Adolf Hampel
„Deutschland kann so groß sein wie es will, wenn es nur demokratisch ist.“ (Vaclav Havel)

SCHWIERIGE NACHBARN

Bei einem konspirativen Treffen von Vertretern der tschechischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77, slowakischen Dissidenten und sudetendeutschen Katholiken im Jahre 1988 in einer Prager Wohnung waren alle der Meinung, daß nach dem in naher oder ferner Zukunft zu erwartenden Zerfall des Kommunismus sich die zwischennationalen Fragen leichter lösen lassen würden als jemals zuvor.

Tschechen und Slowaken waren fest davon überzeugt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands der erste und notwendige Schritt in diesem Prozeß sein werde. Die anwesenden Deutschen glaubten dies ganz und gar nicht. Über den Unrechtscharakter des Münchner Abkommens und der Vertreibungsdekrete von Beneš bestand einhellige Übereinstimmung. Die jahrzehntelange Bewährung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland war Tschechen und Slowaken ein Leitbild für die föderale Struktur des Staates als Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander der Nationen in einem Staat.

Nur sechs Jahre sind seitdem vergangen. Der Kommunismus zerfiel schneller als erwartet. Die damalige Perspektive der Beziehung zwischen Tschechen, Slowaken und Deutschen hat sich nicht bewahrheitet. Sudetendeutsche Sprecher erheben astronomische Entschädigungsforderungen, tschechische demokratisch gewählte Politiker betrachten die Vertreibung der Sudetendeutschen als notwendige und besonders in ihrem Resultat begrüßenswerte Maßnahme. Die Slowaken und Tschechen haben inzwischen die staatliche Gemeinschaft aufgekündigt. Nachrufe auf die Tschechoslowakei sind alles andere als freundlich. Wie ist das zu erklären? Wie tief sitzen die Wunden, die sich unsere Völker geschlagen haben?

Obwohl die deutsch-tschechischen Beziehungen nicht identisch sind mit den sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen, lassen sich beide Bereiche doch nicht voneinander trennen. Eine deutsche Politik, die die sudetendeutschen Fragen als lästigen Ballast ausklammern möchte, wird keine ehrlichen Beziehungen zum tschechischen Volk aufbauen können.

Tschechen, Slowaken und Deutsche gehören zu jenen Völkern, die sowohl vom Nationalsozialismus als auch vom Kommunismus erfaßt wurden. Für Streit sorgt immer wieder die Tatsache, daß nicht alle in gleicher Weise Opfer und Täter waren.

Sosehr die Völker Mitteleuropas mit Westeuropa verbunden sind, weisen sie doch spezifische Aspekte auf. Ein prägender Faktor dieser Region war die nationale Durchlässigkeit der Kulturräume, die national-plurale Genese und Zusammensetzung seiner Kulturzentren. Prag, Brünn, Preßburg sind viel weniger als London, Paris, Madrid als Resultat der Kulturanstrengung einer einzigen Nation zu verstehen. Tschechen, Slowaken, Juden, Ungarn, Deutsche und andere haben sie Jahrhunderte hindurch wechselseitig beeinflußt. Die Juden sind durch die nationalsozialistische „Endlösung“ weitgehend vernichtet worden. Die Deutschen haben durch Flucht und Vertreibung ihre weit nach Osten reichenden Siedlungsgebiete verloren, und die durch diese Gewaltakte betroffenen Staaten büßten größtenteils ihre Souveränität ein.

War es die Unfähigkeit Österreich-Ungarns, eine für alle Völker Mitteleuropas befriedigenden Lösung zu schaffen, die die unbeilvolle Entwicklung herauf beschworen hat? War es das Hegemonialverhalten der Tschechen gegenüber Deutschen und Slowaken in der ersten Republik, das das friedliche Zusammenleben unmöglich machte? Waren es die tiefe Demütigung der Tschechen von seiten Nazi-Deutschlands und die große Enttäuschung durch die Slowakei Tisos, die die Wurzeln eines Zusammenlebens zerstörten? War es die aus dieser Demütigung heraus erfolgte Vertreibung der Deutschen, die einst auf Einladung der böhmischen Könige in das Land gekommen waren?

Der Vertreibung folgten Jahrzehnte einer haßerfüllten Trennung der Völker. Der Eiserne Vorhang verhinderte in dieser Zeit jedoch nicht nur ein Wiederanknüpfen von Beziehungen, sonder er verhinderte auch gegenseitige Schläge. Obwohl die Stationen des mitteleuropäischen Kreuzweges bekannt sind, bedarf es weiterer Überlegungen, um sich die Voraussetzungen der tschechisch-slowakisch-deutschen Nachbarschaft deutlich zu machen. Es geht um den Versuch, dem anderen in seinem Selbstverständnis zu begegnen.

Zaghafte Gegenstimmen
Es ist zu bezweifeln, daß eine Aufarbeitung dadurch erfolgen kann, daß Sudetendeutsche, Tschechen und Slowaken die Verantwortung für die schwersten Wunden, die sie einander geschlagen haben, auf dritte Machte schieben: die Sudetendeutschen und Slowaken auf Nazi-Deutschland und die Tschechen auf die Sowjetunion, Diesem Unternehmen stehen zu viele Beteiligte auf beiden Seiten entgegen. Es ist eine Tatsache: Der Anschluß der Sudetengebiete an Hitler-Deutschland und die Zerschlagung der Rest-Tschechoslowakei sind unter erheblicher sudetendeutscher Beteiligung erfolgt. Die zaghaften Gegenstimmen konnten sich kein Gehör verschaffen. Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 war nicht eine Maßnahme, die den Tschechen und Slowaken von außen aufgezwungen wurde, sie ist vielmehr von tschechischen Politikern vorbereitet, gefordert auch dann auch durchgeführt worden.

Selbst wenn diese Tatsachen nicht anerkannt werden, verbleibt noch immer Unverständnis über die Heftigkeit des wechselseitigen zerstörerischen Hasses in der jüngsten Vergangenheit.

Tschechen, die in der ersten Republik am Ringen um die Stellung der Deutschen innerhalb der Tschechoslowakei beteiligt waren, erschrecken angesichts der breiten Zustimmung der Sudetendeutschen zum Anschluß an einen Staat, dessen totalitäres, unmenschliches, antichristliches Wesen 1938 schon kein Geheimnis mehr sein konnte. Sie konnten nicht verstehen, daß die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Volksgruppen dazu dienen sollte, die Sudetendeutschen aus einer immer noch demokratischen Republik auszugliedern und in einen schon längst totalitären Staat einzureihen.

Offensichtlich hatten sie die Psychose, die durch den deutsch-tschechischen Volkstumskampf innerhalb des tschechoslowakischen Zentralstaates ausgelöst wurde, unterschätzt. Für die von dieser Psychose erfaßten Sudetendeutsehen wurden die ethnischen Fragen zum obersten Wert, dem alle anderen Werte wie Demokratie und Gerechtigkeit unterzuordnen waren. Entscheidend war, ob etwas dem Volkstum nützte oder nicht.

Der Zerfall der Rest-Tscliechoslowakei in einen deutschen Satellitenstaat Slowakei und in ein Reichsprotektorat Böhmen und Mähren erschien vielen Sudetendeutschen eher als eine auch Tschechen zumutbare Lösung denn als Vergewaltigung, die auf noch Schlimmeres angelegt war.

Die Perspekive, die sich den Tschechen unter deutscher Oberhoheit eröffnete, sah düsterer aus als die Perspektive der Deutschen innerhalb der ersten Republik. Während den Deutschen in der Vorkriegs-Tschechoslowakei ein vollständiges Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität zur Verfügung stand, wurden die tschechischen Hochschulen bald nach der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren geschlossen. Professoren und Studenten wurden verhaftet und auch getötet. Den Deutschen standen in der Tschechoslowakei zur Verteidigung ihrer Rechte alle Rechtsmittel eines demokratischen Staates zur Verfügung. Die Tschechen aber waren der NS-Willkür ausgesetzt.

Im Ringen um volkstumspolitische Positionen begünstigte allerdings der tschechoslowakische Staat eindeutig die tschechische Seite. Andererseits wußten sich die Sudetendeutschen in ihrem Volkstum gehalten und gestärkt vom benachbarten Deutschen Reich, so daß sie sich psychologisch in einer sehr viel günstigeren Position befanden als die Tschechen, die kein Reich im Rücken hatten, sondern befürchten mußten, daß im Falle ihrer geplanten Germanisierung durch Nazi-Deutschland das Tschechentum überhaupt von der Landkarte verschwinden würde.

Doppelte Demütigung
Gewiß war das Los der Tschechen unter der deutschen Herrschaft sehr viel leichter als zum Beispiel das Los der Polen. Sie hatten im Protektorat einen Rest an Staatlichkeit bewahren können, und ihre Versorgungslage war sogar besser als die im Reich. Verbitterung und Demütigung, die aus der Ohnmacht herrührten, wurden dadurch aber nicht geringer. Ja, die verhältnismäßig gute Versorgungslage verwehrte den Tschechen noch zusätzlich die Genugtuung des Märtyrertums und des nationalen Aufstandes. Das, was in den ersten Maitagen 1945 in Prag geschah, sprach dagegen, diesen Titel glaubwürdig für sich in Anspruch zu nehmen.

Die doppelte Demütigung, sowohl die von außen verursachte wie aber auch die, die aus dem Ausbleiben des Aufstandes resultierte, zeitigte auf seiten der Tschechen ein Gemisch von Haß und Nachholbedarf gegenüber den Deutschen, das sich nach 1945 über den Sudetendeutschen entlud. Die Zerstörung des jahrhundertelangen Zusammenlebens erschien total. Von den dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen verblieben nur einige zehntausend in der Heimat. Tausende von Opfern säumte die Vertreibungswege und kennzeichneten die Vertreibungslager. Durch die „Endlösung“ der Nationalsozialisten und durch die stalinistischen Massenverbrechen ist in Europa eine politische Kriminalität freigesetzt worden, die vor nichts und am wenigsten vor Verbrechen gegen Deutsehe haltmachte. Trotz allem aber rissen nicht alle Fäden zwischen beiden Völkern ab. Christen auf beiden Seiten, die mit oder ohne Schuld zwar das Unheil nicht verhindern konnten, besannen sich auf ihren Auftrag.

Praktische Solidarität
Jahrzehnte der Sowjetherrschaft über die Tschechoslowakei ließen den Wunsch zur Zugehörigkeit nach der westeuropäischen Völkerfamilie erstarken. Das Beispiel der deutsch-französischen Annäherung und Versöhnung ließ auch eine deutsch-tschechische Wiederannäherung als möglich erscheinen. Die praktische Solidarität machte am Eisernen Vorhang nicht halt. Das zeigte sich besonders im Jahr 1968. Die jahrzehntelange Zusammenarbeit tschechischer, slowakischer und deutscher Demokraten hatte unter oft konspirativen Bedingungen in einer kleinen, politisch aber bedeutsamen Schicht zu der Überzeugung geführt, daß man in Freiheit sowohl die Vergangenheit bewältigen wie auch die Zukunft gestalten kann.

Solange der gemeinsame Unterdrücker an der Macht war, traten die wechselseitigen Forderungen in den Hintergrund. Kaum lag der gemeinsame Feind am Boden, ging auch schon das Rechten miteinander wieder los. Die Dissidenten mußten schon nach kurzer Zeit die Schalthebel der Politik an gewendete Kommunisten oder Technokraten abgeben, die die subversive Annäherung mit den Deutschen während der kommunistischen Diktatur nicht vollzogen hatten. Havels Bekenntnis vom März 1990, die Vertreibung der Deutschen sei eine „zutiefst unmoralische Tat“, brachte ihm von seinen Landsleuten empfindlichen Widerspruch und von den Sprechern der Sudetendeutschen Landsmannschaft Wiedergutmachungsforderungen ein. Wieder einmal hatten sudetendeutsche Politiker die Herausforderung der Stunde verkannt. Sie scheinen politisches Geschehen mit einem juristischen Seminar zu verwechseln. Soll ein politischer Prozeß zur Entkrampfung führen, dann müssen sich die Akteure anstelle von Rechthaberei von der Rücksichtnahme auf das für den Partner zumutbare leiten lassen. Allerdings steht eine Erklärung, wie „eine zutiefst unmoralische Tat“ ein „legitim durch das Parlament angenommener Rechtsakt“ (so Havel am 12. Februar 1995) sein kann, bisher aus.

Die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Mai 2000 wiedergegebenen Erklärung von Ministerpräsident Klaus läßt hoffen, daß auch die tschechische Seite hier ein Problem sieht.

Es kann nicht darum gehen, das Unrecht der Vergangenheit – ganz gleich ob von oder an Deutschen, ob von oder an Tschechen, ob von oder an Slowaken begangen – zu verschweigen, zu beschönigen oder gar zu leugnen. Andererseits darf das Bekenntnis zur eigenen Schuld vom Partner, vom Gegenüber nicht zum Instrument einer Vergeltung gemacht werden. Wer den Weg der Aufrechnung beschreitet, verhindert das Zustendekommen einer europäischen Gemeinsamkeit. Wer den Weg des Verschweigens und Bestreitens begangenen Unrechts wählt, sabotiert das schwierige Vorhaben, ein Fundament für die Gemeinschaft der europäischen Nationen zu schaffen.

Viele Nachbarn Deutschlands, nicht nur östliche, haben auf die Wiedervereinigung Deutschlands mit Skepsis und Besorgnis reagiert. Gerade deshalb sind die positiven Stellungnahmen tschechischer und slowakischer Politiker so aufgefallen. Der Stellenwert, den Staatspräsiderit Väclav Havel den Beziehungen zu Deutschland beimißt, kam schon dadurch zum Ausdruck, daß seine erste Auslandsreise ihn nach Berlin und München führte. Polen war darüber eindeutig verärgert.

Havels Vertrauen in das demokratische Deutschland läßt ihm alle Pläne zur Schaffung eines Gegengewichtes in Europa als überflüssig erscheinen. „Deutschland kann so groß sein, wie es will, wenn es nur demokratisch ist.“ Aus dieser souveränen Haltung spricht auch ein neues nationales Selbstbewußtsein: nicht die Angst vor kultureller und wirtschaftlicher Kolonialisierung, sondern die Überzeugung, zur Partnerschaft fähig zu sein.

Leider wird das Kriterium der Zumutbarkeit in den Beziehungen zwischen Tschechen, Slowaken und Deutschen häufig mißachtet. Können wir wirklich annehmen, daß die Tschechen mit der weitverbreiteten Verharmlosung der Nazi-Vergehen in der Protektoratszeit einverstanden sind? Es geht nicht an, den Nazi-Terror im Protektorat durch den Hinweis zu verniedlichen, daß es den Polen noch viel schlechter ging. Können die Slowaken wirklich annehmen, daß die Tschechen den von Hitlers Gnaden entstandenen slowakischen Staat als die im Vergleich zur ersten Republik bessere Lösung hinnehmen? Können die Tschechen wirklich annehmen, daß die Sudetendeutschen die Vertreibung als eine angemessene Reaktion auf ihr Verhalten zwischen 1938 und 1945 akzeptieren? Welches Argument gibt es dann gegen ethnische Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien? Können die Tschechen wirklich annehmen, daß die Slowaken das Todesurteil gegen Präsident Tiso als ein gerechtes Urteil akzeptieren?

Die Reihe der von den einzelnen Nationen und Volksgruppen vertretenen Unzumutbarkeiten ließe sich erheblich erweitern. Es gibt aber auch mutige Initiativen, die allem Taktieren und Egoismus zum Trotz auf die grenzüberwindende Kraft von Solidarität und Liebe setzen. Wenn heimatvertriebene Pfarrgemeinden sich um die Renovierung ihrer Heimatkirche bemühen, wenn Patenschaften zwischen Pfarreien und Diözesen entstehen, wenn die Bischofskonferenzen der drei Länder zusammenkommen, wenn ein Jugendaustausch nach dem Modell des deutsch-französischen Jugendwerkes eingeleitet wird, dann sind dies alles Schritte in die richtige Richtung.

Quelle: ISBN 3-87336-015-2 Gerhard Hess Verlag Ulm 2000