Werner Hanitzsch: "Mein Leben im Wandel der Zeiten"
Ein Rückblick auf die Erlebnisse der Jahre 1945 – 1990
Auszug Seiten 40 bis 42 . Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Erzgebirge 1945-05-10
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   Deutschland hatte bedingungslos kapituliert. Es gab keinen Friedensvertrag, es herrschte nur Waffenstillstand. Wir waren die besiegten, rechtlosen Faschisten. Die sowjetischen Soldaten ließen uns das reichlich spüren. Sie plünderten und vergewaltigten, wo immer sie eine Gelegenheit fanden. Noch hatten wir keinen Kontakt zu ihnen, aber die Angst war riesengroß.

Wir machten uns nun Gedanken, wie wir am besten nach Hause kommen könnten. Ich zerbrach mir den Kopf. Irgendeine Lösung müßte es doch geben. An dem Geschehen auf den Straßen und um uns herum hatte sich auch nach der Kapitulationsmeldung nichts verändert.

In dem Ort, wo wir uns zu dieser Zeit aufhielten, [etwa 10 km nördlich Teplitz-Schönau an der Straße von Zinnwald herab: Zuckmantel oder Weißkirchlitz?] befand sich ein kleiner Marktplatz mit einem Gasthof. Hier war ein Straßenknotenpunkt, an welchem sich zwangsläufig alle möglichen Truppenteile und Versprengten trafen. Um eine eventuelle Mitfahrmöglichkeit nach Dresden zu erkunden, bin ich dorthin gegangen.

Auf dem Marktplatz war Hochbetrieb. Aus allen Richtungen kamen und gingen Fahrzeuge mit Soldaten und Zivilisten.

Auf der Toilette des Gasthofes, welche ich benutzen mußte, wollte mir ein Landser seine Pistole gegen Zigaretten verkaufen. Er muß mich wohl für ein entsetzliches Greenhorn gehalten haben. „Da mußt du dir schon einen Dümmeren suchen“, gab ich ihm zur Antwort, lachte ihn aus und ließ ihn stehen.

In dem Gasthof lagen noch deutsche Soldaten. Alles war in hektischer Auflösung. Es entstand ein regelrechtes Chaos. Mitten drin stand ein Planwagen mit zwei Pferden bespannt. Ein Landser machte sich an den Pferden, welche einen recht mitgenommenen Eindruck machten, zu schaffen. Er war im Begriff, die Pferde auszuschirren. Ich witterte sofort irgendeine Chance und sprach ihn an:

„Na, Kamerad, deine Pferde sehen ganz schön geschafft aus. Wo willst du denn noch hin?“

„Die Pferde sind am Ende und ich auch“, gab er zur Antwort. „Wir sind schon eine Ewigkeit unterwegs und nichts Ordentliches zu fressen. Ich kann nicht mehr, ich gebe auf. Die Tiere sollen hinlaufen, wo sie wollen, vielleicht finden sie was zu fressen, und ich verdrück mich hier irgendwo.“

„Wenn du willst, kümmere ich mich um die Pferde.“

„Verstehst du denn was davon.“

„Na klar, ich habe eine komplette Reit- und Fahrausbildung hinter mir. Außerdem kenn ich hier jemanden im Ort, der mir helfen kann“, log ich ihn an.

Mit den Worten „Ich bin froh, wenn sich jemand darum kümmert, ich will nur weg hier“ übergab er mir ohne jeden Einwand oder Vorbehalt die Pferde einschließlich Wagen. Ich hätte vor Freude laut jubeln können und hätte am liebsten einen Luftsprung getan. Aber das wäre wohl zu früh gewesen.

Ich schirrte die Pferde fertig aus und ging mit ihnen von Bauer zu Bauer durch das Dorf, um für die Tiere eine Unterkunft und etwas Futter zu suchen. Endlich hatte ich einen Hof gefunden, wo ein Stall, aber keine Pferde mehr vorhanden waren. Der Bauer gestattete mir, die Pferde einzustellen, wenn ich mich selbst drum kümmern würde. Sogar Futter erhielt ich von ihm.

Ich war überglücklich und sah mich schon auf dem Kutschbock mit Mutter und Schwestern im Wagen gen Dresden rollen.

Aber wie so oft kam es eben anders.

Nachdem ich die Pferde versorgt hatte, ging ich in unser Quartier und berichtete strahlend über meine Erfolge und Pläne. Die Freude war groß. Wir entschlossen uns, noch eine Nacht zu bleiben und am nächsten Morgen zeitig aufzubrechen.

Anschließend ging ich wieder zum Wagen, um einige Vorbereitungen für unsere Reise zu treffen.
Als ich dort ankam, dachte ich, ich seh nicht recht:
Am Wagen fehlte die Deichsel. Einfach weg. Gestohlen! Ich war zwar sehr erschrocken, ließ mich aber nicht entmutigen. Wieder bin ich von Bauer zu Bauer durch das Dorf marschiert, bis ich auf einem Hof eine ähnliche Deichsel gefunden hatte. Diese war zwar nicht mehr sehr schön, aber noch verwendbar. Vorsichtshalber trug ich die Deichsel zu dem Stall, wo meine Pferde standen. Ich wollte sie erst kurz vor der Abfahrt anbringen.

Nach dieser Arbeit ging ich wieder zum Wagen, um meine Vorbereitungen zu treffen. Dort angekommen, dachte ich, mich trifft der Schlag. Das konnte doch nicht wahr sein. Man hatte die Räder und die Plane gestohlen. Der nackte Wagen stand aufgebockt auf ein paar Steinen.

Es war vollkommen aussichtslos, vier passende Räder für diesen Wagen zu organisieren. Resigniert gab ich unseren schönen Plan der Heimreise mit diesem Gefährt auf. Ich war zwar sehr traurig, aber es gab viel schlimmere Situationen, als daß man nicht damit fertigwerden könnte. Wir mußten uns eben damit abfinden, daß wir nicht so herrschaftlich reisen konnten.

Also ging ich zuerst zu dem Bauern, wo meine Pferde standen. Erst erzählte ich ihm meine Geschichte, dann schenkte ich ihm einfach meine Pferde. Er wußte nicht, wie ihm geschah, und wollte es gar nicht glauben. Aber dann freute er sich riesig. Für ihn war das wie ein großer Gewinn in der Lotterie. Das Lotto-Spiel gab es damals noch nicht.

Anschließend ging ich in unser Quartier und berichtete von unserem Mißgeschick. Aber jammern half uns auch nicht. Irgendwie mußten wir weiter. Unsere Wirtsleute, welche sehr lieb mit uns waren, organisierten uns einen alten ausrangierten Kinderwagen und versorgten uns noch mit etwas Brot. Mehr konnten wir wirklich nicht erwarten. Am nächsten Morgen machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Vor uns lagen runde 70 km Fußmarsch mit unbekanntem Schwierigkeitsgrad.

Aus den 70 sind vielleicht 100 km geworden, da wir aus Angst vor den Russen viele Umwege durch die Wälder gemacht haben. In Scheunen und alten Gasthöfen übernachteten wir. Dort trafen wir immer noch andere Flüchtlinge, wir waren nie allein. Das war sehr wichtig, wir machten uns gegenseitig Mut. Dadurch hatten wir nachts immer ein gewisses Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Aber auch am Tage mußten wir wegen unseres Babys immer wieder Pausen einlegen. Ein großes Problem war die Ernährung des Babys. Stillen konnte Mutter schon längst nicht mehr. Was sollten wir dem Kind zu essen geben, damit es keine Ernährungsstörung bekommt? Wir hatten keine Wahl. Mutter hat das harte Brot gekaut und das eingespeichelte Brot dem Kind zu essen gegeben. Es ist erstaunlich, wie gut unserer Elke diese Kost bekommen ist. Sie hat alles ohne Schaden überstanden und ist heute selbst Mutter und Großmutter.

Zwölf Tage schlichen wir so durch die Wälder und erreichten unbeschadet Dresden.

Unsere Wohnung befand sich in einem entsetzlichen Zustand. Die Wohnungstür war eingetreten worden, und alle Fenster waren zerschlagen. Die Räume waren durchwühlt, aber es fehlte nicht sehr viel. Trotz allem waren wir froh und glücklich, daß wir wieder zu Hause waren und eine Bleibe hatten. Kurz bevor wir ankamen, hatte sich dort ein dramatisches Ereignis zugetragen.    . . .

Das Buch (ISBN 3-89009-883-5) ist zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor:
Werner Hanitzsch, Hohendölzschener Straße 6, 01187 Dresden, Ruf 0351-4176188, Fax über 0351-4116195, WeHani@aol.com
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