„DER TAGESSPIEGEL“ (BERLIN) VOM 06.07.2001
Interview mit Jan Tomasz Gross zum Jedwabne-Massaker 
„Aus Nachbarn wurden über Nacht Mörder“ 
Der Historiker Jan Tomasz Gross über den 1941 verübten Massenmord an Juden im polnischen Jedwabne

Jan Tomasz Gross (53) ist Professor für Politik und Europäische Studien an der New York University.

Noch bis vor kurzem galt es als gesichert, daß es Deutsche waren, die am 10. Juli 1941 im ostpolnischen Jedwabne an einem Tag fast die ganze jüdische Bevölkerung ermordeten. Doch nach den Recherchen des Polen Gross verübten seine christlichen Landsleute das Massaker. Mit seinen Forschungen hat er in Polen eine kontroverse Debatte angestoßen. Zum 60. Jahrestag des Pogroms kommende Woche ist eine offizielle Trauerfeier geplant.

Herr Gross, was ist am 10. Juli 1941 im ostpolnischen Städtchen Jedwabne passiert?
An diesem Tag machten die polnischen Einwohner des Ortes Jagd auf die dort lebenden Juden. Sie wurden aus Wohnungen, Geschäften und Verstecken gezerrt. Es gab Plünderungen. Einige Juden wurden an Ort und Stelle erschlagen oder erstochen. Die meisten mußten dann auf dem Marktplatz das Unkraut entfernen und das von den Russen aufgestellte Lenin-Denkmal mit eigenen Händen abtragen und auf dem jüdischen Friedhof begraben. Schließlich trieb man die Männer, Frauen und Kinder in einer Scheune zusammen und steckte sie in Brand. Mindestens 1600 jüdische Mitbürger wurden so von ihren polnischen Nachbarn ermordet.

War Antisemitismus der Grund für den schrecklichen Pogrom?
Das war sicherlich ein wichtiger Faktor. In diesem Gebiet hatten die Deutschen schon zuvor zahlreiche Juden ermordet und die Einwohner sogar dazu ermutigt, ihre jüdischen Nachbarn umzubringen.

Welche Rolle spielten die Deutschen beim Massaker in Jedwabne?
Sie erlaubten das Morden, unterstützten es und ermunterten die Täter. Aber die Deutschen haben nach meinen Erkenntnissen nicht direkt daran teilgenommen. Sie haben "nur" das Massaker zu Propagandazwecken gefilmt und fotografiert.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden in Jedwabne vor dem Massenmord beschreiben?
Es war überwiegend friedlich. Keines der Opfer hat damit gerechnet, daß aus seinen christlichen Nachbarn über Nacht Mörder werden würden. Im großen und ganzen war das Gebiet allerdings eine Hochburg des polnischen Nationalismus. Antijüdische Stimmung war weit verbreitet.

Jedwabne beschäftigt inzwischen auch die polnische Staatsanwaltschaft. Was ist von den Ermittlungen zu erwarten?
Ich glaube, daß noch einige weitere Details bekannt werden. Das Institut für Nationale Erinnerung wird wohl bald eine Erklärung zum Fall Jedwabne abgeben. Ich hoffe, daß dies diejenigen verstummen lassen wird, die das Verbrechen leugnen.

Ihre Forschungen haben eine Debatte über die Rolle Polens während des Krieges und mögliche Verstrickungen in den Holocaust ausgelöst. Manch einer warf Ihnen vor, Sie verbreiteten Lügen über die Polen. Läuft die Diskussion dennoch in die richtige Richtung?
Ich denke schon. Es gab in den vergangenen Monaten eine Menge bewegender und tiefgehender Stellungnahmen quer durch die Bevölkerung – von hohen Politikern bis zu ganz einfachen Leuten.

Die katholische Kirche hat vor einigen Wochen öffentlich für den Massenmord um Vergebung gebeten. War das ausreichend?
Die Spitze der katholischen Kirche in Polen hat nach meiner Überzeugung zu spät über Jedwabne öffentlich gesprochen. Und sie hat bisher zu wenig gesagt.

Am 10. Juli jährt sich das Jedwabne-Massaker zum 60. Mal. Sollte sich Staatspräsident Kwasniewski im Namen Polens für das Morden bei den Juden entschuldigen?
Auf jeden Fall. Ich denke, daß eine solche Geste dringend erforderlich ist.

Das Gespräch führte Christian Böhme.