Man verliert, was man verloren gibt

„Rückgabe“ ostdeutscher Kirchenbücher aus dem Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg an polnische Bistumsarchive

Am 17. September 2001 haben der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, und der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Kardinal Glemp, in Warschau einen Vertrag unterzeichnet, aufgrund dessen 3361 Kirchenbücher, die sich seit 1978 im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg befanden, an polnische Bistumsarchive „zurückgegeben“ worden sollten. 1575 Bände stammen aus der Diözese Kulm (in den Grenzen ihrer Zirkumskription im Jahre 1925), 604 aus der Diözese Ermland, 320 aus der Diözese Danzig (in den Grenzen der Zirkumskription von 1925),17 aus der Stadt Stettin (Diözese Berlin), die übrigen aus den Diözesen Gnesen, Wloclawek und Plock. Die Auslieferung ist am 17. Juni 2002 erfolgt.

Die Absicht, einen Vertrag dieses Inhalts abzuschließen, hat die Deutsche Bischofskonferenz der Öffentlichkeit erst wenige Tage vor der Unterzeichnung mitgeteilt. In Leserbriefen an örtliche und überörtliche Zeitungen, in genealogischen Fachzeitschriften, vor allem in der Vertriebenenpresse setzte nun eine lebhafte Diskussion über den Vertrag ein. Der Verein „Herold“ zu Berlin hat am 23. März 2002 ein Streitgespräch zwischen Kirchenvertretern, Archivaren und Genealogen veranstaltet, bei dem die verschiedenen Standpunkte verdeutlicht werden konnten. Für die katholische Amtskirche nahm Monsignore Dr. Paul Mai teil, der als Leiter des Bischöflichen Zentralarchivs Regensburg in die Vorbereitung des Vertrags einbezogen worden war  – offensichtlich als einziger der 25 Leiter von deutschen Diözesanarchiven. Leider war zu der Diskussion am 23. März trotz Einladung kein Vertreter des Vorstandes der Fachvereinigung der archivarischen Zunft, des „Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare“, erschienen (wie überhaupt das – aus welchen Gründen auch immer – an den Tag gelegte Desinteresse dieses Verbandes beschämend war). In der „Kulturpolitische Korrespondenz“ war – von dem Nachdruck eines anderswo veröffentlichten Artikels im Heft vom 10. März 2002 abgesehen – bisher über den Vertrag vom 17. September 2002 und dessen Folgen noch nichts zu lesen, obwohl er das Selbstverständnis der deutschen Kultur, die ostdeutsche Kulturarbeit und den zukünftigen Verbleib wertvollster ostdeutscher Kulturgüter grundsätzlich und engstens berührt. Es soll deshalb an dieser Stelle, mehr als ein halbes Jahr nach Übergabe der Kirchenbücher an polnische Archive, etwas ausführlicher auf den Vertrag und seine Hintergründe eingegangen werden.

Eines der von katholischen Stellen, die vorgeschickt wurden, um der teilweise heftigen Kritik an dem Vertrag entgegenzutreten, vorgebrachte Argumente war die Feststellung, daß hinsichtlich der Umstände, wie diese Kirchenbücher von ihrem Entstehungsort entfernt worden seien, und der Herkunftsorte weitgehend falsche Vorstellungen herrschten. Tatsächlich sind diese Kirchenbücher nicht etwa bei Flucht und Vertreibung von Geistlichen oder Gemeindeangehörigen mitgenommen worden, sondern sind in der Mehrzahl aufgrund von Beschlagnahmung von seiten der Gausippenämter Posen und Danzig/Westpreußen aus den Pfarreien entfernt worden, tatsächlich auch stammen die meisten der Kirchenbücher aus Pfarreien, die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 und der Grenzen der Freien Stadt Danzig liegen. Fällt aber der Vorwurf, der in dem Hinweis auf teilweise irrige Vorstellungen liegt, nicht überwiegend auf die deutschen Bischöfe selbst zurück, die die Öffentlichkeit durch den in aller Heimlichkeit vorbereiteten Vertrag überrascht haben? Hätte nicht ein ehrliches, rechtzeitiges Bekanntmachen der Absicht eine Diskussion ermöglicht, die alle, denen das Schicksal der Kirchenbücher am Herzen liegen mußte (besonders die ostdeutschen Landsmannschaften, Genealogen und Archivare), hätte einbeziehen, auf die Formulierung des Vertrages hätte Einfluß nehmen und falsche Vorstellungen hätte berichtigen können? Eine solche Diskussion haben die deutschen Bischöfe mit Absicht unterbunden. Es ist unredlich, sich in der Argumentation auf einen Zustand zu berufen, den man selbst bewußt herbeigeführt hat.

Was wird nun in den kirchlichen Verlautbarungen als Grund für die Heimlichkeit bis zur allerletzten Minute angegeben? Eine Heimlichkeit, die selbst die engsten Mitarbeiter der Ortsbischöfe ausschloß – wie die Reaktion des Limburger Weihbischofs Pieschl bewiesen hat – und auch die berufenen Mitarbeiter der Bischöfe im Bereich der Schriftgutverwaltung, die Leiter der Diözesanarchive, in die für sie peinliche Situation brachte, von dritter Seite Über den Vertragsabschluß unterrichtet zu werden (wie z. B. die Reaktion der bayerischen Bistumsarchivare zeigte). Die Behauptung, die Furcht, der polnische Staat werde die „rückgeführten“ Kirchenbücher in staatliche Archive Polens ziehen, habe zur Verheimlichung der diesbezüglichen Kontakte zwischen den deutschen und den polnischen Bischöfen gezwungen, kann entgegen den Verlautbarungen für die Zeit nach der politischen „Wende“ in Polen kaum als überzeugender Grund vorgebracht werden. Was hätte die eventuellen Absichten des polnischen Staates besser erkunden lassen als eine offene Diskussion unter Einbeziehung auch der deutschen Öffentlichkeit? So bleibt nur der Schluß, daß weniger die Furcht vor den Vertretern des kommunistischen bzw. postkommunistischen polnischen Staates die deutschen Bischöfe zu heimlichem Tun veranlaßt habe als die Furcht vor der Reaktion aus den Reihen des eigenen Volkes, das man folglich auch erst informierte, als der Vertrag unterschriftsreif vorlag.

Den Kern der Argumentation der Bischöfe stellt der Verweis auf das Kirchenrecht, den Codex luris Canonici (CIC), dar, wonach die Pfarreien Ostdeutschlands trotz Vertreibung des Klerus und der Pfarrangehörigen nie aufgehört hätten zu bestehen und deshalb berechtigten Anspruch auf die Kirchenbücher als Pfarreigentum erheben könnten. Dies sei der grundlegende Unterschied zum Gemeindeverständnis des protestantischen Kirchenrechts. Es wird auf Canon 515 des CIC von 1983 verwiesen. Canon 515 § 1 geht aber – gar nicht so sehr anders als das protestantische Kirchenrecht – bei der Definition dessen, was eine Pfarrei sei, in erster Linie von den Gläubigen aus und nicht vom Boden, auf den eine Pfarrei angeblich ewig und unveränderlich radiziert ist: „Paroecia est certa communitas christifidelium [eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen] in Ecclesia particulari stabilita constituta.“ Daß Pfarreien, wenn sie errichtet werden, sich einer Rechtspersönlichkeit erfreuen (Canon 515 § 3) und somit grundsätzlich auf Dauer angelegt sind, ist eine Binsenweisheit, und darin unterscheidet sich das kanonische Recht in keiner Weise vom weltlichen Stiftungsrecht. Es ist aber keineswegs so, daß einmal errichtete Pfarreien ewig wären und nicht aufgehoben oder durch höhere Gewalt untergehen könnten. „Paroecias ... supprimere ... unius est Episcopi dioecesani, qui paroecias ne erigat aut supprimat ... nisi audito consilio presbyterali“ (Canon 515 § 2).

Im Falle der deutschen Ostgebiete sind die Pfarreien freilich nicht aufgehoben worden. Wer hätte sie auch aufheben können, da die rechtmäßigen Ordinarien 1945 doch allesamt von Kardinal Hlond, dem polnischen Primas, zur Resignation gezwungen worden waren und ein „Priesterrat“ (consilium presbyterale) infolge der Vertreibung der Priester gar nicht mehr vorhanden war? Die deutschen Bischöfe wissen aber sehr wohl, daß Pfarreien untergehen können, und im Falle des nördlichen Ostpreußen gehen sie in völligem Widerspruch zu ihrer sonstigen Begründung ja auch davon aus. Sollte einmal im nördlichen Ostpreußen wieder ein katholisches Pfarrnetz entstehen, würde es sich um Neuerrichtungen und nicht um Fortsetzung handeln. Kein Kirchenrechtler wird behaupten wollen, daß orientalische oder kleinasiatische Bistümer und Pfarreien, die etwa im 7. Jahrhundert im Arabersturm oder im Hochmittelalter im Türkensturm untergegangen sind, noch heute Rechtspersönlichkeit besäßen und eigentumsfähig seien. Bei der Neuerrichtung des Bistums- und Pfarreinetzes in Nord- und Mitteldeutschland im 19. und 20. Jahrhundert hat die katholische Kirche nicht an die Bistümer und Pfarreien, die während der Reformation in „häretische“ Hände gekommen waren, angeknüpft, sondern Neugründungen vorgenommen. Daß es anfechtbar ist, wenn sich die deutschen Bischöfe in ihrer Argumentation stets auf CIC 1983 berufen, da doch wegen des Zeitpunkts der Verlagerung der Kirchenbücher CIC 1917 herangezogen werden müßte, sei hier, ohne daß näher darauf eingegangen werden soll, immerhin angemerkt. Im übrigen ist grundsätzlich die Berechtigung einer Berufung auf bestimmte, scheinbar passende Canones des CIC in Zweifel zu ziehen, sieht das kirchliche Recht doch auch die Entvölkerung ganzer Länder durch Vertreibung ihrer Bevölkerung nicht vor und geht der CIC an keiner Stelle von einem solchen Zustand aus. In bezug auf die Rolle des Klerus, des ausgewiesenen und des verdrängenden, sei auf Canon 1381 verwiesen: „Quicumque officium ecclesiasticum usurpat, iusta poena puniatur.“ (Im CIC 1917, der zum Zeitpunkt des Geschehens galt, siehe zu diesem Sachverhalt Canon 2394.)

Wenn aber nun einmal auf der Grundlage des kirchlichen Rechts argumentiert werden soll, warum dann so einseitig? Gemäß dem evangelischen Kirchenrecht ist das Eigentum an den ostdeutschen evangelischen Kirchenbüchern infolge der durch die Vertreibung bewirkten Auflösung der Gemeinden an die nach wie vor bestehende Evangelische Kirche der (Altpreußischen) Union übergegangen. Daß man evangelischerseits an dieser Auffassung festhalte, hat der Leiter des Evangelischen Zentralarchivs, des Archivs der Evangelischen Kirche der Union, in Berlin sowohl in der Diskussion vom 23. März als auch in Druckbeiträgen mehrfach unterstrichen. Bei Anwendung kirchenrechtlicher Grundsätze müssen die heute bei polnischen katholischen Pfarreien befindlichen evangelischen Kirchenbücher aus der Zeit vor 1945 an die Evangelische Kirche der Union abgegeben werden. Warum haben die deutschen Bischöfe nicht in ökumenischer Verbundenheit versucht, in den Vertrag mit den polnischen Bischöfen die Bedingung einzubringen, daß die polnische Kirche im Gegenzug gemäß evangelischem Kirchenrecht die ostdeutschen evangelischen Kirchenbücher abgeben werde? In der Diskussion vom 23. März stellte selbst Monsignore Dr. Mai die Frage, ob die polnische Kirche nun so konsequent sei, Archivgut aus Gemeinden östlich der Curzon-Linie nach Litauen, Weißrußland und in die Ukraine abzugeben. Daß solches tatsächlich geschehe, scheint er allerdings selbst nicht zu glauben. Die Frage, weshalb er seine Hand zu einem Vertrag mit einem Partner gereicht habe, dem er selbst Doppelzüngigkeit und ein gespaltenes Rechtsverständnis unterstellt, muß er sich dann allerdings gefallen lassen.

Die Bischöfe bzw. die Amtsträger der unteren Ebenen bewegten sich bei ihren Versuchen, das Vorgehen zu rechtfertigen, von Widerspruch zu Widerspruch, immer hoffend, es werde niemand wagen, den Finger auf die vielfachen Brüche der Argumentation zu legen. Wenn deutsche Einrichtungen der katholischen Kirche kein Recht auf die Verwahrung, geschweige denn ein Eigentumsrecht an den Kirchenbüchern haben, weshalb gaben die deutschen Bischöfe dieses Archivgut nicht bedingungslos nach Polen, weshalb schlossen sie statt dessen einen Vertrag, in dem dem neuen Verwahrer bis in manche Einzelheit hinein vorgeschrieben wird, wie er die Kirchenbücher zu verwahren und zu verwalten hat? Wenn die angeblich trotz der Vertreibung der Parochianen stets existent gebliebenen Pfarreien Eigentümer der Kirchenbücher sind, weshalb wird in dem Vertrag dann die Übergabe an diese Pfarreien ausdrücklich und für alle Zeiten ausgeschlossen und wurden die Bücher an die Diözesen und deren Archive übergeben? In dem Vertrag findet sich als Begründung für diesen Verstoß gegen die eigene „rechtliche“ Argumentation die Formulierung“ wegen des historischen Charakters der Kirchenbücher“. Wissen die Bischöfe nicht, daß sich im Bereich der Bundesrepublik Deutschland seit dem 16. Jahrhundert Tausende von katholischen Kirchenbüchern, denen der historische Charakter nicht abgesprochen werden kann, bei den Pfarreien in deren Archiven befinden?

Ein zumindest zweideutiges Handeln ist den Bischöfen auch in bezug auf die Behauptung vorzuwerfen, die Verwahrung der Kirchenbücher durch das Bischöfliche Zentralarchiv Regensburg sei „treuhänderisch“ gewesen. Hätte dann nicht, nachdem die Kirchenbücher 1978 in das Regensburger Archiv gelangt sind, innerhalb dieses Archivs selbst das Bewußtsein, nur treuhänderisch zu handeln, bestehen und in den schriftlichen und sonstigen Äußerungen der Verantwortlichen gegenüber Dritten zum Ausdruck kommen müssen? In den gedruckten Veröffentlichungen und sonstigen Verlautbarungen, die von verantwortlichen und sachkundigen Vertretern der deutschen katholischen Kirche, insbesondere der Diözese Regensburg, stammen, ist niemals auch nur mit einem Wort angedeutet worden, es könne sich bei der Verwahrung der in Rede stehenden Kirchenbücher um eine „treuhänderische“ handeln. Auch die Internet-Vorstellung des Bischöflichen Zentralarchivs Regensburg hält es zwar für notwendig, etwa auf den Miteigentumsanspruch des bayerischen Staates an dem Archiv-Bestand „Altes Domkapitelsarchiv Regensburg“ hinzuweisen, sie verwandte auf den angeblich treuhänderischen Charakter der Verwahrung der Kirchenbücher jedoch nicht ein Wort! Bis mindestens Ende März 2002 – also noch zwei Monate vor der Auslieferung der Bücher -konnte man auf der Netzseite des Bischöflichen Zentralarchivs Regensburg unter der Rubrik“ Wichtige Bestände“ folgendes lesen: „Nicht viel weniger gefragt sind bei den Genealogen die 3469 Bände katholischer Kirchenbücher aus ehemals zum Deutschen Reich gehörenden Ostgebieten, insbesondere aus Ost- und Westpreußen (die Bistümer: Allenstein, Danzig, Elbing, Gnesen, Pelplin, Thorn), sowie aus einzelnen deutschen Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.“ Entweder ist die Behauptung, es handele sich um treuhänderische Verwahrung, ex post aufgestellt worden, oder man hat vorher mit der Öffentlichkeit, insbesondere mit den heimatvertriebenen Katholiken, ein unehrliches Spiel gespielt.

Folge 2 (2003-03-10)

Um allen Schwierigkeiten zu begegnen, die ihnen die Ausfuhr deutschen Kulturguts erschwerende gesetzliche Regelungen u. U. in den Weg legen würden, auch um angesichts der von staatlich polnischer Seite bereits präsentierten Forderungen auf riesige Mengen in deutschen Staatsarchiven verwahrten ostdeutschen Archivguts keinen Vorgangsfall zu schaffen, verfielen die Bischöfe auf den „Königsweg“, die Kirchenbücher als „Kirchengut“ zu definieren, das deshalb nicht Kulturgut sei (Artikel 1 des Vertrags). Natürlich stehen die beiden Begriffe, wie jeder Einsichtige weiß, nicht im Gegensatz zueinander.

Das wissen auch die Bischöfe, aber sie haben sich nun einmal auf diese Argumentation versteift, die allerdings auch durch ständige Wiederholung nicht wahrer wird. In deutschen Bistumsarchiven liegen Tausende von Kirchenbüchern, die im Zuge der Mikroverfilmung, welche der Bund teils selbst, teils durch die Länder auf alleinige Kosten des Bundes durchführen läßt, im Laufe der letzten Jahrzehnte erfaßt worden sind. Diese Verfilmung erfolgt nach den Grundsätzen zur Durchführung der Sicherheitsverfilmung von Archivalien (Bekanntmachung des Bundesministeriums des Inneren vom 13. Mai 1987), worin es heißt: „Bei der Sicherheitsverfilmung von Archivalien handelt es sich um eine von verschiedenen Maßnahmen im Aufgabenbereich des Schutzes von Kulturgut.“
Hätten die Bischöfe den Vertrag mit der Polnischen Bischofskonferenz nicht im völligen Alleingang unter Ausschluß ihrer engsten Mitarbeiter vorbereitet und etwa ihre für Schriftgutverwaltung zuständigen Mitarbeiter, die Leiter der Bistumsarchive, befragt, dann hätten diese sie auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der darin liegt, öffentliche Mittel für die Verfilmung von Kirchenbüchern zu fordern, weil sie im Sinne der Bekanntmachung „den Ablauf der Geschichte unseres Volkes“ dokumentierendes Kulturgut seien, und gleichzeitig zu behaupten, Kirchenbücher seien kein Kulturgut. Wollen die Bistümer nun Hunderttausende von Mark als erschlichen zurückzahlen?

Die Behauptung, bei den Kirchenbüchern handele es sich ausschließlich um Kirchengut, ist – ganz abgesehen von der abzulehnenden Verwerfung ihres Kulturgutcharakters – einseitig und geschichtsblind. Kirchenbücher sind Erzeugnisse des Verwaltungshandelns nicht einer autonomen Kirche, sondern kirchlicher Stellen im – sich natürlich christlich verstehenden – Staat. Der absolutistische Staat, auch der katholisch geprägte und von einem katholischen Monarchen geleitete, hätte niemals eine Autonomie kirchlichen Handelns geduldet. Die Kirchenbuchführung stellte also nicht bloß die Buchung geistlicher Amtshandlungen dar, sie war ebenso ein Teil der landesherrlichen, staatlichen Polizeiverwaltung. Insofern bedeutete die genaue Regelung der Kirchenbuchführung durch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (Zweiter Teil, elfter Titel, §§ 401-503), insbesondere die Vorschrift, daß die Küster bzw. die Pfarrer, evangelische wie katholische, zur Führung von an die staatlichen Gerichte abzufiefernden Kirchenbuch-Zweitschriften verpflichtet seien (§§ 501-503), keine Neuerung, sondern lag in der Konsequenz des bisherigen Verständnisses. Erst die ab 1874, nach der Einführung ziviler Standesämter, geführten Kirchenbücher, die keinerlei Beweiskraft für den staatlichen Bereich mehr haben, könnten als ausschließlich kirchliches Schriftgut betrachtet werden. Daß die Einführung ziviler Standesämter 25 Jahre nach dem Übergang Preußens vom Absolutismus zum Verfassungsstaat eine verspätete Folge dieses Übergangs war, liegt auf der Hand (vgl. Art. 19 der preußischen Verfassung von 1850).

In der Argumentation der Bischöfe wird nun allerdings so getan, als gäbe es ein neben dem staatlichen Recht oder gar oberhalb desselben geltendes kanonisches Recht, und zwar auch für Angelegenheiten und Vorgänge, die nicht ausschließlich seelsorgerliche Handlungen betreffen, z. B. für Fragen des Vermögensrechtes, also auch für das Eigentum auf deutschem Gebiet wirkender kirchlicher Stiftungen. In Wirklichkeit enthält der CIC zahlreiche Bestimmungen, die, weil sie dem deutschen Recht widersprechen, von diesem nicht rezipiert sind und nicht rezipiert werden können, etwa Canon 868, wonach Kinder von katholischen und nicht katholischen Eltern im Falle der Todesgefahr auch gegen den Willen der Eltern getauft werden müssen (was dem in unserer Rechtsordnung gewährleisteten Eiternrecht und Artikel 135 der Weimarer Reichsverfassung widerspricht), aber auch Canon 1273, wonach der Papst „omnium bonorum ecclesiasticorum supremus administrator et dispensator“ sei. Da die katholische Kirche in Deutschland aufgrund staatlichen Rechtes den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft genießt und mit unzähligen Fäden zu ihrem materiellen und immateriellen Vorteil mit der staatlichen Verwaltung zusammenhängt, ihre obersten Diener auch auf die Verfassungsurkunden vereidigt werden, steht es ihr nicht wohl an, sich in Fragen, die durch das staatliche Recht geregelt sind, etwa in Fragen des Vermögensrechts, auf ein außerstaatliches Recht, das kanonische, zu berufen. Auch das Grundgesetz (Art. 140 unter Übernahme von Art. 137 WRV) gewährleistet den Kirchen die selbständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Der Kanonist Johannes Neumann schreibt zu Recht: „Denn auch innerkirchliches Handeln wird durch die für alle geltenden Gesetze begrenzt. Bestimmungen des
Grundgesetzes sind ‚unverletzlich‘, d. h. auch der Verweis auf das Verbandsgrundrecht der Religionsfreiheit und auf das Recht der Kirchen, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen, rechtfertigt keine Verletzung der individuellen Grundrechte und entbindet nicht von der Achtung allgemeiner Gesetze“ (Grundriß des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981, S. 273).
Eine für ostdeutsches Kulturgut schlimme Folge steht, wie aus einem im Auftrag von Kardinal Lehmann verfaßten Schreiben eines Mitarbeiters der Deutschen Bischofskonferenz (Bereich Weltkirche und Migration) aus jüngster Zeit deutlich wird, als Folge des Vertrages vom 17. September 2001 zu gewärtigen, obwohl man doch Präzedenzwirkungen ausschließen wollte. Es heißt in dem Schreiben: „Der Vertrag schließt damit Präzedenzwirkungen für alle Kulturgüter ausdrücklich aus, die nicht eindeutig Kirchengut sind und als solches dem Kanonischen Recht unterliegen.“ Hier kündigt sich die Auslieferung weiteren ostdeutschen Kulturgutes an, soweit es Eigentum der – ja noch bestehenden – katholischen Pfarreien und anderer Rechtspersönlichkeiten war (und ist!). Es ist in diesem Zusammenhang an heute westlich von Oder und Neiße befindliche Vasa sacra, an Paramente, an kirchliches Buchgut, auch an die Glocken ostdeutscher katholischer Kirchen (z. B. ermländischer und schlesischer Kirchen), die über den sogenannten Glockenfriedhof in Hamburg in heute bundesdeutsche Kirchen „gewandert“ sind, zu denken. Da die Argumentation der deutschen Bischöfe im Falle der Kirchenbücher so betont die Tatsache der Beschlagnahmung durch den „NS-Staat“, konkret die Gausippenämter, und den Zusammenhang mit der Rassenpolitik hervorhebt, wird es nicht schwerfallen, im Falle der Glocken ebenfalls auf die Tatsache der Beschlagnahmung und auf den Zusammenhang mit der Kriegführung zu verweisen und damit einen für die „Rückgabe“ günstigen emotionalen Untergrund zu schaffen.

Nun ist andererseits nicht zu übersehen, daß ein Großteil der im Juni 2002 abgegebenen Kirchenbücher aus katholischen Pfarreien stammt, die in ethnischer Hinsicht nicht als deutsch bezeichnet werden konnten, und daß der Anspruch von polnischer Seite insofern teilweise berechtigt war. Wie hoch der Anteil der Deutschen in den Pfarreien etwa in den Diözesen Posen und Gnesen gewesen ist, läßt sich derzeit sicherlich nur in bezug auf Einzelfälle sagen. Eine Aufteilung des Kirchenbuchbestandes gleichsam und nur unter „ethnischen“ Gesichtspunkten wäre hinsichtlich dieser Diözesen unmöglich und ist rechtlich auch unvertretbar. Die Vertragspartner hätten sich also kaum an ethnischen, aber sehr wohl an rechtlichen Gegebenheiten orientieren können – und müssen. Zu diesen Gegebenheiten gehörten die zum Zeitpunkt der Verlagerung und noch 1972, als Paul VI. die ostdeutsche Kirchenprovinz von der Landkarte löschte, völkerrechtlich gültige deutsche Ostgrenze, ferner die 1930 errichtete ostdeutsche Kirchenprovinz mit dem Metropolitansitz Breslau sowie die 1925 errichtete, ebenfalls nicht zur polnischen Kirchenorganisation gehörige exemte Diözese Danzig. Die 941 Kirchenbücher aus den Diözesen Ermland und Danzig und aus der Stadt Stettin hätten von den deutschen Bischöfen also niemals abgegeben werden dürfen. Ihre Auslieferung ist demnach unter Mißachtung der berechtigten Interessen des Volkes erfolgt, dem die deutschen Bischöfe selbst angehören.
„Die Messen sind gesungen!“ Diesen Satz mußte man im Herbst 2001 aus dem Munde vieler kirchlicher Mitarbeiter hören, die selbst mit der Entscheidung ihrer Bischöfe nicht einverstanden waren. Nur zu wahr! Die Messen waren in der Tat bereits gesungen. Was bleibt als Fazit? Zum einen die Erkenntnis, daß eine Einrichtung, deren einziger Zweck ein seelsorgerlich-geistlicher ist, welchem Zweck alle Vorgehensweisen als bloße Mittel untergeordnet sein müßten, sobald sie sich angegriffen fühlt oder glaubt, sich rechtfertigen zu müssen, sofort die juristischen Stacheln ausfährt, dabei die rechtlichen Argumente in Hinblick auf einen in Wahrheit anders motivierten Zweck paßgerecht macht, Gesichtspunkte allgemeinmenschlicher Billigkeit und der Abwägung berechtigter Gefühle aber vom Tisch wischt. Zum anderen das schwer abweisbare Gefühl, daß die deutschen katholischen Bischöfe ihrem Ansehen, ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und der Glaubwürdigkeit ihrer Kirche (die offenbar gemäß bischöflichem Verständnis noch immer mit der Amtskirche identisch ist) – und letztlich auch dem deutsch-polnischen Verhältnis – einen Bärendienst erwiesen haben,

Rudolf Benl (KK)
KK 1163 2002-02-20 S. 2
und KK 1164 2002-03-10 S. 2