiedlerin“ von Anna Seghers. Diese wie andere Autoren entledigten sich ihrer ihnen von der SED zugeschriebenen Erziehungsaufgabe, indem sie die Vertriebenen auf eine Teilnahme am Aufbau einer neuen Gesellschaft verwiesen, ja ihnen das Ziel stellten, Bahnbrecher des Neuen zu sein.

Doch die Flüchtlinge und Vertriebenen – es waren insgesamt rund viereinhalb Millionen, von denen bis 1961, bis zum Mauerbau also, etwa 900 000 die DDR verließen – ließen sich zumeist die Verbindung mit der alten Heimat und die Erinnerung an ihr Flüchtlings- und Vertreibungsschicksal nicht nehmen und konnten erst recht nicht für den DDR-Sozialismus gewonnen werden. Vergleichsweise wenige nutzten die Aufstiegschancen, die sich im Zuge der von den Kommunisten betriebenen Verdrängung der alten Eliten unter dem Etikett des „Antifaschismus“ und im Gefolge massenhafter „Republikflucht“ boten. Nachforschungen der SED ergaben, daß etwa 20 Prozent der DDR-Bevölkerung nicht bereit waren, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren. Mit diesem Mißerfolg der parteistaatlichen Lenkungsversuche hing es nach Schwartz zusammen, daß es gegen Mitte der fünfziger Jahre zu einer vollständigen Tabuisierung des Vertriebenenproblems kam.

Es blieb der schönen Literatur vorbehalten, das „totalitäre Sprechverbot“ auf die Länge zu überwinden, Flucht und Vertreibung – zunächst ohne offenen Tabubruch und nur punktuell – wieder zu einem Thema zu machen. Schwartz nannte den aus Schweidnitz stammenden Armin Müller mit seinem Gedichtband „Reise nach S.“ von 1965 und seinem reichlich zwanzig Jahre später erschienenen Roman „Der Puppenkönig und ich“ wie den aus Sachsen gebürtigen Heiner Müller mit seiner Seghers-Dramatisierung „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ von 1956/61, die nach der ersten Aufführung im Jahre 1961 abgesetzt wurde, um erst 1975/76 in einer Neufassung publiziert und wieder aufgeführt zu werden. Freilich muß es fraglich erscheinen, ob das Verbot des Stücks wie die im selben Zusammenhang erfolgte Entfernung Müllers aus dem DDR-Schriftstellerverband auf die wenig erhellende Behandlung des Vertriebenenproblems durch den Autor zurückging.

Ab 1975 gewährte die Kulturpolitik der SED der Literatur wieder mehr Raum, der auch dem Schreiben über Flucht und Vertreibung günstig war. Schwartz verwies auf die unter diesen Umständen erschienenen Romane „Kindheitsmuster“ (1976) von der aus Landsberg an der Warthe stammenden Christa Wolf, „Wir Flüchtlingskinder“ (1985) und „Wir sind keine Kinder mehr“ (1990) von der in Schlesien geborenen Ursula Hoensch sowie „Abschied von Kopelken“ von der gebürtigen Ostpreußin Helga Lippelt. Diese Bücher suchten der Wirklichkeit von Flucht und Vertreibung gerecht zu werden, nannten die Defizite der sowjetzonalen Eingliederungspolitik und die Tatsache beim Namen. daß sich die Flüchtlinge zugleich der Ablehnung durch die Einheimischen und den Zumutungen des SED-Regimes ausgesetzt sahen.

Hinzu kam als Thema in den achtziger Jahren noch der Generationskonflikt unter den Flüchtlingen und Vertriebenen. Das Tabu, das die Behandlung von Flucht und Vertreibung in der DDR-Literatur unmöglich gemacht hatte, fiel, wie Schwartz meint, nicht zufällig zu der Zeit, als unter den Betroffenen eine neue Generation herangewachsen war, die dem Vertreibungsschicksal gegenüber Distanz aufbrachte und Enteignungen wie die Grenzziehungen von 1945 nicht mehr in Frage gestellt wissen wollte. Es sei nunmehr eine „innerliche Debatte“ um die Befindlichkeit derjenigen geführt worden, die einst ihre Heimat verloren hatten. Das Vertriebenenproblem sei so entpolitisiert worden. Es habe einen Platz in der neuerdings erfundenen Nationalgeschichte der DDR bekommen sollen, so wie 1981 das Reiterstandbild Friedrichs des Großen von seinem Potsdamer Verbannungsort an seinen angestammten Berliner Platz Unter den Linden zurückgekehrt sei.

Peter Mast (KK)

 

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Ehrung für Kurt David in Polen
Gedenktafel für den aus Reichenau stammenden Schriftsteller

So etwas hat es im polnisch-deutschen Grenzgebiet bislang noch nicht gegeben. Da wurde an der Schule, die ein deutscher Schriftsteller von 1930 bis 1938 besucht hat, eine zweisprachige Gedenktafel enthüllt, auf der dessen Leistungen gewürdigt werden, da seine Werke in viele Sprachen übersetzt worden sind.

In Reichenau/Sachsen, der heute polnischen Stadt Bogatynia, wurde am 13. Juli 1924 Kurt David geboren, der eigentlich nicht Schriftsteller, sondern später einmal Musiker werden wollte. Seine Eltern hatten die musikalische Begabung ihres Sohnes frühzeitig erkannt und sie nach besten Kräften gefördert. So war David schon in jungen Jahren ein guter Violinist, be- herrschte das Klavierspiel und hatte Orgelunterricht genommen. Doch wegen einer Kriegsverletzung konnte sein Wunsch, Musik zu studieren, nicht in Erfüllung gehen. 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, mußte er zunächst feststellen, daß sich sein Geburtsort Reichenau nun unter polnischer Verwaltung befand und er dorthin nicht zurückkehren konnte. Arbeit fand er jedoch als Sekretär des Kulturbundes in Zittau, wo er alsbald begann, Kurzgeschichten zu schreiben, die das Interesse eines aus französischer Emigration heimgekehrten Schriftstellers weckte. Es war Rudolf Leonhard, der Vater des bekannten Rußlandexperten Wolfgang Leonhard, der Kurt David den Weg zur Schriftstellerei ebnete.

In seinem Erstlingswerk „Die Verführten“ schilderte David das ehrliche Ringen junger Deutscher um die Überwindung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Danach folgten Reportagebände über seine ersten Reisen in die Mongolei. David war nämlich der erste mitteleuropäische Schriftsteller, welcher nach dem Zweiten Weltkrieg viele Wochen die Mongolei bereiste und mit seinem Roman über Dschingis-Khan in zwei Bänden sowohl in beiden Teilen Deutschlands als vor allem auch in Polen großen Erfolg hatte. Immer wieder reiste er aber auch nach Polen, da ihm die deutsch-polnische Verständigung eine Herzensangelegenheit war. So entstand der Reportageband „Polnische Etüden“ und seine meisterhafte Novelle „Die Überlebende“ über den polnischen Widerstand gegen den Nazismus, welche vom deutschen und polnischen Fernsehen gemeinsam verfilmt worden ist und sogar in japanischer Sprache vorliegt.

Kurt David gehört, obwohl er bereits 1994 kurz vor Vollendung seines 70. Lebensjahres starb, noch heute in die erste Reihe der deutschen Jugendbuchautoren. So schrieb er Bücher für Jugendliche über Komponisten von europäischem Rang wie Frédéric Chopin, Franz Schubert und Ludwig van Beethoven, die in viele Sprachen übersetzt worden sind. Kurzgeschichten von David findet man auch heute noch in deutschen und ausländischen Schulbüchern. Wie sehr hätte sich David als überzeugter Europäer darüber gefreut, dass 15- und 16jährige polnische Schülerinnen und Schüler seiner ehemaligen Schule in Reichenau/Bogatynia gerade einen polnisch-deutschen Band mit Gedichten vorlegten, wobei Europa, die Verständigung der Völker und speziell die Freundschaft zwischen Polen, Deutschen und Tschechen die Themen waren. Wer aber in der DDR keine Bücher Davids gelesen hatte, dem war zumindest seine lustige Fernsehserie „Freitags wird gebadet“ ein Begriff, die ein Millionenpublikum amüsiert hat.

Zwar gibt es über die schriftstellerische Tätigkeit Davids in Polen mehrere Magisterarbeiten an den Fakultäten für Germanistik in Breslau und Danzig, dennoch ist es erstaunlich und bewundernswert, mit welch großem Eifer die Ehrung Davids in Reichenau/Bogatynia vorbereitet wurde. Die Direktorin der Städtischen Bibliothek konzentrierte alle in polnischer Sprache vorliegenden Bücher Davids und hatte dafür gesorgt, daß auch aus anderen Bibliotheken die David-Bücher vorübergehend nach Reichenau gelangten, damit sich Lehrer und Schüler über den Schriftsteller eingehend informieren können, während im Literaturunterricht der Lebenslauf Davids vermittelt wurde.

In seiner mehr als 40jährigen schriftstellerischen Tätigkeit hat David mit 25 Büchern, es waren dies Romane, Erzählungen, Reisebeschreibungen sowie Jugend- und Kinderbücher, die in deutsch, englisch, russisch, ukrainisch, polnisch, tschechisch, slowakisch, slowenisch, kroatisch, serbisch, norwegisch, finnisch und japanisch erschienen sind, eine große Leistung vollbracht. Doch mit Davids jetzt erfolgter Ehrung in seinem Geburtsort Reichenau/Bogatynia wird gewiß von nicht wenigen Lesern seiner Werke die Hoffnung verbunden, daß sich ein Verlag finden möge, der mit Neuauflagen seiner Bücher die Erinnerung an ihn wachhält.

Hans Lindemann (KK)

 

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Hochphasen und Tiefpunkte schlesischer Kultur
gdpv-Schlesien-Forum beschäftigte sich mit Kirchenmusik

Ob Thomas Stoltzer und Johannes Nucius oder Moritz Brosig, Max Filke und nicht zuletzt Paul Blaschke: viele große Namen haben das kirchenmusikalische Schaffen in Schlesien über Jahrhunderte geprägt und sind über die Region hinaus bekannt. Welcher Stellenwert kommt dem Lebenswerk dieser und vieler anderer Komponisten heute zu? Und ist die reiche kirchenmusikalische Tradition Schlesiens nach der Vertreibung der Deutschen am Ende? Dies sind zwei zentrale Fragen, die auf dem diesjährigen Herbstforum der „Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung“ (gdpv) in Jauernick bei Görlitz gestellt wurden. Professor Dr. Klaus-Peter Koch widersprach dabei dezidiert einer Endzeitstimmung in der schlesischen Musica sacra. Zwar äußerte sich der Direktor des Bonner Instituts für deutsche Musikkultur im östlichen Europa mit Blick auf dessen zum Jahresende anstehende Schließung besorgt hinsichtlich der Zukunft der deutschen Forschung zu diesem Thema. Jedoch sei es zukünftig ohnehin vordringlich die Aufgabe polnischer Musikwissenschaftler, das musikalische Erbe Schlesiens zu bewahren.

Demgegenüber warnte Pfarrer Dr. Peter Tarlinski von der Theologischen Fakultät der Universität Oppeln vor einem Kulturverlust für Schlesien und die dort lebenden Menschen, wenn die ideelle und vor allem finanzielle Förderung musikwissenschaftlicher Studien aus Deutschland ausbleibe. Während Professor Koch die großen Linien der Musica sacra bis 1945 nachzeichnete, richtete Dr. Tarlinski den Blick auf das musikalische Schaffen nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Ende er als kulturfeindliche Zäsur ansah. So habe sich gerade das Bistum Oppeln um die Wahrung musikalischer Aspekte in der Liturgie besonders bemüht, wobei Tarlinski vor allem auf das Deutsche und Polen verbindende zweisprachige Gebet- und Gesangbuch „Weg zum Himmel/Droga do nieba“ hinwies. Allerdings habe das nunmehr zu Polen gehörende Schlesien im kompositorischen Bereich keinesfalls an Höhepunkte früherer Epochen anknüpfen können.

Eine solche Hochphase stellte Dr. Lucian Schiwietz aus Bonn anhand der herausragenden schlesischen Komponisten Thomas Stoltzer und Johannes Nucius mit eindrucksvollen Hörbeispielen vor. Einen eher praxisbezogenen Einblick in die große Zahl kirchenmusikalischer Quellen in Schlesien gab Dr. Remigiusz Pospiech aus Oppeln, der insbesondere die seit zehn Jahren andauernde deutsch-polnische Kooperation bei der Inventarisierung der Quellen als Erfolg wertete. Pospiechs These von der hervorgehobenen Bedeutung der Liturgie für die Kirchenmusik fand Bestätigung in dem Tagungsbeitrag von Dr. Anna Wieclewska-Bach, Köln, die eine Popularisierung der Kirchenmusik vornehmlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die wachsende Zahl von Gesangbüchern konstatierte. Deutsche Choräle seien dabei einfach ins Polnische übersetzt worden und hätten einen besonderen Stellenwert für die polnische Nationalbewegung in Oberschlesien besessen.

Zurück in die Renaissance wies das Programm des Breslauer Ensembles „Ars Cantus“, das die rund 50 Teilnehmer der Tagung zu Beginn in der Görlitzer Frauenkirche mit früher schlesischer Vokal- und Instrumentalmusik u. a. aus Breslau, Sagan und Glogau auf die Thematik einstimmte. Überhaupt kam der eigenen Anschauung beim gdpv-Forum ein hoher Stellenwert zu. So gehörte zu den Höhepunkten eine Tagesexkursion auf musikalischen Spuren an Neiße und Bober, bei der unter sachkundiger Leitung von Tobias Weger, Referent für Öffentlichkeitsarbeit des Schlesischen Landesmuseums zu Görlitz, prächtig restaurierte Orgeln in Greiffenberg, Hirschberg und Bad Warmbrunn besichtigt wurden. Zu den Lokalterminen gehörte ebenfalls ein Orgelkonzert mit Werken von Bach und Reger, das Kirchenmusikdirektor Thomas Seyda an der Eule-Orgel der St.-Jakobus-Kathedrale in Görlitz darbot.

In der abschließenden Podiumsdiskussion widersprachen Professor Koch und Dr. Schiwietz der These von der Kontinuität einer bis 1945 stets auf höchstem Niveau stehenden Musica sacra in Schlesien, die sich seither im Verfall befinde. Vielmehr habe es zu allen Zeiten Höhepunkte und Tiefpunkte im kulturellen Schaffen gegeben, die Erinnerung aber hebe in der Geschichte lediglich die Glanzpunkte hervor. Insofern bestehe auch kein Grund zu der Besorgnis, das zweifelsohne reiche musikalische Erbe dieser europäischen Kulturregion könne verschüttet werden.

Michael Hirschfeld (KK)

 

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Gregor Thum:
Die fremde Stadt. Breslau 1945.
Siedler Verlag, Berlin 2003, 640 S., 29,90 Euro

Wieder ein dickleibiges Buch über Breslau, die Hauptstadt Schlesiens, nachdem ein Jahr zuvor zwei englische Historiker auf Bitten des Breslauer Stadtpräsidenten über die tausend- jährige Geschichte der Stadt im englischen Original und gleichzeitigen Übersetzungen in deutsch und polnisch vorgelegt hatten. Norman Davies und Roger Moorhouse nannten gleich drei Namen der Stadt: „Breslau – Wroclaw – Vratislavia“, der Titel der deutschen Übersetzung hieß „Die Blume Europas. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt“. Das Buch hat weder hierzulande noch in Polen zustimmende Beurteilung gefunden, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Jetzt sind es 500 Seiten Text und 100 Seiten Anmerkungen mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis, auf denen über die über fünf Jahrzehnte der Stadt seit 1945 zu unterrichtet wird, wobei anerkennend angemerkt werden darf, daß Breslau nicht nur beim polnischen Namen genannt wird. Ein Gewinn ist auch, daß die polnischen Zitate durchweg in deutscher Übersetzung erscheinen.

Wieder einmal ist hier aus einer Dissertation gleich ein Buch gemacht worden. Es sind viel zu viele fremde Texte eingefügt. Hinzu kommen nicht nur umfangreiche, sondern auch noch ausführlich kommentierte Amerkungen, außerdem etliche Wiederholungen.

Gregor Thum, in München geboren, hat nach einem Studium der Geschichte und Slawistik in Berlin und Moskau und nach sechs Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina zu Frankfurt an der Oder 2002 bei Professor Karl Schlögel an der dortigen Kulturwissenschaftlichen Fakultät promoviert. Heute lehrt der 35jährige Autor Geschichte an der University of Pittsburgh. Sein Lehrer in Berlin, Professor Klaus Zernack, „hat das Interesse für die polnische Geschichte geweckt“. Dieser habe ihn in der Absicht bestärkt, „die Dissertation von Anfang an als Buch für einen größeren Leserkreis zu konzipieren“.

Das Thema des Bandes sind 45 Jahre kommunistisch geprägtes Regiment mit allen nationalistischen Abgründen. Für den freien Umgang mit Geschichte und Geist der Stadt seit 1989 stehen leider nur 30 Seiten zur Verfügung. An welche Leserschaft wurde also gedacht? Die heutigen Einwohner von Breslau brauchen keinen deutschen Text zu lesen, um über die kommunistische Vergangenheit von Breslau informiert zu werden. Ohnehin dient es nicht der Information, wenn infolge einer nicht überzeugenden Gliederung des Stoffes zum Beispiel über das Breslauer Wappen zweimal berichtet wird, das erste Mal über die verfälschende Fassung von 1948, das zweite Mal über die nach der Wende wiederhergestellte Fassung aus dem 16. Jahrhundert mit ihren kirchlichen Bezügen. Die deutschen Leser wiederum, an die selbstverständlich zuerst gedacht wird, läßt es bestimmt kalt, über das Auf und Ab der polnischen Besitzergreifung kommunale Protokolle zitiert zu finden.

Schon der Titel „Die fremde Stadt. Breslau 1945“ fordert zum Fragen heraus. Breslau wurde am 6. Mai 1945 von der Roten Armee erobert. Bereits drei Tage später begann ein polnisches Vorkommando mit der Inbesitznahme. Jede Stadt, die von fremder Macht erobert und dem eigenen Staat einverleibt wird, ist zunächst ein Fremdkörper. Man hatte wohl Bedenken, wie es in einem Werbeblatt für dieses Buch heißt, auch im Titel zu sagen: „Eine deutsche Stadt wird polnisch“. Wer Breslau besucht, begegnet vielen erhaltenen oder restaurierten Zeugnissen der deutschen Vergangenheit, ob Rathaus oder Dominsel, ob Aula Leopoldina oder Jahrhunderthalle.

Gregor Thum fällt es in seiner Arbeit schwer, die Vertreibung der Deutschen aus Breslau so zu nennen. Ausweichend benutzt er gelegentlich Aussiedlung, Zwangsemigration, aber am liebsten das Wort Bevölkerungsaustausch. Das soll harmonisierend klingen, verfälscht jedoch die Geschichte: Die einen mußten ausziehen, damit die anderen einziehen konnten. Aufklärend werden Zahlen über den Anteil der Polen, die als sogenannte Repatrianten aus Ostpolen und Wilna nach Breslau zugezogen sind, nur wird diese Thematik wie vieles in dem Buch nicht zusammenhängend dargelegt. Zuerst erfährt der Leser, daß es 1948 in den neuen Westgebieten 24,1 Prozent „Repatrianten und Aussiedler aus der Sowjetunion“ gewesen sind. 25 Seiten später wird mitgeteilt, daß für Ende 1947 über Breslau festgestellt werden muß: „Repatrianten machten nur 20 bis 23 Prozent der Bevölkerung aus.“ Diese Zahlen sprechen gegen die Verwendung des Begriffs „Bevölkerungsaustausch“, der vorgibt, wie über die Medien gern verbreitet wird, die deutschen Vertriebenen hätten den Platz für die polnischen Vertriebenen räumen müssen. Wenngleich er wiederholt die allgemeine polnische Geschichte in seine Arbeit einbezieht, versagt es sich Gregor Thum, die unterschiedliche Historie Ostpolens und des historischen Ostdeutschlands deutlich zu machen. Auch der Ausdruck „Repatrianten“ trifft nicht zu und ist als nationalistische Propagandaformel zu werten.

Gut herausgearbeitet sind die Gesellschaftsschichten, die sich erst über einen Zeitraum von Jahrzehnten als die neue Bürgerschaft in Breslau einlebten. Plötzlich mußten Menschen, die aus bäuerlicher Tradition kamen, in einer Großstadt ein neues Zuhause finden. Und richtig akzentuiert ist auch, wie schwer sich Breslau mit dem Wiederaufbau tat, weil Warschau Proirität genoß und dort sogar Breslauer Ziegeln verwendet wurden. Außerdem bemächtigte sich die polnische Hauptstadt fast aller Kunstschätze der schlesischen Stadt, und dieser Patriotismus und Zentralismus hat bis heute obsiegt, worüber seit der Wende offen gestritten wird.

Die These von der multikulturellen Vergangenheit der Stadt und die Zitierung der bekannten Folge der sich ablösenden administrativen Oberherren ändert nichts an der historischen Tatsache: Die jahrhundertealte deutsche Stadt Breslau wurde 1945 am Ende des Zweiten Weltkrieges erobert und ist heute eine Stadt Polens. Die von Gregor Thum gern gebrauchte beschönigende Formel des „Bevölkerungsaustausches“ ist falsch. Es war eine Vertreibung der Deutschen aus ihrer Stadt. Seit der Wende von 1989/90 hat sich vieles im Rückblick auf die Geschichte und für die Stadt und ihre Bewohner zum Besseren gewandelt, nur wird dies im Buch zu knapp behandelt.

Herbert Hupka (KK)

 

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Schwarz-weiße Koalition
Walter Hanel: Haneluja! Verlag Kerber, Bielefeld o. J., 96 S. mit 90 Zeichnungen

Zum 70. Geburtstag richtete die Städtische Galerie Bergisch Gladbach ihrem Bürger, dem berühmten Karikaturisten Walter Hanel, eine Ausstellung aus, zu der dieses Buch erschienen ist. Es präsentiert eine Auswahl von Karikaturen, die er in den letzten Jahren im Kölner Stadt-Anzeiger, dem Rheinischen Merkur und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hat. Die Einführung der Herausgeberin Gisela Burkamp ist so knapp und präzise wie Hanels Linienführung: „Alle hat er sie unter seine Feder genommen, der Karikaturist Walter Hanel: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Schmidt, Brandt und Kohl, nun Schröder ... Er findet die Pointen, die Glossierungen und Grotesken, die in ihrer makabren Komik lachen machen.“ Sehr wichtig: „Die Koalition des Zeichners ist schwarz-weiß und gänzlich unabhängig von Wahlen und Parteien ... Die schöpferischen Freiheiten der Karikatur sind bei Hanel in sensiblen Händen, die künstlerischen Feinheiten nicht minder.“

In der Tat ist hier ein Künstler am Werk, der sich von seinen Kollegen unterscheidet. Er bleibt nicht im naturalistischen Abbilden stecken, sondern abstrahiert seine Beobachtungen, holt das Typische heraus, reduziert, bedient sich des Stiftes materialgerecht, wie das große Künstler in ihren freien Zeichnungen tun. Die Synthese von künstlerischer Qualität, Witz und Ironie zeichnet die Karikaturen dieses Buches aus.

In dem Band „Pointiert“, 1995 im Wienand-Verlag erschienen, trat Walter Hanel auch als Schöpfer phantastischer Zeichnungen vor das Publikum, der selbst die Erlebnisse des Krieges und der Flucht aus der Heimat mit dem Zeichenstift verarbeitet hat.

Im Anhang des Buches „Haneluja!“ erfährt man gerafft einiges über das Leben des Künstlers. 1930 in Teplitz-Schönau in der Tschechoslowakei geboren, kam er 1950 nach Köln und wurde Meisterschüler an den Kölner Werkschulen. Heute lebt und arbeitet er in Bergisch Gladbach. Erwähnt werden einige seiner Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland (u. a. Italien und Polen) und Preise. Noch nicht registriert wurde der Hauptpreis der „Gothaer Karikade“.

Daß manche politischen Persönlichkeiten auch auf dem Fernsehschirm wirken wie Hanels Karikaturen, erscheint als ironische Krönung künstlerischen Erfolgs.

Günther Ott (KK)

 

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Handball-Geschichte(n) aus Siebenbürgen und dem Banat.

ADZ-Verlag, Bukarest 2003. 334 S.
Das Buch kann beim Autor bestellt werden unter den Rufnummern 0 22 46 / 21 66 und 01 71/8 31 12 22
sowie über Internet unter waltraud.steiner@t-online.de.  
Es kostet 19,90 Euro, zzgl. 2,10 Euro für Verpackung und Porto.

Mit sieben Weltmeistertiteln gehört Rumänien zu den erfolgreichsten Handballnationen der Welt. Obwohl der Glanz vergangener Zeiten mittlerweile ziemlich verblaßt ist, genießt die rumänische Handballschule nach wie vor einen hervorragenden Ruf. Maßgeblich dazu beigetragen haben zahlreiche Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben. Sie machten das in Deutschland erfundene Handballspiel in Rumänien populär, legten das Fundament für zahlreiche Erfolge bei Weltmeisterschaften, Olympischen Spielen und Europapokal-Wettbewerben. Vielen von ihnen hat der Banater Journalist Johann Steiner mit seinem Werk „Handball-Geschichte(n)“ ein würdiges und bleibendes Denkmal gesetzt.

Steiner war geradezu prädestiniert, dieses Buch zu schreiben, gehört der Billeder doch zu den besten Kennern des rumänischen Handballs. Acht Jahre lang begleitete er diesen als Redakteur der ehemaligen Bukarester Tageszeitung „Neuer Weg“ und erlebte seinen letzten Höhenflug hautnah mit. In der rumänischen Hauptstadt trat Steiner in die Fußstapfen von Hans Frank. Mit dem Perjamoscher hatte er einen hervorragenden Lehrmeister beim „Neuen Weg“ gefunden. Frank zählt nämlich zu den absoluten Insidern des rumänischen Handballs. Kein Wunder, daß Steiner bei der Herausgabe des Buches intensiv mit Frank zusammenarbeitete. Erschienen ist es im Verlag der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“ (früher „Neuer Weg“), wo Hans Frank als stellvertretender Chefredakteur sowie Chef vom Dienst tätig ist und den Erscheinungsprozeß des Werkes überwachte.

Die Einleitung dazu stammt vom weltberühmten späteren „Bomber der Nation“ Hansi Schmidt. „Die Leistungen unserer Landsleute können sich sehen lassen, ich bin stolz, einer von ihnen zu sein“, schreibt der gebürtige Marienfelder darin. Wie recht er mit diesem Satz hat, beweist Hans Steiner anschließend. In kurzen geschichtlichen Abrissen und mehr als siebzig akribisch recherchierten Porträts läßt der Autor die Leser teilhaben an der Einführung des Handballspiels in Rumänien und an seinen großartigen Erfolgen, von denen viele auf das Konto unserer Landsleute gehen. Übrigens: Schmidt war letztendlich der Auslöser für das Erscheinen des Buches, wie Steiner im Vorwort schreibt: „Im Juni 2001 ist es endlich soweit. Im Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf treffe ich Hansi Schmidt, den Gummersbacher aus Marienfeld. Er ist mit Frau und Freunden gekommen, weil ihn das Thema interessiert, das an diesem Tag behandelt wird: die Verschleppung eines Teils der Banater Schwaben 1951 in die Donautiefebene. Kaum habe ich meine Verbannungs-Geschichte vorgelesen, spricht Schmidt mich an. Er will eine Kopie des Vortrages haben, die den Titel ‚Wie dem Hund im Brunnen’ trägt. Dann sprechen wir kurz vom Handball. Ein paar Wochen später bin ich bei Schmidts in Gummersbach. Die erste von mehreren Dutzend Geschichten steht.“

Man kann das Erstlingswerk Steiners nur schwer aus der Hand legen. Der Leser taucht ein in eine längst vergangene Welt, die die Jüngeren unter uns nur vom Hörensagen kennen, nimmt Anteil an so manchem Triumph, aber auch an zahlreichen Tragödien, an viel Freud und nicht selten auch Leid. Beim Lesen rollen die großen Siege und denkwürdigen Wettkämpfe wie in einem spannenden Film vor unseren Augen ab. Dazu trägt auch der flüssige Stil bei, in dem das Buch geschrieben ist. Damit fesselt Steiner den Leser von den ersten Zeilen an. Aufgelockert wird das Geschriebene durch so manche Anekdote, die zeigt, daß große Sportler auch Menschen sind wie du und ich. Leider konnten nicht alle Schmankerl veröffentlicht werden, weil der (die) eine oder andere Handballer(in) damit nicht einverstanden war. Eigentlich schade. Ein weiterer kleiner Wermutstropfen ist die drucktechnisch mangelhafte Wiedergabe der Fotos. Nichtsdestotrotz: „Handball-Geschichte(n)“ ist ein nicht nur für Sportbegeisterte lesenswertes Buch.

Helmut Heimann (KK)

 

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Wolf von Lojewski berichtet über Ostpreußen

Seit kurzem ist der 1937 in Berlin geborene, durch das Zweite Deutsche Fernsehen bekannt gewordene Wolf von Lojewski Rentner. Kaum im „Ruhestand“, brach er zu einer eigenen Fernsehproduktion auf, das Ziel hieß Masuren, das heute polnischer Souveränität untersteht, und das Gebiet von Gerdauen, heute in der Oblast Kaliningrad/Königsberg. Er wollte wissen: „Wo komme ich eigentlich her?“ Die Antwort präsentierte er in zweimal 45 Minuten zur besten Sendezeit.

„Wir ließen uns wieder treiben“, war von Lojewski in der zweiten Folge zu hören. Schon bei einer Pressevorführung des Films hatte er erklärt, daß er keine Erkundungsreise geplant, sondern auf Unmittelbarkeit und Zufall gesetzt habe. Allerdings stand ihm die polnische Journalistin Hanna Kassyanowicz zur Seite, die schon Klaus Bednarz in Ostpreußen begleitet hat.

Masuren, das Land der Seenplatte, der mehr oder minder unberührten Wälder und der Störche, war in vielen ausgezeichneten Aufnahmen zu sehen. Die Spuren des eigenen Lebenslaufs in enger Beziehung zu diesem Land und zu dieser Landschaft endeten leider im struppigen Gebüsch und in der Einsamkeit von Gerdauen. Glück aber hatte der Reisereporter mit einigen Begegnungen, darunter zahlreiche Gesprächspartner deutscher Muttersprache. Zwei Schloßherren treffen sich, der frühere deutsche Eigentümer Udo Graf zu Eulenburg und der heutige Besitzer, ein polnischer Kosmetikfabrikant, der auch ein Gestüt mit 70 Pferden sein eigen nennt. In der evangelischen Kirche werden in einer zweisprachigen Zeremonie ein polnisches und ein deutsches Kind getauft. Ein heimatvertriebener Ostpreuße ist jetzt mit einer polnischen Staatsbürgerin verheiratet und betreibt ein Hotel in der alten Heimat. Ein Ukrainer erzählt vom früheren Ostpolen und seinem eigenen Vertreibungsschicksal. Leider fehlte ein ebenso detaillierter Bericht eines deutschen Heimatvertriebenen.

Auch blieb das geistige Profil Masurens eher außen vor. Gern hätte man doch auch etwas von Ernst Wiechert oder Siegfried Lenz, um nur zwei Namen herauszugreifen, vernommen. Auch ein kurzer Rückblick in die Vergangenheit hätte sich angeboten. Nikolaus Kopernikus blieb nicht unerwähnt, allerdings mit der stolz vorgetragenen Behauptung, er sei Pole gewesen und dürfe nicht zum Deutschen erklärt werden.

25 Minuten waren dem russischen Teil Ostpreußens gewidmet. Die graue Ärmlichkeit, die einem schon in Masuren begegnet, findet hier eine geradezu erschütternde Steigerung. Allerdings erscheint der Umgang mit der deutschen Geschichte des Landes hier etwas leichter und ehrlicher, wie aus dem Gespräch mit dem Bürgermeister von Gerdauen und einer zweisprachigen Gedenktafel hervorging.

Der Film war mit eigens dafür komponierter Musik untermalt. Ob es wirklich so schwer ist, nur das Wort zu hören und zu „ertragen“? Und noch eine Bemerkung: Im Gegensatz etwa zu Gerd Ruges Reiseberichten ehlte hier das persönliche Engagement, die Subjektivität bei all dem Bemühen um objektive Wiedergabe. Als Leitwort galt die Aussage der Ostpreußin Marion Gräfin Dönhoff, daß man die Heimat lieben könne, ohne sie zu besitzen.

H.H. (KK)

 

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Irena Brezná: Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa.

Aufbau-Verlag, Berlin 2003, 207 S., 16 Euro
Ein weites Buch.

Es besteht aus lauter in sich geschlossenen Prosastücken mit je eigenem Gegenstand, und doch findet es keinen Abschluß, ebensowenig wie die Einzelstücke an ihrem Schluß zu Ende sind. Sie schreiben sich fort, jedes einzelne in all den andern, und alle gemeinsam im Denken und Empfinden des Lesers. So ergibt die vermeintlich amorphe Sammlung verstreut veröffentlichter Reportagen und Aufsätze ein thematisch und poetisch eng vernetztes Ganzes, das gleichwohl nach vielen Seiten und für die verschiedensten Erwartungen offen ist. Unter anderem hat die Autorin damit vor fünf Jahren die Jury des Medienpreises der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat beeindruckt und ist dafür ausgezeichnet worden.

Dieser eigenen Struktur des Buches entspricht der weit ausgreifende Themenkreis, in dem es sich bewegt: von West nach Ost, von Basel und Austin/Texas nach Siebenbürgen und Tschetschenien, aus der Slowakei ins Kosovo und aus der Tatra nach Transnistrien. Irena Brežná ist 18jährig aus dem vereisenden Prager Frühling „ausgereist worden“ und hat in der Schweiz den Spagat zwischen slowakischer Bindung und westeuropäischer Unverbindlichkeit, zwischen ihren Wurzeln im slawischen Idiom und der als Befreiung und zugleich Bevormundung empfundenen deutschen Sprache gelernt. Diesen Spannungsbogen hält sie seither nicht nur aus, sondern gewinnt ihm gestalterische Energie und eine eigene Bildhaftigkeit ab. Ihr Schreiben ist ein in seiner Stetigkeit sanft anmutender Kraftakt.

Liebesgeschichten, Anekdoten und Tagebucheintragungen stehen den Berichten und Schilderungen aus der Schuttwüste Grosny oder dem Straßburger Europaparlament nicht etwa entgegen, vielmehr durchdringen sich die vielfältigen „Textsorten“ in synchroner Bewegung. Diese epische Choreographie kennzeichnet natürliche Eleganz, ebenso natürlich jedoch sind die Momente des schreckhaften Innehaltens, des Staunens über die eigene Wahrnehmung. Kontemplative Besinnung und harsche Dramatik, reflexive Innerlichkeit und scharfsichtiger Realismus – nichts Menschliches und nichts Politisches, nichts Lyrisches und nichts Journalistisches ist der Autorin fremd. Im Gegenteil, diese Etiketten, mit denen Erkenntnis und deren literarische Umsetzung heutzutage sortiert werden, versagen vor der Prosa der Irena Brezna.

Ihren Zugang zur Wirklichkeit verschafft sie sich nicht über den gängigen Weg distanzierter, um Objektivität bemühter Recherche, sondern auf dem mühsamen Pfad eigenen Erlebens, den nur gehen kann, wer bereit ist, sich preiszugeben, nicht nur teilzunehmen, sondern Anteil und dabei gegebenenfalls sogar Schaden zu nehmen. Gerade die eigene Anteilnahme versucht sie immer wieder einzuschränken, immer wieder gelobt sie, Distanz zu halten, und immer wieder bricht sie ihr Gelöbnis – dem Gegenstand und dem Leser zum Gewinn.

Irena Brežná ist eine Fremde in der Welt, die sie bereist und bestaunt. Je größer aber ihre Fremdheit, je intensiver die Wahrnehmung der Bedrohung, desto intensiver ihr Bemühen um Beteiligung, aus der Mitteilung erwächst. Überhaupt geht einem beim Lesen dieser Texte der ursprüngliche Sinn des Wortes auf: Mit-Teilung. Diese Schriftstellerin teilt ihren Text sowohl mit jenen, über die, als auch mit jenen, für die sie schreibt.

Dennoch bleibt sie bei aller Partizipation auf fast seltsame Weise nüchtern bewußt, exponiert sich, ihre Erfahrungen und Eindrücke, ihre Worte und Bilder dauernd der sanft fragenden Ironie, mit der eine vielfältige und widersprüchliche Lebenserfahrung sie bewehrt hat. Stellenweise greift sie auch auf die Fragen ihrer Söhne oder anderer Zeitgenossen zurück, die (sich) in der verwalteten Welt noch kindliche Unverfälschtheit, Unvoreingenommenheit leisten, zu leisten vermögen.

So findet Irena Brežná für die die bedrängend aktuelle Wirklichkeit von Zeitgeschichte und Gegenwart eine Sprache, in der selbst die leergedroschenen Vokabeln des medialen „öffentlichen Diskurses“ neue Frag-Würdigkeit gewinnen.

Georg Aescht (KK)

 

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Lob der Sprache
Irina Brezna

Betrete ich Deutschland, befällt mich Euphorie. Steige ich in Basel am Badischen Bahnhof in den Zug ein, ist es, als geriete ich in meinen eigenen Text. Es gibt sie also, diese Sprache, in der ich schreibe! Sie lebt, ich habe sie mir nicht ausgedacht, bin nicht allein mit ihr! Das Inkognitodasein inmitten der Schweizer Dialekte zerspringt sogleich wie die Mauern einer Strafzelle. Mein illegales, verrücktes Tun ist in Deutschland gar erwünscht, es ist die Norm. Welche Ungeheuerlichkeit – wie wenn ein anstrengendes, gefährliches Dissidententum nicht mehr verpönt ist, sondern Bürgerpflicht. In Deutschland werde ich gesprächig, stelle, in Freudentaumel geraten und zur Probe, beliebigen Passanten Orientierungsfragen, und sie sprudeln tatsachlich drauflos. Ich beobachte mit wachsender Begeisterung, daß sie sich gar nicht anstrengen müssen, um mir den Weg zum Hotel zu erklären. Sie haben in dieser Sprache eine Leichtigkeit und Natürlichkeit, die sie ganz selbstverständlich auch von mir erwarten. Ich bringe sie mit meinem Hochdeutsch gar nicht in Bedrängnis, wie ich es in dem Land, wo ich schon seit 35 Jahren lebe, den Einheimischen täglich antue.

Es gibt zwar Länder, wo man sich gerade durch Schlagfertigkeit und Sprachfarbe die Gunst des Gastlandes sichert, in der Deutschschweiz jedoch ist die Sprachmimikry der Fremden farblos und gebrochen. Hier klingt mein Hochdeutsch invalid, ich verstümmele es freiwillig, um meine Gesprächspartner mit einer wohlgestalteten Sprache nicht zu verärgern, nicht zu überfordern. Der Überlebenstrieb rät mir, mit ihnen gemeinsam über die Schriftsprache einherzustolpern. Ich breche die Sätze in der Mitte ab, begehe Grammatikfehler, wähle einfache Worte, ahme im Akzent die hiesige Schwere nach. Ich tue es intuitiv, es ist mir zur Wesensart geworden. Es ist meine Liebeserklärung an dieses Land. Nur nicht eloquent werden, nur keinen Rausch! Je häßlicher, je hilfloser ich spreche, um so beschützter bin ich und verbrauche so weniger Kraft. Bleibe ich auf diese Art hörbar unvollkommen, werde ich keine Konkurrenz und man läßt mich in Ruhe. Ich eile dann zum Computer und tobe mich im Text aus, veranstalte Sprachorgien, beweise mir, daß ich auf deutsch ganz sein kann. Würde ich mit demselben Entdeckertrieb, mit derselben Sehnsucht nach Geschmeidigkeit arbeiten, wenn ich in Deutschland lebte und meinen Hunger auf der Straße stillen könnte?

In der Deutschschweiz lebe ich wahrlich bedroht und muß auf der Hut sein. Wage ich ein allzu glattes Hochdeutsch, wird dies als Überlegenheitsgebärde dechiffriert und mit Feindseligkeit geahndet. Mehr noch, jeglicher Kontakt wird unmöglich und ich werde ausgestoßen. Meine Freude an der Sprache gilt als Anmaßung. Die Zensur des Durchschnittsmenschen ist unbarmherzig. Wiederholt sich hier meine Prägung aus der Diktatur, in der verbotene Worte Fledermäusen gleich im Dunkeln entlang der kommunistischen Mauern flogen? Brauche ich gar diese quälenden Bedingungen, um überhaupt schreiben zu können? Als heimatliche Ecke und als Kommunikationsmittel bleibt mir nur das Schreiben. Es ist diese komprimierte Einsamkeit, aus der alle meine Texte kommen – geographisch zwar direkt an der deutschen Grenze, doch von einer fernen Insel.

Komme ich nach Deutschland, kehre ich aus der sprachlichen Verbannung ins Mutterland zurück, weile im Zustand der Urwonne. Dabei ist das Deutsche gar nicht meine Muttersprache, sondern eine erst mit 30 Jahren gewählte Schreibsprache. Hänge ich deshalb so sehr an ihr, weil sie mir nicht geschenkt worden ist, sondern ich sie mir selbst erarbeiten mußte? War diese Sprache nicht meine Auferstehung? Bin ich nicht dank ihrer ein Mensch mit einer eigenen Stimme geworden, hat sich nicht mein Menschsein als Erschafferin dann erfüllt? Bei den Lesungen in der Schweiz werde ich regelmäßig mit der persönlichen Beleidigung des Publikums konfrontiert: „Aber Sie schreiben doch besser deutsch als unsereiner! Wie kann das sein?“ Ich antworte darauf geduldig, daß ich seit über zwei Jahrzehnten an dieser Sprache schleife wie ein Tischler an seinen Tischverzierungen, daß das Schreiben ein Handwerk ist und nicht aus der Muttermilch kommt, auch wenn es fließen mag. Bei den Lesungen stottere ich nicht, egal ob eine Slawin beim Publikum erwünscht ist oder nicht. Das ist der soziale Ort meiner Freiheit, der Ort der geschliffenen Ästhetik meiner deutschen Schreibsprache. Eher Goldschmiedin bin ich als Tischlerin. Ich strahle, wenn meine geschriebenen Worte wie Diamantendiademe und Perlenketten leuchten, mögen es auch Worte über die Tragödien der Unterdrückten sein, die ich aneinanderreihe. Aber all die Mühe würde nicht ausreichen, wenn nicht eine besondere Art von Gnade auf mich niederginge. Jeder Text ist ein Wunder, das mir widerfährt, er fügt sich von selbst zu einem Ganzen zusammen, offenbart mir Stilmittel, Gedanken und Bilder, die ich nicht kenne, die ich erst im Schreibprozeß kennenlerne. Schreibe ich, finde ich mich auf dieser Welt zurecht, eben so – indem ich sie mitgestalte.

Komme ich zu den Germanen, bringe ich Holz in den Wald, bringe mein Deutsch nach Deutschland, biete es an. In diesem Dickicht gibt es Holzabnehmer. Bei einer Lesung in Osnabrück in diesem Herbst sagte mir eine Frau im Publikum: „Sie schenken uns unsere eigene Sprache zurück. Wir wußten nicht, daß sie so schön sein kann.“ In Osnabrück wurde ich im schönsten Haus der Stadt untergebracht – die Fassade beschriftet mit goldenen Lettern, die Zimmerdecke abgestützt mit dunklen Holzbalken – im alten Hotel Walhalla, im altgermanischen Himmel, wohin die heiligen Krieger nach ihrem Heldentod hinkommen. Erich Maria Remarque verkehrte hier, bevor er wegen seiner Antikriegsbücher Nazideutschland verlassen mußte. Er hatte geschworen, nie mehr deutschen Boden zu betreten. Er hielt Wort und starb 1970 im Schweizer Exil. Ich hatte als Jugendliche seinen Roman „Im Westen nichts Neues“ in slowakischer Übersetzung gelesen und den Autor verehrt. Nach Walhalla kehrte ich auch für Erich Maria Remarque zurück. Für zwei Tage. Das Schweizer Exil und Walhalla bedingen sich gegenseitig wie Gezeiten.

Irena Brezná (KK)

 

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Hans Fronius

Im Mai 1985 bot sich mir die Gelegenheit, Hans Fronius in Perchtoldsdorf bei Wien zu besuchen. Er führte mich durch seine Ausstellung im Mödlinger Museum. Tag darauf läutete ich am Gartentor in der Guggenberggasse. Sein Sohn wird öffnen, dachte ich, oder sonstwer aus dem Haus. Aber Hans Fronius kam selbst, hochgewachsen und stämmig, vornehm und liebenswert. Nicht ein Greis, nur mit dem Wissen seiner Jahre beladen, nicht müde geworden, nur reif in den 82 Sommern zwischen Sarajewo in Bosnien und Perchtoldsdorf bei Wien, in diesem heute schon unwirklichen Raum der alten Donaumonarchie.

Sein Vater war Stadtphysikus in Sarajewo, und sein Großvater aus dem Hause Pasini war dort leitend im Eisenbahnbau tätig. Bis zu seinem elften Lebensjahr lebte Hans Fronius in Sarajewo, in einer, wie er es bezeichnete, „romantischen Welt“, die ihm bis ins hohe Alter gegenwärtig geblieben ist. Aber das eigentliche Erlebnis war der Schrecken von Sarajewo. „Ich habe am 28. Juni 1914 den Tod des Erzherzogs Ferdinand d’Este unmittelbar erlebt.“ Das Unfaßbare – er wußte es schon seit früher Kindheit –, es kann geschehen. Dem Glanz und der Hoffnung und dem Fortschrittsglauben steht das Unberechenbare gegenüber. Die große, schmerzhafte Korrektur der Träume – sie ist die eigentliche Wirklichkeit. Als Kind zeichnete er immer wieder die „Titanic“: „Mich hat das zutiefst beschäftigt. Das war ein seelischer Zusammenbruch, selbst für mich als Kind. Ich hab dann diesen Untergang hundertmal gezeichnet ... Es war etwas aus – uns wurde bewußt, daß sich diese Welt nicht im Sturmschritt weiterentwickeln konnte. Wir spürten: da gibt es Grenzen.“

Wir saßen uns im Schönen Zimmer auf der Etage gegenüber, am großen Tisch zunächst, am Nachmittag dann auf dem Sofa. Er hielt sich gern in diesem Zimmer auf, fühlte sich hier gut aufgehoben. Vier große alte Holzplastiken drängen sich dem Blick auf, aber man merkt bald, daß überall und wohlgeordnet Kostbarkeiten aus der halben Welt zu sehen sind. Manches Stück im Schönen Zimmer weist auf Siebenbürgen hin, woher die Familie Fronius stammt, und wo der Name noch immer einen guten Klang hat. Matthias Fronius, Ratsgeschworener in Kronstadt, verfaßte 1583 das Eigenlandrecht der Siebenbürger Sachsen, Magister Markus Fronius reformierte ein Jahrhundert später die siebenbürgisch-sächsischen Schulen, Franz Friedrich Fronius, des Künstlers Großvater, war Pfarrer in der siebenbürgischen Kleinstadt Agnetheln und zugleich Mitglied der Botanischen Gesellschaft in Berlin. Siebenbürgen war für Hans Fronius eine versunkene Welt, aber das Erbe empfand er als lebendig und wirksam.

Seine Welt hingegen war schon immer die ganze Welt. „Maßgebend für mich war vonAnfang an Goya“, gestand er. „Schon als achtjähriger Bub hab ich die ‚Erschießung’ als Reproduktion gesehen, und von dem Tag an war ich ihm verfallen. Ich habe sein Werk immer geliebt und schätze es über alles. Als junger Mensch war ich sicherlich auch abhängig von Kubin, aber heute ziehe ich den großen Belgier James Ensor ihm vor.“

Schützen Religion und Glauben vor Verzweiflung? Immer wieder gestaltete Fronius auch biblische Motive, nicht jedoch als entzückte Verheißung, viel eher in ihrer Vermenschli- chung. „Hiob und Toledo“ heißt eines seiner großen Gemälde, das in Mödling zu sehen war. Mehrmals gestaltete er das Thema vom verlorenen Sohn, von David und Bathseba. Es sind expressive Werke des Suchens und Erkennens; erlebtes Schicksal. „Bei der Auswahl von religiösen Themen“, so Hans Fronius, „muß der heutige Künstler sehr vorsichtig sein. Nur dort, wo er sich ganz zu identifizieren vermag, sollte er den Versuch wagen, einzusteigen. Mit der Religion ist es so, daß man sich ihr nähert und – das ist wie Ebbe und Flut – sich von ihr leider auch entfernt. Ich steh’ dem Christentum positiv gegenüber, weil ich es auch von der Ratio her am besten begreife. Das Christentum hat etwas eingebaut, was einfach nicht zu übersehen ist: das Leid der Welt, und wie das Leid wieder aufgehoben werden kann.“

Aber er kannte auch die Schönheit der Welt und suchte sie. Wissen, Bildung und Welterfahrung waren auch für den Achtziger Fronius nichts Abgeschlossenes. Er, der Maler der stillen Fürstenfelder Auen, entdeckte noch in hohem Alter die Faszination der großen Städte: „Sie haben einen Atem und eine Atmosphäre – da bin ich immer wieder wie erschlagen und doch neu beglückt, obwohl es fast unbegreiflich ist.“ Er wich der Welt nicht aus und wies sie nicht ab. Er beanspruchte im Alter keine Schonung. Er sah die Welt aus allen Wunden bluten, aber er zweifelte nie daran, daß wir uns an ihr auch wieder aufrichten können. Eine Voraussetzung dafür mag die menschliche Bescheidenheit sein, die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, der Mut zum Maß aller Dinge.

Ein hochdekorierter Meister war er, aber er war keineswegs in die Bedeutung hineingeboren. Dreißig Jahre lang, von 1931 bis 1961, war Hans Fronius Kunsterzieher im abseitigen Fürstenfeld. „In dieser Zeit war ich nur eine Art Sonntagsmaler“, berichtete er ohne Bitterkeit. Erst 1960 kam die Familie nach Perchtoldsdorf, zog ins Elternhaus von Frau Fronius ein – eine Kunsthistorikerin übrigens und an der Erarbeitung des Gesamtverzeichnisses des grafischen Werkes von Fronius aktiv beteiligt.

Wir gingen ins Atelier, das mir seltsam nüchtern vorkam und nicht hell genug. Im Stehen schlug er Mappen auf, legte Blätter vor, forderte mich auf, mir etwas auszuwählen. Saß mir dann im Garten gegenüber, räumte Bücher auf den Tisch, empfahl mir den Roman „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow, für den er 67 Illustrationen gezeichnet hatte, herrliche ganzseitige Bilder, bewegt, Witz und Tragik in der Hinterhand, sprühende Phantasie und klirrende Wahrheit. Wir kamen auf Rolf Schuller zu sprechen, der bemüht war, auch beim Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim ein Fronius-Archiv aufzubauen und durch Ausstellungen das künstlerische Gesamtwerk in Deutschland mehr bekannt zu machen. Fronius bedauerte den frühen Tod des Freundes.

Das mangelhafte deutsche Interesse nahm er gelassen hin, wenngleich es ihm keineswegs gleichgültig war. Aber er war keiner von denen, die alles durchleuchten und sich selbst erklären wollen. „Ich bin da ein Feind der Psychoanalyse. Ich hab’ es überhaupt nicht gern, wenn man die Dinge zu arg zerfasert – geschweige denn das eigene Innenleben. Nach meinen Quellen und tieferen Ressourcen frage ich nicht; ich würde sofort in meiner Produktion gestört sein.

Seine Welt war ein Zwischenraum von Geschichte, Innerlichkeit und mystischem Realismus. Sie lag zwischen Rom und Byzanz, eingebettet ins Christentum vieler europäischer Völker, erfahrbar in der greifbaren und in der unbenennbaren Kultur der Jahrtausende. Ein Glaubender und ein Zweifler war er, einer, der wußte, wie zerbrechlich die Herrlichkeit der Welt ist, und sich nicht weigerte, mit der Vergänglichkeit zu leben.

Franz Heinz (KK)

KK1181 Seite 22
In der KK 1179 vom 10. Januar 2004 ist der Beitrag „Der Mut zum Maß aller Dinge. Erinnerung an den österreichischen Künstler Hans Fronius“ von Franz Heinz erschienen. Ergänzend teilt uns Christin Fronius, die Witwe des Künstlers, bei der alle Reproduktionsrechte liegen, mit: „In der Zeit von 1943 bis 1988 erschienen 115 Mappenwerke und Bücher und davon mehr als die Hälfte in deutschen Verlagen. Auch nach dem Tod sind sieben in deutschen Verlagen erschienen.“
(KK)

 

Seite 22
Rumäniendeutsches Schicksal
Das Deutsche Staatstheater Temeswar gastierte mit einem Stück von Hans Kehrer in Deutschland

Das fünfzigjährige Jubiläum des Deutschen Staatstheaters Temeswar sollte auch in Deutschland gefeiert werden, so kam es zu einem Gastspiel am 2. November, das ursprünglich einzig in Berlin geplant war. Ermöglicht wurde es von mehreren Sponsoren, darunter dem Deutsch-Rumänische Forum e. V. Berlin, der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bukarest, der Botschaft von Rumänien in Berlin. Daraus wurde schließlich eine Tournee, fortgesetzt über Hamburg und Köln, sodann in Ulm, wo der Autor Hans Kehrer dabei war.

Sein Mundartstück, „Zwei Schwestern“, eine schwäbische Passion, wird meisterhaft von den – auch im wirklichen Leben – beiden Schwestern Ildikó Jarcsek-Zamfirescu und Ida Jarcsek-Gaza dargestellt. Die frühere und die jetzige Intendantin werben damit auch für den Erhalt des Temeswarer Theaters, das nunmehr auf Wanderschaft gehen, seinem Publikum nachreisen muß.

Die Vorstellung selber ist ein Stück Banater Geschichte – alles, was den Rumäniendeutschen im Banat widerfahren ist, hat auch diese beiden Schwestern getroffen. Ihre Männer sterben im Krieg, der eine in Stalingrad, der andere wurde bei der Heimkehr an der rumänischen Grenze erschossen. Sie selbst wurden nach Rußland und in den Baragan deportiert. „Schlimmer geht’s nicht“, sagt Ildikó Jarcsek-Zamfirescu. Die Zuschauer, auch in Deutschland, sind meistens Rumäniendeutsche, die ähnliches erfahren haben.

Und so belehrend das Stück auch manchmal wirkt, wie es privates Leid mit dem geschichtlichen verquickt, die Eifersucht zwischen den Schwestern, aber auch ihre gegenseitige Abhängigkeit und ihre gleichsam fatalistische Verwurzelung in der Tradition, so kalt rieselt es einem über den Rücken, wenn die Resi ihre Schwester anfaucht: „Kannscht tei trei Joch bei der Weltgeschichte reklamiere.“ Die eine geht mit den Kindern, weil sie „Kinner un Engelskinner“ hat, in die Stadt, oder gleich „uff Teitschland“, die andere bleibt im Dorf in ihrem Haus, weil sie nur noch dieses hat.

So zeigt der Lebensweg dieser beiden Schwestern, ein Stück, das immerhin schon 1980 in Rumänien uraufgeführt wurde, wie es tatsächlich mit den Banater Schwaben, aber auch mit den Rumäniendeutschen insgesamt kommen sollte. Nach der Ausreise des Autors nach Deutschland wurde das Stück allerdings verboten. Hans Kehrer, der als Stefan Heinz 1913 in Kleinsanktpeter im Banat geboren wurde, lebt heute in Süddeutschland. Er schrieb zahlreiche Stücke, darunter „Meister Jakob und seine Kinder“ (nach Adam Müller Guttenbrunn), arbeitete aber auch als Schauspieler und Dramatiker und wurde vor allem durch seine Mundartgestalt Vetter Matz vun Hopsenitz bekannt.

Bei der ausverkauften Vorstellung in Berlin waren erstaunlich viele junge Leute dabei – so ein Publikum kann man dem Stück auch weiterhin nur wünschen und vielleicht auch einen Sponsor, der den beiden Schwestern zuliebe einen neuen Bus spendet.

Edith Ottschofski (KK)