Wer trägt Kant nach Kaliningrad?

Wladimir Gilmanow auf der Suche nach Lösungen für die russische Identitätskrise in Königsberg / Kaliningrad

Großen Zuspruch fand eine vom Freundeskreis für europäische Jugendarbeit (FeJ) e.V. in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik – Sektion Ortenau – durchgeführte Vortragsveranstaltung mit dem Thema: „Blickpunkt Europa – Das Königsberger Gebiet/Oblast Kaliningrad gestern, heute und morgen".

Lew N. Tolstoi beschreibt in seinem Roman „Krieg und Frieden“ die Haltung der russischen Intellektuellen im 18. Jahrhundert. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Gespräche zwischen Fürst Bolkonski und Pierre Besuchow. Hundert Jahre später wurde der Weg der russischen Intellektuellen gewaltsam beendet, und es begann die brutale Unterdrückung der Denker. Erst mit Gorbatschows Perestroika ist eine neue Generation von Philosophen entstanden.

Wenn man Professor Wladimir Gilmanow von der Staatsuniversität Kaliningrad, 1955 in Königsberg geboren, sprechen hört, sieht man sich daran gemahnt: Hier ist sie wieder, die von Tolstoi mit großer Liebe gestaltete Figur des Grafen Besuchow – in tiefer Besorgnis um die Entwicklung seines Heimatlandes, kämpfend um die moralischen und ethischen Werte und auf der Suche nach Lösungen für die tiefe Identitätskrise, die in Rußland entstanden und vor allem im verlassenen Kailiningrad zu spüren ist. Er lehrt Philosophie, Deutsch und russische Kulturgeschichte und befaßt sich speziell mit den kulturhistorischen Traditionen von Königsberg und Ostpreußen. Er ist gegenwärtig einer der ganz wenigen russischen Wissenschaftler, denen sich durch die Beherrschung der deutschen Sprache ein Vergleich zwischen der deutschen und der russischen Kultur und Philosophie so weitgehend erschließt. Gilmanow leitet auch die Sektion Königsberg der Goethegesellschaft, deren Hauptsitz Weimar ist.

Er skizzierte aus seinem persönlichen Leben das enorme Spannungsfeld zwischen Geschichtsträchtigkeit und Geschichtslosigkeit in dem durch einen Federstrich Stalins abgetrennten und dem Sowjetreich einverleibten nördlichen Ostpreußen. Trotz weitgehender Neubesiedlung, so der Referent, bleibt dieses Gebiet gefangen in seiner verdrängten und tabuisierten Vergangenheit: der deutsche Name Königsberg, als Symbol für den Geist des Philosophen Immanuel Kant, des Schriftstellers E.T.A. Hoffmann und der Künstlerin Käthe Kollwitz, der weit über Ostpreußen hinausstrahlte, wurde mit der völkerrechtswidrigen Vertreibung der Bevölkerung und der in ideologischer Verblendung betriebenen Zerstörung historisch wertvoller Bauwerke ausgelöscht. Geblieben ist eine offene Wunde zwischen Deutschen und Russen. So wurde das Königsberger Schloß, das auch die alliierten Weltkriegs-Bombardements überstanden hatte, auf persönliche Anordnung von Leonid Breshnew gesprengt. Das an seiner Stelle erbaute ungeheuerliche und nie in Betrieb gesetzte neue „Haus der Räte", von der Bevölkerung als „Haus des Teufels" tituliert, wurde letztlich an eine dubiose panamesische (Geldwäsche-) Gesellschaft veräußert und dient lediglich in der wärmeren Jahreszeit als Notunterkunft Gestrandeter. An diesem Beispiel verdeutlichte er die groteske Situation des fehlenden Dialogs zwischen Land und Leuten, der heutzutage notwendiger wäre denn je.

Mit der Neuordnung der europäischen Staatenwelt, so Gilmanow, wurde das Königsberger Gebiet, eingegrenzt durch Polen und die baltischen Staaten, zur russischen Exklave, die durch die beschlossene EU-Osterweiterung nun zum Nicht-EU-Ausland wird. Dadurch verschärfe sich besonders die wirtschaftliche Situation der Grenzregionen, die heutzutage vorwiegend von der Schattenwirtschaft und vom Schmuggel leben. Ernüchternd auch sein Zahlenwerk zur Metropole Königsberg/Kaliningrad: offiziell 50 Prozent Arbeitslosigkeit bei stark zurückgehenden Export- und Investitionszahlen. So verbergen auch die europäisch wirkenden Geschäfts- und Bankenfassaden nur das wahre Ausmaß des wirtschaftlich-sozialen Niedergangs.

Postsowjetische Mafia, Korruption, Armut, Drogenprobleme, steigende Aids- und TBC-Erkrankungen, Prostitution, Straßenkinder, Kriminalität und Umweltzerstörung haben auch zu der weit über dem Durchschnitt der russischen Föderation liegenden Selbstmordrate geführt, die in erschreckender Weise einen hohen Anteil Jugendlicher aufweist.

Mit Rußland hat die frühere ostpreußische Hauptstadt nichts gemein – es fehlt die gemeinsame Grenze, die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Wurzel. Im jetzigen Zustand hat die Enklave mit rund einer Million Einwohnern keine Zukunft. Wie kann aber eine Zukunft des Heimathafens der Baltischen Flotte der ehemaligen Sowjetunion aussehen? Diese Frage, so der Wissenschaftler in seiner Schlußbetrachtung, in welcher er auch für das unbegrenzte Heimatrecht für Vertriebene und deren Nachkommen plädierte, müsse mit der praktischen Vernunft Immanuel Kants angegangen werden. Obwohl die Hoffnungen und Ansätze vom Beginn der neunziger Jahre heute weitgehend enttäuscht und verflogen seien, will er diesem Prinzip noch eine Chance geben, damit dieses für Rußland auch militärisch bedeutsame Gebiet an der Ostsee wieder zu einem Baustein europäischer Friedensarchitektur in dem zu erwartenden EU-Integrationsprozeß wird. Um dabei voranzukommen, so der Standpunkt von Wladimir Gilmanow, sei vor allem eine geistig-moralische Erneuerung in den Beziehungen zwischen den Menschen und den Völkern unabdingbar notwendig.


Erich Lienhart l Aino Siebert
KK 1167 Seite 9 2003-05-10