DER SPIEGEL 10/2001 2001-03-05
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Das Schweigen der Bauern

Vor 60 Jahren wurden in Jedwabne über tausend Juden ermordet – von Polen. Während Historiker und Intellektuelle Korrekturen am Selbstbildnis der Nation vornehmen, lebt im Dorf ein Kartell von Vertuschern.

Ein alter Mann sitzt am Tisch und faltet die Hände. Der Kachelofen bollert leise, auf der Kommode stehen Plastikpflanzen, an der Wand hängen Madonnenbilder. Wohnt hier ein Mörder?

Vor sich hat Zygmunt Laudanski ein Blatt Papier gelegt wie ein Beweisstück in einem Prozeß. Die Skizze darauf soll ihn rehabilitieren. Sie zeigt den Straßenplan von Jedwabne, einem Dorf im Nordosten Polens, so wie es seiner Erinnerung nach am 10. Juli 1941 ausgesehen hat. An diesem Tag wurden vor dem Ort, der von September 1939 bis Juni 1941 Teil des sowjetischen Machtbereichs war, über tausend Juden von ihren polnischen Nachbarn ermordet; die Opfer, vor allem Frauen und Kinder, waren in einer Scheune zusammengepfercht und verbrannt worden.

Die gerade einmarschierten deutschen Besatzer sollen zwar zur Tat angestiftet haben, doch ausgeführt wurde das Verbrechen von Polen – so die vorläufige Bilanz einer staatlichen Untersuchungskommission. Laudanski, damals ein junger Mann, soll einer der Täter gewesen sein. Mit seinem Bruder Jerzy wurde er deshalb bereits im Jahr 1949 verurteilt, beide saßen bis in die späten fünfziger Jahre in Haft.

Die Frage, ob Zygmunt und Jerzy Laudanski von den Kommunisten damals unschuldig verurteilt wurden oder ihre Strafe zu Recht verbüßt haben, wird derzeit in ganz Polen erbittert diskutiert. An ihrer Beantwortung hängt das gute Gewissen der Nation. Denn bisher haben sich die Polen ausschließlich als Opfer der Geschichte gesehen, nicht aber als Täter.

Dieses Selbstbildnis hat der polnische Historiker Jan Tomasz Groß, Professor an der New York University, mit seinem Buch "Nachbarn" zerstört. Er beschreibt darin, wie sich viele Einwohner von Jedwabne zu willigen Vollstreckern der Nazis gemacht haben. Sein Werk, das in diesen Tagen auch in den USA erscheint, wird beim C. H. Beck-Verlag gerade ins Deutsche übersetzt.

Angespornt vom Streit um das Buch, das vor allem von polnischen Nationalkatholiken und Rechten attackiert wird, wittert Laudanski, 82, nun die Chance für eine Rehabilitation. Er versucht, einen beherrschten Eindruck zu machen. Laudanski behauptet, daß er nicht in der Nähe der Scheune war, als sie angezündet wurde. Das Einzige, woran er sich erinnern will, ist der schwarze Leichenrauch. Der Qualm zog über sein Elternhaus hinweg und habe schrecklich gestunken.

"Mit der Mordbrennerei haben wir nichts zu tun. Meine Brüder sind keine Verbrecher!", sagt auch Kazimierz Laudanski, der älteste der drei Brüder, der inzwischen erblindet ist. Er selbst will am 10. Juli nicht in Jedwabne gewesen sein.

Haben seine Brüder denn etwas mit den Morden in den Tagen vor der schrecklichen Tat zu tun? Der Vater war ein Aktivist der "Stronnictwo Narodowe", einer rechtsextremen, antisemitischen Partei, die in Polen schon vor dem Krieg den Boykott jüdischer Geschäfte organisierte.

Nach dem Einmarsch der Deutschen jubelten ihnen viele Dorfbewohner zu, erinnert sich Kazimierz Laudanski. Tagelang wüteten polnische Antisemiten und töteten Juden nicht nur in Jedwabne, sondern auch in anderen Dörfern der Gegend – aus Rache für die angebliche Kollaboration jüdischer Einwohner mit den sowjetischen Besatzern.

"Das war ein heiliger Zorn!", sagt der älteste der Laudanski-Brüder, "die Vergeltung war die Pflicht eines jeden Patrioten." Zygmunt sieht stumm herüber und nickt. Ihr Vater hatte während der sowjetischen Besatzung in Haft gesessen und war von den Deutschen befreit worden.

Doch die Unschuldsbeteuerungen der Laudanskis, sie seien Opfer stalinistischer Willkürjustiz, sind nicht besonders glaubwürdig. Mehrere Menschen haben die Untaten bezeugt, darunter ein überlebender Jude aus Jedwabne, der seine Erinnerungen nach dem Krieg zu Papier brachte. Eine Bäuerin hatte ihn und sieben andere Juden versteckt. Kaum wurde ihre mutige Tat nach dem Krieg bekannt, wurde sie auf offener Straße von Polen verprügelt.

Auch unter Historikern ist die Tatsache, daß Polen in Jedwabne genau das verbrochen haben, was Deutsche in Hunderten von anderen Orten ganz routinemäßig taten, inzwischen unumstritten. Doch in Jedwabne scheint die Zeit stillzustehen. Die Erinnerung der Menschen hier ist so festgefroren wie die Eiszapfen an den Holzhäusern.

Jedwabne ist ein Bauerndorf mit schlechten Straßen, einer Kneipe, ein paar Kramerläden und einer viel zu großen Kirche für die 1800 Einwohner der Gemeinde. Von der Kanzel herab ermahnt Pfarrer Edward Orlowski seine Gläubigen, Fremden gegenüber "keine Dinge zu sagen, die schlecht für uns Polen sind".

Ein von ihm organisiertes Treffen, in der ein staatlicher Ankläger Auskunft über den Stand des neuen Untersuchungsverfahrens gab, geriet zu einer pöbelhaften Demonstration. "Die Juden haben uns verraten!", skandierten die Bauern, "sie wollen uns unseren Boden wegnehmen" – die Angst vor jüdischen Restitutionsansprüchen geht um in Jedwabne. Seelsorger Orlowski forderte schließlich, "diesen Professor Groß zu verklagen".

Ausländern gegenüber schlägt Pfarrer Orlowski sanftere Töne an. Wer wolle denn schon wissen, wie es damals wirklich war, sagt er. Er sitzt am Tisch seines Empfangszimmers und zeigt stolz ein paar Fotos, die ihn gemeinsam mit Papst Johannes Paul II. zeigen – er kennt Karol Wojtyla noch aus gemeinsamen Tagen an der Universität. Die volle Wahrheit über Jedwabne, sagt der Priester, sei noch gar nicht bekannt.

Gleichwohl ist sich der Geistliche, der erst 1988 nach Jedwabne kam, ganz sicher, daß viele Juden vor dem Einmarsch der Deutschen für den sowjetischen Geheimdienst gespitzelt hatten- ein besonders bei polnischen Katholiken verbreitetes Klischee. Das Massaker sei im Übrigen von den Deutschen verübt worden, was Historiker inzwischen widerlegt haben. Einen Polen, der sich weigerte, die Juden zu schlagen, hätten die Nazis im Dorfteich ertränkt - auch für diese Märtyrer-Geschichte gibt es keinen Beleg. Bis ihn seine Haushälterin zum Essen ruft, versucht der Pfarrer die besudelte Ehre seiner Gemeinde zu verteidigen.

Zu der gehört auch Elzbieta. Sie ist eine fromme Katholikin, ehrt den Priester, aber liebt auch die Wahrheit. Sie möchte mit ihrem wirklichen Namen nicht zitiert werden, "weil ich hier in Jedwabne sonst geschlagen werde oder mir noch Schlimmeres passiert". Sie mag nur heimlich reden, denn wer in Jedwabne mit Fremden über das Pogrom spreche, wird selbst bedroht. Es werde sich schon noch "eine weitere brennende Scheune" finden, heißt es.

Elzbieta war zehn Jahre alt, als um sie herum "die Hölle losbrach". Am Morgen des 10. Juli 1941 hat sie ihre jüdischen Freundinnen, die Töchter der Familie Fiszman, besucht. Gegen zehn Uhr kamen "polnische Jugendliche und junge Männer und schickten alle zum Markt". Elzbieta ging nach Hause, ihre Freundinnen fingen an zu weinen. "Die Juden wußten, das sie sterben würden", erinnert sich die Frau, denn in den Tagen zuvor hatte es schon in Nachbarorten Pogrome gegeben.

"Es waren die Polen", welche die Juden zusammentrieben, da ist sich die Zeugin sicher. "Deutsche habe ich nicht gesehen, nur ein paar Polizisten." Ob sie damals Polizisten von Soldaten unterscheiden konnte? "Ja, wir haben als Kinder die Uniformen der Deutschen bewundert." Vor allem Kinder und Frauen seien vor der Kirche zusammengetrieben worden. Dort hat sie ihre Freundinnen zum letzten Mal gesehen. Als am Nachmittag der Qualm beißend über die Dächer zog, "wußte ich, was passiert war". 70 Jahre ist Elzbieta heute und hat mit der Erinnerung an die schwarze Rauchsäule "jeden Tag" verbracht.

"Ich habe immer darauf gewartet, endlich die Wahrheit sagen zu können", sagt sie zum Abschied. "Bei uns hier im Dorf wissen alle Bescheid, aber viele lügen, oder sie haben Angst."

Die Vergangenheit ist in Jedwabne nie vergangen, die Einwohner leben mit der Erinnerung an das Massaker wie mit ihrem Schatten. Stanislaw Michalowski, Vorsitzender des Stadtrats, weiß noch genau, wie er als Kind seinen Vater und dessen Freunde bei einem Trinkgelage im Wohnzimmer belauschte. Die Besucher "haben mit ihren Morden angegeben. Es waren Polen".

Neben Michalowski sitzt Bürgermeister Krzystof Godlewski. Er empfindet die Last der verheimlichten Vergangenheit als Fluch.

Doch heute kämpft er fast allein gegen ein Kartell von Vertuschern. Nicht einmal den Gedenkstein aus kommunistischen Zeiten, der am Tatort auf dem Hügel vor dem Dorf steht, kann er ändern. Die Inschrift bezichtigt noch die Deutschen der Tat. Außerdem drängt die jüdische Gemeinde in Warschau auf eine würdige Bestattung der Toten, die damals in den Feldern verscharrt wurden.

Doch das Land ist Privatbesitz, es gehört der Tochter des Bauern, der vor 60 Jahren seine Scheune zur Verfügung gestellt hatte. Sie gehört zu den Schweigern im Dorf. "Wir wollen das Land kaufen, aber sie geben es nicht her", sagt Godlewski.

Um bei den Nachfahren der Täter etwas zu bewirken, wäre der Bürgermeister auf die Hilfe des Pfarrers angewiesen. Doch der arbeitet gegen ihn. Die Inschrift auf dem Stein solle doch "so bleiben, wie sie ist", sagt Orlowski. "Die Leute wußten damals schon, was sie taten."

Vor dem Massaker haben in Jedwabne etwa 1800 Juden gelebt, heute wohnt dort nur noch eine Frau mit jüdischen Vorfahren. Sie ist mit einem katholischen Bauern verheiratet. Als das Dorf jetzt in die Schlagzeilen geriet, hat der Pfarrer sie besucht und ihr einen Rat gegeben: "Die Bewohner von Jedwabne haben dir immer geholfen. Das solltest du jetzt nicht vergessen, wenn du mit Fremden redest."

CLAUS CHRISTIAN MALZAHN