Rudolf Grulich
SUDETENDEUTSCHE UND TSCHECHEN
Basis und Perspektiven der Versöhnung
Als sich Anfang 1990 Vaclav Havel bei den Sudetendeutscheu für das Unrecht der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Vertreibung entschuldigte, stieß er bei seinen Landsleuten nicht nur auf Zustimmung. Vier Jahre später fordern manche Tschechen sogar, ihr Präsident solle diese Entscheidung wieder zurücknehmen.

Was an praktischer Versöhnungsarbeit vor Ort zwischen Sudetendeutschen und Tschechen seit 1990 geleistet wurde, ist nicht zu überschätzen. In einer „Diplomatie von Mensch zu Mensch“ nutzten an der Basis Menschen beider Völker viele Gelegenheiten, durch Gespräche, Begegnungen und Hilfe alte Vorurteile abzubauen und die Annäherung zu fördern. Vertriebene Sudetendeutsche renovierten zahlreiche Kirchen, Kapellen und andere sakrale Bauwerke ihrer alten Heimat. Tschechen und Deutsche trafen sich immer wieder zu gemeinsamen Gottesdiensten und Wallfahrten in verschiedeneu Pilgerorten und Klöstern Böhmens und Mährens. Sie betonten dabei die Gemeinsamkeiten und stellten sich gemeinsame Ziele, um bei deren Verwirklichung praktisch zusammenzuarbeiten.

Dabei gab es auch Rückschläge auf beiden Seiten: Manche Sudetendeutschen taten und tun bis heute, als hätte es Hitler und die Verbrechen des Nationalsozialismus in der Tschechoslowakei nicht gegeben, aber auch manche Tschechen verhielten und verhalten sich so, als wären nicht über drei Millionen Sudetendeutsche mit Gewalt ihrer angestammten Jahrhunderte alten Heimat beraubt worden.

Erbe und Zukunft
Unter den vielfältigen Aktionen und Begegnungsprogrammen in der Tschechoslowakei bzw. seit 1993 in der Tschechischen Republik und in der Slowakei ist ein Projekt zu nennen, das 1991 unter dem Titel „Erbe und Zukunft“ entstand und dessen Zielsetzung die Wiederbelebung deutscht-schechischer und deutsch-slowakischer Kulturtradition ist. Es führte in den Herbstmonaten der Jahre 1991 und 1992 Theaterschaffende, Musiker, Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Dramatiker und Historiker beider Länder durch zwanzig Städte der Tschechoslowakei. 1992 wurde auch das Thema „Kirche im Dienst der Versöhnung“ aufgenommen und im Jahre 1993 weitergeführt, wobei der Verfasser dieser Zeilen in einem Dutzend von Städten der Tschechischen Republik, 1992 auch in der Slowakei, zu diesem Thema referieren konnte.

Zielsetzung des Projektes war es, einen Beitrag zu dem für Deutsche, Tschechen und Slowaken bedeutenden Schritt zu friedlicher und versöhnlicher Nachbarschaft zu leisten. „Unsere Projekttätigkeit in den Jahren 1991 und 1992 hat gezeigt, daß das Interesse in breiten Schichten der Bevölkerung die Möglichkeit bietet, die deutsche kulturelle Tradition auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik wiederzubeleben“, erklärte Dusan Parisek aus Ellwangen, der Leiter des Projektes, bei der Eröffnung der Aktion 1993 im Prager Waldsteinpalais. „So kann die deutsche Kultur dieser Länder an ihre ursprüngliche Bedeutung als integrativer Bestandteil der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in den Regionen Böhmen, Mähren und Schlesien herangeführt werden.“ Das Ziel eines solchen Prozesses sei der Dialog, und zwar der Dialog mit der ansässigen Bevölkerung, also letzten Endes der auf einem neuen grenzübergreifenden Konsens fußende Dialog zwischen zwei sich über Jahrzehnte hinweg getrennt entwickelnden Völkern, deren einstige symbiotische Koexistenz wieder zur fruchtbaren Basis der Annäherung der Völker Mitteleuropas werden soll.“ In diesem Zusammenhang crwachse den Kulturschaffcnden beider Völker die Verpflichtung, der Politik einen Schritt voraus zu sein, um durch die gemeinsam über die deutsch-tschechische Grenze hinweg formulierte Botschaft der Verständigung auch dem Letzten die Berührunsängste zu nehmen und zum Dialog herauszufordern. Ein weiterer Bestandteil des Austausches müsse nach Pariseks Worten aber auch das Wirken der Kirche sein, stelle sie doch seit Jahrhunderten ein vermittelndes Glied zwischen beiden Nationen dar.

Die Rolle der Kirche in einem religionsfernen Land
Da in Böhmen (weniger in Mähren) nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sich noch zur Kirche bekennt, war Information über die Kirche in der Vergangenheit der Völker ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Neben den Vorträgen geschah dies auch durch eine Foto-Ausstellung „Ein Tag im Kloster Seelau“, die im Rahmen der Eröffnung des Projektes 1993 in den Räumen des Prager Kulturministeriums im Waldsteinpalais gezeigt wurde. Das Anliegen der Photographien von Silke Mähler und der Textbeiträge von Dr. Jaroslav Sonka war es, aufzuzeigen, wie tief die Furchen sind, die die Politik des vergangenen Regimes in den letzten 45 Jahren in dieses Land gerissen hat – und auch, daß es Deutschen und Tschechen gemeinsam gelingen kann, das Erbe vergangener Jahrzehnte zu bewältigen.

An der Eröffnung der Ausstellung im Waldsteinpalais nahmen Abt Vit Tajovsky von Seelau (Zeliv), Vertreter der Deutschen Botschaft in Prag, des Bonner Innenministeriums, des Prager Kultusministeriums sowie Wissenschaftler und Künstler aus beiden Ländern teil. Das Musikensemble „Nova Ceska Pisen“ (Neues tschechisches Lied) aus Pilsen umrahmte die Feier mit Darbietungen alter liturgischer Musik, aber auch neuen Kompositionen des sudetendeutschen Komponisten Widmar Hader aus Regensburg.

Während 1992 die Außenministerien in Prag und Bonn die Schirmherrschaft übernommen hatten, waren es 1993 die Außenminister Zielienec und Kinkel persönlich.

Das Kloster Seelau bot ein treffendes Beispiel für die Tradition mitteleuropäischer Zusammengehörigkeit in diesem Raum: 1139 wurde Seelau als Benediktinerkloster gegründet, aber schon 1149 von den Söhnen des heiligen Norbert, den Prämonstratensern, übernommen. Sie kamen aus dem deutschen Steinfeld, während die ersten Benediktiner aus dem vom heiligen Prokop gegründeten slawischen Kloster Sazava gekommen waren. So stehen Tschechen und Deutsche an der Wiege des Klosters Seelau, denn auch der tschechische Gründer Herzog Sobeslav war den Deutschen auf besondere Weise verbunden: durch seine deutsche Frau Adelheid. Ihrer beider Initialien A und S finden sich im Wappen des Klosters. So ist Seelau wie viele andere Klöster dieses Raumes von Anfang an ein mitteleuropäisches Kloster gewesen und behielt diese Bedeutung bis zum Klostersturm 1950, dessen Folgen das Kloster heute, nach der Wiederbesiedlung, bewältigen muß.

Keine Kenntnisse der Vergangenheit
Ob in Reichenberg oder Olmütz, Trebitsch oder Königgrätz, in Mährisch Schönberg oder Troppau – überall mußte man in der Diskussion nach den Vorträgen feststellen, wie wenig bekannt die gemeinsame Kirchengeschichte von Deutschen und Tschechen im böhmisch-mährisch-schlesischen Raum ist. Dabei hatte schon seit 1988 der verstorbene Prager Kardinal und Erzbischof Frantisek Tomasek mit seinem „Jahrzehnt der Geistlichen Erneuerung“ Wege gewiesen, wie im Geiste des heiligen Prager Bischofs Adalbert und der Heiligen aus dem böhmisch-mährischen Raum eine neue Nachbarschaft möglich sei. Gerade die Heiligen dieses Raumes sind immer völkerverbindend gewesen, das zeigt sich am heiligen Adalbert von Prag ebenso wie beim heiligen Klemens Maria Hofbauer aus Südmähren oder dem heiligen Johann Nepomuk Neumann aus dem Böhmerwald.

Auch der Gründer des in Böhmen-Mähren traditionsreichen Prämostratenserordens ist ein zutiefst europäischer Heiliger: Der heilige Norbert führt seinen Namen „von Xanten“ nach seiner Heimat am Niederrhein. Seinen Orden gründete er in Premontre in Frankreich. Als Erzbischof wirkte er in Magdeburg, wo er auch starb und von wo seine Gebeine 1627 nach Prag überführt wurden. Es ist auch Tschechen wenig bekannt, daß dieser deutsche Heilige vom Prager Kardinal Harrach zu einem der Patrone Böhmens proklamiert wurde.

Noch weniger Kenntnisse gibt es über dieses Jahrhundert. Die nach 1945 Geborenen haben nichts über die Vertreibung erfahren, und wenn, dann Propaganda. Auch Tschechen der mittleren Generation staunen, daß über drei Millionen Sudetendeutsche seit 800 Jahren im Land lebten, nicht nur einige wenige, die Adolf Hitler 1938 nach dem Münchner Abkommen ins Land brachte.

Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit
Und doch wird der Referent, der heute in Tschechien über Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen spricht, mit der Vergangenheit ständig konfrontiert. In manchen Städten waren verbliebene Sudetendeutsche die Mehrzahl der Zuhörer und Gesprächspartner bei der Diskussion, in anderen Städten meldeten sich Tschechen zu Wort, die Familienmitglieder durch Nazi-Terror und Hinrichtungen verloren hatten. Es gab Unterschiede, ob die Veranstaltungen in Kulturhäusern, Theatern oder Kirchenraumen stattfanden. In Nordböhmen, wo seit dem 19. Jahrhundert die „Los-von-Rom“-Bewegung ein antiklerikales, ja antikirchliches Klima entstehen ließ, war ein völlig anderes Publikum als im katholischen Mähren zugegen. Was mich immer wieder beeindruckte, war die Tatsache, daß es keine Tabuthemen gab: Über den Brünner Todesmarsch konnte ich ebenso sprechen wie über die Rolle von Monsignore Jan Sramek, der als Priester und Professor der Katholischen Soziallehre schon im Londoner Exil unter der Regierung Beneš für die Vertreibung aller Deutschen war.

Aber es gab auch für mich bewegende Begegnungen: Der Tscheche, der 1943 zusehen mußte, wie die Deutschen seine Eltern auf dem Bauernhof hängten, wo sie einen Juden versteckt hatten, und der als junger Mann die KZs Dachau und Flossenbürg erlebte, lud mich in seine Familie und sprach offen mit dem Deutschen vor seinen erwachsenen Kindern und seinen Enkeln über diese Erlebnisse.

„Daß wir Tschechen es 1945/46 fast ebenso machten, das ist ein Wahnsinn. Und dieser Wahnsinn wird heute fortgesetzt, in Bosnien.“ Seine Erzählungen über Flossenbürg gehen mir seitdem durch den Sinn. Dort waren auch Admiral Canaris und der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer als Häftlinge, die nicht überlebten. Letzterer schrieb in der Neujahrsnacht 1944 auf 1945 sein Lied „Von guten Machten wunderbar geborgen“, das hoffentlich auch bald ins Tschechische übersetzt wird.

In Olmütz erwähnte ich in der Diskussion, daß ich als Kind 1946 im Aussiedlungslager im heutigen Vorort Hodolein war. Ein alter Herr kommt anschließend und erzählt, wie entsetzt sein Vater schon damals über die Zustände dort gewesen sei und mit dem damals 12-jährigen Sohn Deutschen zu helfen suchte. In allen kirchlichen Kreisen, in Pfarrkirchen und katholischen Zentren spürte ich das Bemühen, ja Ringen um Versöhnung. Am betroffensten waren Tschechen, wenn sie von sudetendeutschen Opfern des Nationalsozialismus hörten: von deutschen Priestern in verschiedenen KZs, von Pater Pater Engelmar Unzeitig aus dem Schönhengstgau, der in Dachau bei der Pflege von typhuskranken Russen und Tschechen starb, von Deutschordenspriestern, deren Orden Himmler verboten hatte, von der Brünner Schwester Restituta, der einzigen Nonne, die im Dritten Reich 1943 in Wien enthauptet wurde und deren 100. Geburtstag sich 1994 jährte.

Jahrzehntelang lebten Deutsche und Tschechen durch den Eisernen Vorhang getrennt nur in geographischer Nachbarschaft. Heute sind sie auf dem Wege zum Miteinander in Partnerschaft und vielleicht sogar Freundschaft. Beide Seiten müssen sich vorurteilsfrei der gemeinsamen jahrhundertealten Geschichte bewußt werden, auch der dunklen Seiten dieser Geschichte. Christen, die um das Mysterium der Schuld, aber auch um die alle Schuld übersteigende und überwindende Gnade der Verzeihung und Vergebung wissen, können wie die polnischen Bischöfe 1965 sprechen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“

Eine gemeinsame Erklärung sudetendeutscher und tschechischer Christen, die 1991 in Prag veröffentlicht wurde, schloß:
Je mehr Gemeinsamkeiten auf diesem Wege entstehen, desto leichter wird es gelingen, das zu überwinden, was uns in der Vergangenheit getrennt hat. Unter Deutschen und Tschechen sind die Menschen guten Willens in der Überzahl.
Sie dürfen nur nicht schweigen.
Denn: Die deutsch-tschechische Nachbarschaft muß gelingen!

Wenn ich diesen Satz zum Abschluß des deutsch gehaltenen Referates oder der Diskussion auch tschechisch zitierte, gab es nie Widerspruch. Im Gegenteil.

Und mehrfach erklärten Tschechen: „Wir haben keine Alternative. Es muß gelingen!“

Rudolf Grulich
Quelle: ISBN 3-87336-015-2
„Mit den Beneš-Dekreten in die EU?“