Adolf Hampel
DIE TSCHECHOSLOWAKEI UND DIE DEUTSCHE FRAGE IN EUROPA

Wir stehen wieder an einem Knotenpunkt der Geschichte Mitteleuropas. Die Karten sind neu gemischt und sie werden verteilt.

So sehr die Völker Mitteleuropas mit Westeuropa verbunden sind, weisen sie doch spezifische Aspekte auf. Ein prägender Faktor dieser Region war die nationale Durchlässigkeit der Kulturräurne, die national-plurale Genese und Zusammensetzung ihrer Kulturzentren. Prag und Brünn sind viel weniger als London, Paris, Madrid als Resultat der Kulturanstrengung einer einzigen Nation zu verstehen. Tschechen, Slowaken, Juden, Ungarn, Deutsche und andere haben Jahrhunderte hindurch sich wechselseitig beeinflußt. Die Juden sind durch die nationalsozialistische Endlösung weitgehend vernichtet worden. Die Deutschen haben durch Flucht und Vertreibung ihre weit nach Osten reichenden Siedlungsgebiete verloren, und die durch diese Gewaltakte betroffenen Staaten hatten weitgehend ihre Souveränität eingebüßt.

Die Völker dieser Region verfielen in unserem Jahrhundert dem Irrtum von der Teilbarkeit der Menschenrechte. Sie meinten, die eigenen Rechte ließen sich wahren und verteidigen, während die Rechte des Nachbarn, der anderen Religion oder des anderen Volkes verletzt werden könnten. Können wir es uns leisten, daß die Katastrophenerfahrungen, die die Völker miteinander gemacht haben, immer wieder im Sand der Geschichte versickern? Tschechische Christen innerhalb der Charta 77 sind sich der Unteilbarkeit der Menschenrechte bewußt geworden. In einer schonungslosen Analyse ihrer Situation kommen sie zu dem Schluß: „Die Zukunft des tschechischen Katholizismus ist von einem Dilemma abhängig: Gehen wir künftig den Weg der Verteidigung aller, die ungerecht verfolgt werden, ohne Rücksicht auf ihre weltanschauliche Überzeugung oder wiederholen wir die alten Fehler, indem wir uns um die Rechte der Kirche kümmern und uns die Rechte derer, die draußen sind, nicht interessieren.“

Eingedenk der Unteilbarkeit der Menschenrechte war es aberwitzig, von uns Deutschen zu meinen, das moralische bzw. das unmoralische Koordinatensystem eines Volkes halte es aus, einerseits die jüdischen Mitbürger zu berauben, zu verjagen, zu töten und andererseits die Rechte der rechtschaffenen arischen deutschen Bürger unangetastet zu lassen. Hitler standen aber schließlich auch die Rechte der arischen Volksgenossen – ganz konsequent – zur Disposition. Ebenso unsinnig war es von den Tschechen und Polen zu glauben, in ihrem Staat könnten Millionen Deutsche für zwei bis drei Jahre vogelfrei erklärt, enteignet, erschlagen oder vertrieben werden, ohne daß darunter die Rechte der rechtschaffenen Polen oder Tschechen leiden müßten. Wer solche Operationen betreibt oder hinnimmt, der muß sich schon das System eines Hitler oder eines Stalin überantworten.

Es war der unchristliche Geist des Revanchismus, der Mitteleuropa den Todesstoß versetzt hat. Die Maßnahmen der Tschechen und Polen mögen nach den Untaten Hitlers als Reaktion interpretiert werden, sie richteten sich nichtsdestoweniger gegen die Fundamente Europas, gegen die Menschenrechte. Die kommunistische Machtergreifung war danach nur noch die Besiegelung des Ausstiegs aus Mitteleuropa.

Kein Pole, kein Tscheche, kein Deutscher sollte jedoch meinen, das Pochen auf die Menschenrechte und das Pochen auf ein Eingeständnis begangener Verbrechen könne und dürfe ein Instrument für erneute Bevölkerungsverschiebungen sein. Verantwortliche Vertreter der Bundesrepublik Deutschland haben in Verträgen und Erklärungen festgestellt, daß wir keine Gebietsansprüche haben, noch stellen werden. Die Grenzen der Tschechoslowakei sind dabei überhaupt nicht in die Diskussion hineingezogen worden. Denn es wäre wohl merkwürdig, sich unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen für das Münchner Abkommen einzusetzen, durch das wir Sudetendeutsche einem System eingegliedert wurden, welches das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung schon in einem radikalen Sinn abgeschafft hatte. Im Vergleich zu Nazi-Deutschland muß die CSR von 1938 trotz aller Mängel noch als demokratischer Rechtsstaat bezeichnet werden.

Das Bekenntnis, daß die Vertreibung der Deutschen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war, wird nach 40 Jahren keine Grundlage erneuter Völkerverschiebungen sein können. Es wird aber zur Wiederherstellung des Wertesystems „Mitteleuropa“ unerläßlich sein.

Mitteleuropa ist mehr als andere Teile des Globus in die Mühlen der totalitären Regimes unseres Jahrhunderts hineingezogen worden. Es ist von diesen Mühlen zermahlen worden. War es nur Opfer oder nicht auch Täter? Sicher waren nicht alle in gleicher Weise Opfer wie Täter. Um die Verteilung der Opfer- und Tatanteile entsteht immer wieder neuer Streit.

Das gilt besonders für das Herz Europas, für das Gebiet, das im Mittelpunkt unserer heutigen Überlegungen steht. War es die Unfähigkeit Österreich-Ungarns, eine für alle Völker Mitteleuropas befriedigende Ordnung zu schaffen, die die unheilvolle Entwicklung heraufbeschworen hat? War es das Hegemonialverhalten der Tschechen gegenüber Deutschen und Slowaken in der ersten Republik, das das friedliche Zusammenleben unmöglich machte? War es die tiefe Demütigung der Tschechen von seiten Nazi-Deutschlands, die die Wurzeln eines Zusammenlebens zerstörte? War es die aus dieser Demütigung heraus erfolgte Vertreibung der Deutschen, die einstens auf Einladung der böhmischen Könige in das Land gekommen waren?

Der Vertreibung folgten Jahrzehnte einer haßerfüllten Trennung beider Völker. Der Eiserne Vorhang verhinderte in dieser Zeit nicht nur ein Wiederanknüpfen von Beziehungen, sondern er verhinderte auch weitere gegenseitige Schläge.

Die Eskalation an Feindlichkeit steht mir im Schicksal eines Jugendfreundes deutlich vor Augen. Franz Schuster, der aus einer deutsch-tschechischen Mischehe stammte, durfte als einziger in unserem Dorfe bei Troppau verbleiben. Nationalbedingte Bevorzugung und Benachteiligung im Vergleich zu den übrigen Dorfbewohnern wechselte mehrmals in seinem Leben. In der ersten Tschechoslowakischen Republik gehörte die tschechisch-deutsche Mischfamilie Schuster zu den geringfügig Bevorzugten. Von 1938 bis 1945 zu den national Unzuverlässigen, von 1945 bis 1948 zu den erheblich Bevorzugten und später nach der kommunistischen Machtergreifung 1948 zu den erheblich Benachteiligten. So sehr diese Wechselbäder Franz eine Außenseiterrolle aufzwängten, so war er doch einer von uns. Mit ihm ist der letzte Rest von Dorftradition und Dorfkontinuität gestorben. Wenn die Dentschen Franz ärgern wollten, nannten sie ihn Frantischek. Wenn wiederum die Tschechen ihm eins auswischen wollten, hieß er Franz. Bei einem Besuch in Klein-Herlitz 1966 bekannte er mir: „Man wird mir nie verzeihen, daß ich Deutscher bin.“ Ich versuchte, den Freund zu trösten – umsonst. Immer länger mußte ich in den folgenden Jahren warten, bis er Briefe beantwortete. Seine Frau übernahm dies schließlich. Sie deutete an, daß ihr Mann Trost im Alkohol suche. Im Vorjahr bekam ich die kurze Mitteilung auf einer Karte, da hieß es, am 2. November 1988 haben sie Franz Schuster aus dem Teich gezogen. Ob der Tod im Dorfteich von Franz gesucht wurde oder ob es ein Unfall war, wurde nicht geklärt. Obwohl die Stationen des mitteleuropäischen Kreuzweges bekannt sind, bedarf es weiterer Überlegungen, um sich die Voraussetzungen der deutsch-tschechischen Nachbarschaft deutlich zu machen. Es geht um den Versuch, dem Gegenüber in seinem Selbstverständnis zu begegnen.

Ich zweifele daran, daß eine Aufarbeitung dadurch erfolgen kann, daß Sudetendeutsche und Tschechen die Verantwortung für die schwersten Wunden, die einander geschlagen wurden, auf dritte Mächte abschieben: Die Sudetendeutschen auf Nazi-Deutschland und die Tschechen auf die Sowjetunion.

Diesem Unternehmen stehen zuviel Beteiligte auf beiden Seiten entgegen. Es ist eine Tatsache: Der Anschluß der Sudetengebiete an Hitler-Deutschland und die Zerschlagung der Rest-Tschechoslowakei ist unter erheblicher sudetendeutscher Beteiligung erfolgt. Die zaghaften Gegenstimmen konnten sich kein Gehör verschaffen.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 war nicht eine Maßnahme, die den Tschechen von äußeren Mächten aufgezwungen wurde, sie ist vielmehr von tschechischen Politikrn vorbereitet, gefordert und dann auch durchgeführt worden. Die zaghaften Gegenstimmen konnten sich kein Gehör verschaffen.

Selbst wenn diese Tatsachen anerkannt werden, verbleibt noch immer ein erhebliches Maß an Unverständnis über die Heftigkeit des wechselseitigen zerstörerischen Hasses in der jüngsten Vergangenheit.

Tschechen, die in der ersten Republik am Ringen um die Stellung der Deutschen innerhalb der Tschechoslowakei beteiligt waren, waren schockiert von der breiten Zustimmung der Sudetendeutschen zum Anschluß an einen Staat, dessen totalitäres, unmenschliches, antichristliches Wesen 1938 schon kein Geheimnis mehr sein konnte. Sie konnten nicht verstehen, daß die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Volksgruppen dazu dienen sollte, um die Sudetendeutschen aus einer immer noch demokratischen Republik auszugliedern und in einen schon längst totalitären Staat einzureihen.

Offensichtlich hatten sie die Psychose, die durch den deutsch-tschechischen Volkstumskampf innerhalb des tschechoslowakischen Zentralstaates ausgelöst wurde, unterschätzt. Für die von dieser Psychose erfaßten Sudetendeutsehen wurden die ethnischen Fragen zum obersten Wert, dem alle anderen Werte, wie Demokratie und Gerechtigkeit, unterzuordnen waren. Entscheidend war, ob etwas dem Deutschtum nutzte oder nicht.

Der Zerfall der Rest-Tschechoslowakei in den deutschen Satellitenstaat Slowakei und in ein Protektorat Böhmen und Mähren erschien vielen Sudetendeutschen eher als eine auch Tschechen zumutbare Lösung denn als eine Vergewaltigung, die auf noch Schlimmeres angelegt war.

Die Perspektive, die sich den Tschechen unter deutscher Oberhoheit eröffnete, sah düster aus. Sehr viel düsterer als die Perspektive der Deutschen innerhalb der ersten Republik. Während den Deutschen in der Vorkriegs-Tschechoslowakei ein vollständiges Bildungssystem vom Kindergarten bis einschließlich zur Universität zur Verfügung stand, wurden die tschechischen Hochschulen bald nach Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren geschlossen. Führende Professoren und Studenten wurden verhaftet. Den Deutschen standen in der Tschechoslowakei zur Verteidigung ihrer Rechte alle Rechtsmittel eines demokratischen Staates zur Verfügung, die Tschechen aber waren der NS-Willkür ausgesetzt.

Im Ringen um volkstumspolitische Positionen begünstigte allerdings der tschechoslowakische Staat eindeutig die tschechische Seite. Andererseits wußten sich die Sudetendeutschen in ihrem Volkstum gehalten und gestärkt vom benachbarten Deutschen Reich, so daß sie sich psychologisch in einer sehr viel günstigeren Position befanden als die Tschechen, die ihrerseits angesichts der Germanisierungspläne Nazi-Deutschlands kein tschechisches Reich im Rücken hatten, sondern befürchten mußten, daß im Falle ihrer Germanisierung das Tschechentum überhaupt von der Landkarte verschwindet. Es sind ganz ähnliche Ängste, die heute die Balten umtreiben. Sollte Estland, Lettland und Litauen zu Ende russifiziert werden, dann wird es diese Völker nicht mehr geben. Die Mahnungen der Westeuropäer an die Balten, es Gorbatschow nicht zu schwer zu machen und mit ihren nationalen Forderungen zu warten, sind aus gesicherter westlicher Position leicht zu äußern. Die Balten wiederum meinen, sie haben keine Zeit zu verlieren, um ihre Völker vor dem Untergang zu bewahren.

Gewiß war das Los der Tschechen in der Zeit der deutschen Beherrschung sehr viel leichter als z.B. das Los der Polen. Sie hatten im Protektorat einen Rest an Staatlichkeit bewahren können und ihre Versorgungslage war streckenweise sogar besser als die im Reich.

Verbitterung und Demütigung, die aus der Ohnmacht resultierten, wurden dadurch aber nicht geringer. Ja, die verhältnismäßig gute Versorgungslage verwehrte den Tschechen noch zusätzlich die Genugtuung des Märtyrertums und des nationalen Aufstandes. Das, was in den ersten Mai-Tagen 1945 in Prag geschah, konnte diesen Titel kaum glaubwürdig für sich in Anspruch nehmen.

Die doppelte Demütigung, sowohl die von außen verursachte, als aber auch die, die aus dem nicht erfolgten Aufstand resultierte, zeitigten auf seiten der Tschechen ein Gemisch von Haß und Revanchismus, das sich nach 1945 über die Sudetendeutschen entlud. Die Zerstörung des jahrhundertelangen Zusammenlebens erschien total. Von den dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen verblieben nur einige Zehntausende in der Heimat. Tausende von Opfern säumten die Vertreibungswege und kennzeichneten die Vertreibungslage. Trotz allem aber rissen nicht alle Fäden zwischen beiden Völkern ab. Christen auf beiden Seiten, die mit oder ohne Schuld zwar das Unheil nicht verhindern konnten, besannen sich auf ihren Auftrag. Jahrzehnte der Sowjetherrschaft über die Tschechoslowakei ließen den Wunsch zur Zugehörigkeit zur westeuropäischen Völkerfamilie erstarken. Das Beispiel zum Westeuropa der deutsch-französischen Annäherung und Versöhnung ließ auch eine deutsch-tschechische Wiederannäherung als möglich erscheinen. Die praktische Solidarität machte am Eisernen Vorhang nicht halt. Das zeigte sich besonders im Jahre 1968.

Tschechen und Deutsche haben einander lebensgefährliche Wunden geschlagen. Diese Erkenntnis und dieses Bekenntnis muß am Beginn einer neuen Zusammenarbeit stehen. Im Bewußtsein dieser leidvollen Vergangenheit sollten einige Punkte in ihrer Destruktivität für die Beziehungen erkannt werden: Dazu gehören die Fragen um die Grenze und um den Besitzstand.

Gott sei dank gibt es keine ähnlich Grenzdiskussion zwischen der CSFR und Deutschland wie zwischen Polen und Deutschland. Die Nichtigkeit des Münchner Abkommens ist wohl von allen Beteiligten anerkannt worden. Anders als zu Polen gehören zur CSFR keine ehemaligen deutschen Reichsgebiete.

Etwas anders ist die Situation in der Frage des Besitzstandes. Es werden Stimmen nach Entschädigung oder Rückgabe verlorenen Vermögens laut. Ich halte derartige Forderungen für äußerst unheilvoll. Wenn wir mit diesen Aufrechnungen anfangen, werden wir an kein Ende kommen. Die Aufrechnungen drohen aber, die positiven Impulse, die durch die wiedergewonnene Freiheit ausgelöst wurden, im Keime zu ersticken.

Wir werden den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht, wenn wir auf die Rückkehr der Völker nach Europa mit Rechnungserstellungen reagieren. Es könnte uns mit gleicher Münze zurückgezahlt werden.

Die Wiederherstellung des Rechts in einem geschichtlichen Prozeß – 50 Jahre nach Einbruch der totalen Unrechtssysteme des Nationalsozialismus und des Stalinismus – kann nicht durch die bloße Wiederherstellung des Status quo ante geschehen. Andererseits kann es ohne Gerechtigkeit keinen dauerhaften Frieden geben. Nach Thomas von Aquin gehört zur Gerechtigkeit das Bedenken der Folgen für alle Betroffenen. Das Bedenken der Begleitumstände. Es dürfe auch nichts verlangt werden, was die menschliche Würde verletzt; auch nichts Unerfüllbares dürfe gefordert werden. Die Wiederherstellung des Rechts als eine Wiederherstellung des Status quo ante kann nicht den unaufgebbaren Grundsatz „opus iustitiae pax“, das Werk der Gerechtigkeit ist der Friede, für sich beanspruchen. Für ein so verstandenes Postulat trifft eher der makabere Satz zu: „Fiat iustitia, pereat mundus“ – es möge Gerechtigkeit geschehen, und wenn die Welt zugrunde gehe.

Auch Thomas von Aquin kennt die Grenzen der Gerechtigkeit, indem er annimmt, daß es Schuldverhältnisse geben könne, in denen der Mensch dem anderen das Zustehende zu leisten vermag. „Durch Gebote der Gerechtigkeit allein den Frieden unter den Menschen wahren zu wollen, ist unzulänglich, wenn nicht unter ihnen die Liebe Wurzeln schlägt“ (Contra gentiles 3, 130).

Den einzig gangbaren Weg durch das wechselseitig schuldverstrickte Gestrüpp haben die polnischen Bischöfe in ihrem Brief an ihre deutschen Amtsbrüder im Jahre 1965 genannt: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Die christliche Botschaft hat auch heute noch die Kraft, Schuld zur erlösenden Schuld, zur felix culpa werden zu lassen. Die angewachsene gegenseitige Schuld zwischen den Völkern Europas birgt unter der Voraussetzung der gegenseitigen Vergebung die Verheißung in sich, zur Kraft zu werden, die den bedrückenden Status quo überwindet.

Es kann jedoch nicht darum gehen, das Unrecht der Vergangenheit – ganz gleich, ob von oder an Deutschen, ob von oder an Russen, ob von oder an Polen begangen – zu verschweigen, zu beschönigen oder gar zu leugnen. Andererseits darf das Bekenntnis zur eigenen Schuld vom Partner, vom Gegenüber nicht zum Instrument einer Rückzahlung gemacht werden. Wer den Weg der Aufrechnung beschreitet, kann sicher sein, daß er damit am wirksamsten das Zustandekommen einer europäischen Gemeinsamkeit verhindert. Wer den Weg des Verschweigens und Bestreitens begangenen Unrechts wählt, sabotiert das schwierige Vorhaben, ein tragfähiges Fundament für die Gemeinschaft der europäischen Nationen zu schaffen.

Für die Gestaltung der Zukunft Mitteleuropas wird der tschechoslowakische Beitrag von großer Bedeutung sein.

Entscheidende Faktoren für das künftige Koordinatensystem Mitteleuropas sind heute selbst in einem tiefgehenden Wandlungsprozeß begriffen: Deutschland und die Sowjetunion. Für die Tschechoslowakei sind deshalb die Vorgänge in beiden Ländern von eminenter Wichtigkeit.

Viele Nachbarn Deutschlands, nicht nur östliche, haben auf die Aussicht, es bald mit einem wieder vereinten Dentschland zu tun zu haben, mit Skepsis und Besorgnis reagiert. Gerade deshalb sind die positiven Stellungnahmen tschechoslowakischer Politiker so aufgefallen. Der Stellenwert, den Präsident Havel den Beziehungen zu Deutschland beimißt, kam schon dadurch zum Ausdruck, daß seine erste Auslandsreise ihn nach Berlin und München führte. Polen war darüber eindeutig verärgert.

Havels Vertrauen in die demokratische Option Deutschlands läßt ihn alle Pläne zur Schaffung eines Gegengewichts in Europa als überflüssig erscheinen. „Deutschland kann so groß sein, wie es will, wenn es nur demokratisch ist.“ Aus dieser souveränen Haltung spricht auch ein neues nationales Selbstbewußtsein. Nicht die Angst vor kultureller oder wirtschaftlicher Kolonialisierung, sondern die Überzeugung, zur Partnerschaft fähig und in der Lage zu sein, spricht aus dieser Haltung.

Für die tschechisch-deutsche Zusammenarbeit gibt es auf vielen Gebieten reiche Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit wie auch gute Voraussetzungen in der Gegenwart. Ganz anders sieht das Verhältnis zum bestimmenden östlichen Nachbarn, zur Sowjetunion, aus: Die Angst vor einer Germanisierung und die Niederlage des Bündnisses mit den westlichen Demokratien in München 1938 veranlaßte die Tschechen, in einem Bündnis mit Rußland das Heil zu suchen. Die Sowjetisierung der Nachkriegszeit, die Unterdrückung der Reformen von 1968 haben jedoch dem Vertrauen zu Rußland einen Todesstoß versetzt. Heute ist die Tschechoslowakei an einer Demokratisierung der Sowjetunion brennend interessiert. Trotz ihrer exponierten geopolitischen Lage engagiert sich die neue tschechoslowakische Führung in der Unterstützung der demokratischen Kräfte in der Sowjetunion. Vaclav Havel bot Verrnittlerdienst im sowjetisch-litauischen Streit an. Der litauische Präsident Landsbergis weilte vor kurzern in Prag zu einem Besuch.

Der gegenwärtigen tschechoslowakischen Führung ist die Erfahrung noch ganz frisch, daß die Unterstützung der Demokratie häufig an Opportunitätserwägungen scheitert. Es waren unter anderem auch westdeutsche Politiker, die in den vergangenen Jahren bei Besuchen in Prag den Kontakt mit Dissidenten, d. h. mit der demokratischen Opposition, vermieden, aus der Befürchtung, dadurch die Sympathie der Machthaber zu riskieren.

Es steht außer Zweifel, daß die Tschechoslowakei mit einer demokratischen Sowjetunion enge Beziehungen haben wird. Erst dann wird sie ihre Mittler-Stellung zwischen Ost und West voll zum Zuge bringen können.

Die heutige Grundoption der Tschechoslowakei heißt Demokratie und Europa. Aus dieser Grundoption ergibt sich die Bedeutung, die den christlichen Kirchen beigemessen wird. Die Jahrzehnte der Unterdrückung der Demokratie haben gezeigt, wie unersetzlich die Kirche als Kristallisationspunkt der antitotalitären Kräfte ist. Auch den Machthabern war das klar. Deshalb versuchten sie, die Kirche zu spalten, zu schwächen, zu diskreditieren. Sie waren nicht ohne Erfolg. Anders als in Polen konnte der Katholizismus in Böhmen und Mähren nie eine Identifizierung von Nation und Kirche erreichen. Die nationalen Renaissancen sind bei den Tschechen mehrmals gegen die katholische Kirche geschehen: So in der hussitischen Bewegung, so in der Reformation, so bei der Gründung der ersten Republik. Die kommunistischen Kirchenkämpfer konnten an diese Stationen anknüpfen.

Ihr Kirchenkampf, der auch gleichzeitig ein Kampf gegen Freiheit und Demokratie war, hat es aber fertiggebracht, daß Nation und Kirche nun doch wieder enger zusammenrückten. Priester und Laien wurden zu Symbolgestalten des demokratischen Widerstandes. Allen voran der greise Kardinal Tomaschek, aber auch Priester und Laien wie Vaclav Maly, Josef Zverina, Dana Nemcova, um nur einige zu nennen.

Als ich am 3. Dezember 1989 am Wenzelsplatz mitdemonstrierte, hing an der Statue des heiligen Wenzel ein Transparent mit der Aufschrift:

    Die neue Republik

    Der Kopf: Komarek
    Das Herz: Havel
    Die Seele: Maly.


Vaclav Maly aber ist ein damals amtsbehinderter katholischer Priester, der nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft Seelsorger von Sankt Gabriel in Prag-Smichov wurde. (Später war er Pfarrer von St. Anton und heute ist er Weihbischof in Prag). Vaclav Havel wußte, was die neue Demokratie der Kirche zu verdanken hat. Deshalb erging seine erste Einladung an ein ausländisches Staatsoberhaupt an den Papst. Sein Besuch in Prag, Velehrad und Preßburg ließ die Wunden vergessen, die die jahrzehntelange Unterdrückung der Kirche zugefügt hatte.

Die tausendjährige Nachbarschaft von Tschechen und Deutschen birgt einen Schatz in sich, der zum Fundament des „gemeinsamen Hauses Europa“ gehört. Jede Begegnung von auch noch so bescheidenem Niveau erwartet von uns mehr Einsicht und Verständnis für die tatsächlichen Probleme, Ängste und Sehnsüchte, fordert von uns einen größeren Einsatz für zukunftsbezogene Entwicklungen als billige Zerknirschung vor grandiosen Denkmälern.

Glasnost (wörtliche Bedeutung: Stimmhaftigkeit) ist das Gegenteil von Stummheit. Sind wir aber nicht mit unseren beschämend geringen Kenntnissen der Geschichte und der Sprachen unserer slawischen Nachbarn immer noch die Stummen, die Njemzi, wie die Deutschen bei allen Slawen heißen? Eine einseitige Fixierung auf den angelsächsischen Raum hat uns dem Osten gegenüber weitgehend gesprächsunfähig gemacht. Mit welchem Recht erwarten wir von Russen, Ukrainern, Polen, Tschechen, daß sie zwar Deutsch, wir aber nicht ihre Sprache lernen sollen? Wo finden Sie z.B. in der Bundesrepublik Schulen, deren Unterrichtssprache Polnisch oder Tschechisch wäre? Schon oft bin ich mit Reisegruppen in Schulen Osteuropas von den Schülern mit deutschen Balladen begrüßt worden. Wo könnten wir mit ähnlichen Leistungen aufwarten? Hier liegen wir mit unserer Stimmhaftigkeit – Glasnost – weit hinter der unserer slawischen Nachbarn zurück.

(Vortrag am „44. Internationalen Kongreß in Königstein“ 1994)
Nach der Wiedergabe in ISBN 3-87336-015-2. Gerhard Hess Verlag Ulm 2000.