KK 1142 vom 20. Dezember 2001, Seite 5
Die Wahrheit steht sogar auf Kanaldeckeln
Berliner Tagung über Vertreibung und Deportation
Kann man, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, ein Seminar mit
wissenschaftlichen Vorträgen und Berichten von Zeitzeugen zum Thema Flucht und
Vertreibung veranstalten, das in der Fragestellung und in der politischen Ausrichtung
völlig abweicht von den konventionellen Tagungen, wie sie über Jahrzehnte von den
Vertriebenenorganisationen und ihren Kulturinstituten angeboten worden sind? Man kann, und
man sollte!
Die einladenden Organisationen wie das Bürgerbüro Berlin, das Zentrum
Karta in Warschau, das Memorial Deutschland und die Schriftstellerin
Freya Klier, die Historikerin Doris Liebermann, die Journalistin Margit Miosga wollten
eindeutig neue Akzente setzen und Forschungsdesiderate aufdecken. Schon der Titel der
zweitägigen Veranstaltung in Berlin, Blinde Flecken der Geschichte. Vertreibung und
Deportation 1938-1948, und das Eröffnungsreferat Freya Kliers am Vorabend des 8.
November in der Hugenottenkirche am Gendarmenmarkt verwiesen auf diese Tendenz: Es sollten
Themen miteinander in Beziehung gesetzt und in einen neuen Kontext gestellt werden, die
bisher immer isoliert betrachtet worden waren. Freya Klier drückte das, sich dabei auf
Janusz Reiter, den polnischen Botschafter in Bonn bis 1996, berufend, so aus: Es gebe
zwei Geschichtsbilder, zwei nationale Wahrheiten, die über Jahrzehnte hart
aufeinanderprallten eine polnische und eine deutsche. Die polnische war geprägt
vom Leid der polnischen Bevölkerung während der NSBesatzung. Die deutsche Wahrheit
wiederum war geprägt vom Verlust der Heimat, von Flucht und Vertreibung.
Diese deutsch-polnische Blockade, der man eine tschechisch-deutsche, eine
russisch-polnische, eine deutsch-russische gegenüberstellen könne, gelte es
aufzubrechen. Am Beispiel der polnischen Stadt Lemberg, dem Schnittpunkt
römisch-katholischer, russisch-orthodoxer und jüdischer Kultur, konnte die Referentin
alle Stichworte benennen, die für das Jahrzehnt 1938/48 bezeichnend sind: Verschleppung
von Polen 1939/40 nach Sibirien, Erschießung von Juden, Polen und Ukrainern durch die
Rote Armee, seit Sommer 1941 Verschleppung und Ermordung der Lemberger Juden durch die SS
und Erschießung polnischer Intellektueller. Und als sie auf die von Sowjetsoldaten
1945/46 vergewaltigten und verschleppten Ostpreußinnen zu sprechen kam, fragte sie:
Mit welchem Recht werden sie aus der historischen Wahrnehmung ausgeklammert? Sollte
nicht endlich Schluß sein mit der Klassifikation von Opfern in solche, die man benennen,
und solche, die man nicht benennen darf'.?
Auch daß die Tagung in der Hugenottenkirche eröffnet wurde, war von Bedeutung,
schließlich hatten die im 17. Jahrhundert aus Frankreich vertriebenen Protestanten in
Preußen herzliche Aufnahme gefunden.Verbunden war dieser Abend mit einem Benefizkonzert
von vier jungen Kammermusikern des 1990 in St. Petersburg gegründeten
Memorial, das sich für arme und alte Überlebende des stalinistischen Terrors
einsetzt.
Die Tagung selbst, auf der sieben Referate, fünf Zeitzeugenberichte und drei
Podiumsdiskussionen angeboten wurden, fand in der Landesvertretung Thüringen statt und
wurde durch einen Vertreter des Hauses eingeleitet, der verzweifelt nach kulturellen
Beziehungen zwischen Schlesien und Thüringen suchte, dem aber nicht einfallen wollte,
daß der schlesische Barockdichter Johann Christian Günther (1695-1723) aus Striegau in
Jena begraben liegt.
Leider litten die beiden ersten Zeitzeugenberichte über Sudetendeutsche
Antifaschisten in der Tschechoslowakei von Hanns Skoutajan, der heute in Kanada lebt
und wegen Krankheit nicht gekommen war, und von Olga Sippl, die das Vorgelesene ergänzte,
darunter, daß Selbstverständlichkeiten über die sudetendeutsche Geschichte vorgetragen
wurden, die vielen Zuhörern geläufig waren, während Substantielles über den Widerstand
und seine Folgen kaum zu erfahren war.
Ein erster Höhepunkt der Tagung war zweifellos der Auftritt des 1977 geborenen Pragers Ondrej Lika, der sich schon als Student mit dem Brünner
Todesmarsch der Sudetendeutschen auseinandergesetzt hat und der sein Thema so
formuliert hatte: Was wissen junge Tschechen über die sudetendeutsche
Geschichte? Sein Fazit war ernüchternd: Die Geschichte dieser 1945 fast
vollständig vertriebenen Volksgruppe von 3,5 Millionen Menschen kommt heute weder in den
Geschichtsbüchern noch im öffentlichen Bewußtsein vor, obwohl man heute noch in Brünn Kanaldeckel findet mit der Aufschrift
Gemeinde Brünn. Er konnte auch von Anfeindungen berichten, denen er
ausgesetzt war, weil er sich für sudetendeutsche Geschichte interessierte.
Auch in der ersten Podiumsdiskussion ging es um die Frage, warum der sudetendeutsche
Widerstand vergessen worden sei, wobei das Podium mit Olga Sippl, 1920 bei Karlsbad als
Tochter sozialdemokratischer Eltern geboren und l938 nach England emigriert, Ursula
Weißgärber, 1943 als Tochter deutscher Kommunisten in Tetschen-Bodenbach geboren, und
Leo Sahel, Sozialdemokrat aus Troppau, heute in Wien lebend, optimal besetzt war.
Weiterhin vertreten waren Ondrej Lika und der 1946 geborene Zdenek Aulicky als
Botschaftssekretär in Berlin Vertreter des offiziellen Prag, der heftig bestritt, daß
man in Tschechien nichts wisse von den Sudetendeutschen. Warum die Erinnerung an den
Widerstand wichtig sei, wurde mit dem Verweis auf die gegenwärtige Weltlage, auf den
Krieg im Kosovo, die Ausrottung tibetischer Kultur durch China, die Vorgänge in
Tschetschenien begründet, als ob man jemals irgendetwas aus der Geschichte gelernt
hätte!
Im Vortrag Peter Jahns, des Leiters des Deutsch-Russischen Museums in
Berlin-Karlshorst, über die Vertreibung von Polen und die Umsiedlung von
Volksdeutschen aus dem Baltikum und Rumänien 1939/40 bekam man Daten und
Fakten über ein heute fast vergessenes Kapitel geliefert. Die gewaltige
Umsiedlungspolltik der Nationalsozialisten, in den Westgebieten Vorkriegspolens von
Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann betrieben, blieb zum Glück Stückwerk, und die im
Wartheland angesiedelten Deutschbalten mußten 1944/45 die Flucht antreten. Den
Gegenvortrag über die Deportation polnischer Staatsbürger 1940/41 in die
Sowjetunion bot der Moskauer Historiker Alexander Gurjanow, der daran erinnerte, daß die
Notwendigkeit einer Vergangenheitsbewältigung zwischen Russen und Polen in
Rußland bis heute geleugnet werde, obwohl 1939 mehr als die Hälfte Vorkriegspolens von
der Sowjetunion annektiert worden sei. Auch zu diesem Thema liegt in russischen Archiven
noch eine Fülle unerschlossenen Materials.
Höchst beeindruckend war die Aussage der Zeitzeugin Bronislawa Kowalska aus Wolhynien,
heute im pommerschen Köslin lebend, die 1940 mit ihren Eltern und Geschwistern nach
Sibirien verschleppt worden war und die beim Berichten mit den Tränen kämpfte wie am Tag
darauf die Breslauerin Hannelore Aebi, die nach dem Tod ihrer Großeltern im
westpreußischen Thorn mehrere Jahre in polnischen Konzentrationslagern verbringen mußte.
Was freilich als Podiumsdiskussion angekündigt war, erwies sich als mühsames
Übersetzungsgeschäft, weil drei der vier Teilnehmer der deutschen Sprache nicht mächtig
waren. Lediglich die russische Jüdin Dora Kacnelson, 1921 in Polen geboren, bemängelte
die ausbleibende Diskussion und stimmte in jiddisch gefärbtem Deutsch ein Klagelied auf
das untergegangene Königsberg an.
Das schlimme Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im nationalsozialistischen
Deutschland und nach der Heimkehr in die Sowjetunion, über das Pavel Pollan/Moskau
sprach, war ein Thema, das wohl etwas außerhalb der Tagungsthematik angesiedelt war,
während der Warschauer Historiker Jerzy Kochanowski ausführlich auf das Schicksal
Deutscher in polnischen Lagern in den Jahren 1944-1948 einging und damit ein Thema
aufgriff, das die anwesende Helga Hirsch bereits in ihrem noch viel zu wenig bekannten
Buch Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950 (1998)
behandelt hat. Aus besonderem Blickwinkel berichtete die 1939 geborene Polendeutsche
Martha Kent, die 1952 mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert war und heute als
Neurologin in Arizona lebt, über ihr Lagerleben als Kind in Potulitz.
Der Vortrag des Berliner Psychologen Marius Fiedler über Das Schweigen der
Überlebenden brachte sozusagen wissenschaftliche Ordnung in die gegensätzlichen
Zeitzeugenaussagen. Er unterschied zwischen dem Schweigen der Opfer und dem der Täter,
sprach überzeugend über vergewaltigte Frauen und ungeliebte Täterkinder, die dennoch
Zuneigung beanspruchten und später oft helfende Berufe ergriffen haben. Ein
unendliches, kaum ergründbares Thema!
Das Offene Zeitzeugengespräch am Ende der Veranstaltung brachte wenig
Erkenntnisgewinn. Daß man nun endlich auch über die deutschen Opfer von Flucht und
Vertreibung, über den gewaltigen Verlust an deutscher Geschichte und Kultur trauern darf,
was Helga Hirsch anmahnte, ist eine lange verdrängte Selbstverständlichkeit. Leider noch
nicht selbstverständlich ist, daß die Städte Brünn und Köslin nicht nur in
tschechischer (Brno) und polnischer (Koszalin) Sprache genannt werden wie im
Tagungsprogramm, wo es an anderer Stelle Moskau und Prag hieß.
Aber das ist wohl auf die noch nicht überwundene DDR-Befangenheit zurückzuführen.
Jörg Bernhard Bilke (KK)
Quelle: KK 1142 Seite 5. 2001-12-10