Keesings Archiv der Gegenwart (1938-03-04)

4. März 1938

G TSCHECHOSLOWAKEI. Außenpolitik. Minderheiten –

Ministerpräsident Dr. Hodža gab am 4. März in den Sitzungen des Abgeordnetenhauses und des Senats eine Regierungserklärung ab. Dr. Hodža führte unter anderem aus:

Der dramatische Ablauf der Ereignisse der letzten Wochen habe die öffentliche Meinung Europas in Unruhe versetzt. Er glaube, daß es sich auch diesmal um ein Übergangsstadium handelt, aus dem die europäischen Völker bei wirklichem Willen einen Ausweg zur dauernden Sicherung des Friedens und Gleichgewichts finden könnten.

Frankreich, Völkerbund, Kleine Entente, Sowjetunion.

Die Tschechoslowakei danke der französischen Regierung für ihre Bemühungen, die Funktion des Völkerbundes zu beleben, da das Genfer Forum in den schwersten internationalen Krisen für den Frieden gekämpft habe. Mit Befriedigung sei die bewährte Lebenskraft aller tschechoslowakischen internationalen Verträge festgestellt, auf denen die Tschechoslowakei beharre und beharren werde. Nur aus absolutem Mangel an Objektivität oder aus Unkenntnis des politischen Geschehens könne man behaupten, daß die Kleine Entente ihre Sendung nicht erfüllt habe. Weitere Vereinbarungen mit Jugoslawien und Rumänien seien im Gange, um die Leistungsfähigkeit dieser Organisation zu steigern. Mit freudiger Zustimmung habe die tschechoslowakische Öffentlichkeit die letzten Kundgebungen des französischen Ministerpräsidenten und des Außenministers (3445 D) verfolgt, die die schon historisch zu nennende Tatsache bekräftigen, daß die Zusammenarbeit des edlen Frankreich mit der Tschechoslowakei um so stärker zum Ausdruck komme, je deutlicher sich internationale Krisen zeigen. Das Abkommen Frankreichs mit Sowjetrußland und der Tschechoslowakei habe sich als Instrument der Friedenspolitik gut bewährt.

England.

Mit Genugtuung nehme die Tschechoslowakei die jüngste Kundgebung des englischen Ministerpräsidenten zur Kenntnis, in der sich dieser mit der Kundgebung Edens vom 24. Juni 1937 (3105 D, Abs. 2) voll indentifiziert habe. Diese neue Kundgebung der Stabilität der britischen Politik sei zweifellos eines der entscheidenden Elemente des europäischen Friedens. Der Tschechoslowakei handle es sich nicht um formale Abmachungen oder um sonst ein Sonderabkommen mit England. Es gehe einfach darum, ob man in London anerkennt, daß die Beruhigung und der Frieden Mitteleuropas allgemeines, also auch britisches Interesse sind.

Donauraum, Italien.

Das Festhalten an alten Verträgen sei kein Hindernis, den Weg der Zusammenarbeit mit den Nachbarn zu finden. Festzustellen sei das gute Verhältnis zu den Ländern im Donauraum und die fortschreitende Norrnalisierung der Beziehungen auch zu den Ländern, mit denen sie nicht befriedigend waren. Im April werde die Tschechoslowakei den 20. Jahrestag der Aufstellung tschechoslowakischer Truppenteile auf italienischem Boden feiern und dabei mit Dankbarkeit Italiens gedenken. Die zwischenstaatliche Annäherung im Donaubecken entwickle sich nach den Grundsätzen der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung und der Zusammenarbeit. In der Organisierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Donaustaaten sei ein allseitiger Fortschritt festzustellen. In erfreulicher Entwicklung sei der Gedanke, sich gegenseitig Ausnahmen von der Meistbegünstigungsklausel zuzuerkennen.

Deutschland und Sudetendeutsche.

Einer Klärung bedürfe das Verhältnis zum Deutschen Reich. Seit einem halben Jahr finde zwischen den zuständigen diplomatischen Organen Deutschlands und der Tschecheslowakei ein Meinungsaustausch statt, darauf abzielend, daß sich die Journalisten auf beiden Seiten der Aggresivität bei allen Erwägungen enthalten, welche die gegenseitigen Beziehungen betreffen, und eine Stellungnahme der Objektivität und des guten Willens beachten.

Dieser Meinungsaustausch hatte günstige Ergebnisse, wenn auch nicht so allgemeine, wie dies ein gutnachbarliches Verhältnis, das alle erwünschen, erfordern würde. Daß die Tschechoslowakei bei Einhaltung der Reziprozität bereit wäre, für einen Pressefrieden dauernd und konsequent zu arbeiten, folge schon aus dem traditionellen Grundsatz der tschechoslowakischen Politik, internationale Verträge um jeden Preis einzuhalten. Mit gutem Erfolg seien eine Reihe wirtschaftlicher Verhandlungen mit Deutschland beendet worden. Die Regierung zweifle nicht, daß auch der Meinungsaustausch über weitere Fragen im Geiste gegenseitigen Verständnisses geführt werden wird. Nach den Ereignissen der letzten Wochen und insbesondere nach der Rede Görings (siehe 3449 D) könnte jedoch dieser Meinungsaustausch auf einen bedenklichen Boden gelangen. Der Reichskanzler habe in seiner Rede vom 20. Februar [1938] auf die Tatsache hingewiesen, daß in zwei Staaten an der deutschen Grenze zehn Millionen Angehörige deutscher Nation leben (3434, Abschnitt: Schutz der deutschen Volksgenossen im Ausland). Es sei eine historische Tatsache, daß in der Tschechoslowakei mehr als drei Millionen Einwohner deutscher Nationalität ihre Heimat haben. Die Tschechoslowakei gehöre zu jenen Ländern, in denen eine Bevölkerung verschieden nationalen Ursprungs ganze große Gebietsteile durchdringt. Die Friedenskonferenz konnte daher nichts anderes tun, als diese vielhundertjährige Situation auch nach dem Weltkrieg zu bestätigen. Es sei eine bloße Selbstverständlichkeit, wenn die Tschechoslowakei, und zwar in vollem Bewußtsein der Tragweite dieser Erklärung betont, daß ihre Grenzen absolut unantastbar sind. Der Reichskanzler habe selbst erklärt, daß es in Europa kaum Grenzen gibt, die allseits befriedigen würden. Es ergebe sich aber eine andere Frage. Der Reichskanzler erklärte, daß zu den Interessen des Deutschen Reiches auch der Schutz jener deutschen Minderheiten gehöre, die aus eigener Kraft nicht imstande sind, ihre allgemein menschlichen, politischen und weltanschaulichen Freiheiten innerhalb der Grenzen anderer Staaten zu sichern. Es sei nicht notwendig, diese Erklärung des Reichskanzlers auf die Tschechoslowakei zu beziehen aus dem einfachen Grund, weil man von den Deutschen in der Tschecheslowakei nicht sagen könne, daß sie aus eigener Kraft nicht imstande wären, ihre allgemein menschlichen und politischen Rechte zu wahren. Dann auch aus dem Grund, weil sich, wie dies aus dem Begriff der staatlichen Souveränität hervorgeht, um die Sicherung aller nationalen, bürgerlichen Rechte und um die Gewissensfreiheit ausschließlich der tschechoslowakische Staat in verständnisvoller Zusammenarbeit mit seinen Bürgern aller Nationalitäten ständig bekümmere. Aus den Worten des Reichskanzlers könnte dennoch die Meinung entstehen, daß dieser an den Schutz seines Reiches auch im Hinblick auf die Deutschen in der Tschechoslowakei denke. Ein in diesem Sinne formulierter Standpunkt würde einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei bedeuten. Die erste Voraussetzung einer Regelung internationaler Beziehungen sei ihre Klarheit und unbedingte Eindeutigkeit. Der weiteren Entwicklung in Mitteleuropa und den Beziehungen der Tschechoslowakei zu Deutschland würde ein schlechter Dienst erwiesen, wenn die Tschecheslowakei nicht deutlich erklären würde, daß sie und ihre Bevölkerung niemals und unter keinen Umständen einen Eingriff in ihre innerpolitischen Angelegenheiten dulden kann und dulden darf.

Sollte die Erklärung des Reichskanzlers als Versuch einer Einmischung in die innerpolitischen Angelegenheiten gemeint sein, so würde dies die tschechoslowakische Regierung aufrichtig bedauern, da dies seit der erneuerten tschechoslowakischen Selbständigkeit der erste Versuch seiner Art wäre und in eine Zeit fiele, da gerade in der Tschechoslowakei ernste konstruktive Vorbereitungen zur Regelung der Beziehungen mit Deutschland auf Grundlage einer korrekten Zusammenarbeit und einer absoluten Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates erfolgen. Die Gefahr jeder Doppelsinnigkeit und jeder Unklarheit sei gerade an diesem Punkt Europas groß. Daher lasse die tschechoslowakische Regierung niemanden im Zweifel, daß ihre Bevölkerung alle Attribute der staatlichen Selbständigkeit mit allen ihren Kräften verteidigen wird, wenn diese angegriffen würden. Die Tschecheslowakei suche den Frieden. Die heutige Situation zwinge aber zu sagen, daß die Tschecheslowakei sich bis in die letzten Konsequenzen wehren wird, wenn das Schicksal sie vor die Notwendigkeit der Abwehr stellt. Die Heimat der seit altersher auf dem Gebiete der Tschechoslowakei ansässigen Deutschen liege im tschechoslowakischen Staate. Es sei daher die Aufgabe dieses, aber einzig und allein dieses Staates, sein Verhältnis zu den Deutschen so zu gestalten, daß diese selbst die uralte Wahrheit fühlen und erleben, ihre Urväterheimat liege in der Tschechoslowakei.

Diese Aufgabe habe die Republik auf sich genommen, weil eine gerechte Nationalitätenpolitik für das tschechoslowakische Volk eine Selbstverständlichkeit sei und durch das Verfassungsgesetz eine Rechtsordnung geschaffen wurde, die diesem Ziel entspricht und die sich mit den internationalen Verpflichtungen deckt, welche die Tschecheslowakei durch den Minderheitenschutzvertrag vom 10. September 1919 übernommen hat.

Der Reichskanzler habe gesagt, daß es bei gutem Willen möglich sei, einen Weg des Ausgleiches zu finden. Mit dieser Ansicht stimme Dr. Hodža voll überein. Zwischen Deutschland und der Tschecheslowakei bestehen mehr Barrieren psychologischen als politischen Charakters. Wenn guter Wille auf bei den Seiten vorhanden sei, müsse der Abbau der psychologischen Schranken beginnen.

Die Bevölkerung der Tschechoslowakei sei niemals vor großen Anregungen zurückgeschreckt, die dazu führen könnten, was der Reichskanzler Beruhigung genannt hat. Ein Ausgleich würde für alle unverhältnismäßig mehr Vorteile bringen als Krisen und Konflikte. Jeder Versuch einer Einmengurig in die Souveränität der Tschechoslowakei werde deshalb abgelehnt, begrüßt jedoch werde fruchtbare Zusammenarbeit auf Grundlage der Gleichheit und Nichteinmischung. Durch den kollektiven Willen der Bevölkerung sei die Tschechoslowakei heute so stark wie nie vorher in ihrer Geschichte. Im Geist ihrer Geschichte, der moralischen und intellektuellen Zusammensetzung der Bevölkerung baue die Tschecheslowakei aus allen ihren Kräften den erneuten Staat zu einem wirklichen Heim für alle ihre ethnischen Bestandteile. Die Tschechoslowakei gebe diesen nicht nur die Hoffnung auf Befriedigung ihrer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse, sondern sie verbürge ihnen auch das volle Maß aller menschlichen und bürgerlichen Freiheiten. In diesem Bewußtsein sei die Ruhe, Sicherheit und Entschlossenheit der Tschechoslowakei verankert, das Erbe ihrer Könige festzuhalten und tapfer zu verteidigen. Die Tschechoslowakei habe sich tausend Jahre nicht gefürchtet und fürchte sich auch heute nicht. Sie sei sich der Einigkeit der Herzen und der Vernunft aller Schichten des Volkes bewußt, aber auch der Zusammenarbeit mit jenem Europa, das ebenso wie die Tschechoslowakei keine gewaltsamen Eingriffe, sondern Ruhe und Frieden wünscht.

(L. B. Außenpolitik 3405 G, Minderheiten 3452 E.)