Frankfurter Allgemeine Zeitung 2005-08-20
Tschechisches Verfassungsgericht gibt deutschen Erben recht

Neuerliche Enteignung aufgrund von Beneš-Dekret aufgehoben

ps. PRAG, 19. August. Mit einem aufsehenerregenden Urteil hat der Verfassungsgerichtshof in Brünn der Praxis der tschechischen Behörden und Gerichte einen Riegel vorgeschoben, Adelige als Nazis und Kollaborateure zu verleumden, um ihren Erben unter Berufung auf die Beneš-Dekrete die Rückgabe des Eigentums verweigern zu können. Brünn hat der Klage der beiden Töchter des 1946 verstorbenen Fürsten Salm-Reifferscheidt stattgegeben und die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft des Erblassers bestätigt. Tschechische Politiker sprechen von einem Fehlurteil. Anwälte, die sich auf Restitutionsfragen spezialisiert haben, halten es für richtungweisend.

Vor drei Jahren hatte das tschechische Innenministerium dem 1946 verstorbenen Hugo Salm die Staatsbürgerschaft mit der Begründung aberkannt, die Ausstellung eines provisorischen Staatsbürgerschaftsbescheids im Jahre 1946 durch den zuständigen Nationalausschuß sei unrechtmäßig erfolgt, da der Fürst Deutscher und Nationalsozialist gewesen sei. Angeordnet hatte die Neuaufnahme des Verwaltungsverfahrens der damalige Innenminister und spätere Ministerpräsident Stanislav Gross. In dem Verfahren wendete das Ministerium das Beneš-Dekret Nr. 33/1945 an, obwohl es bereits 1949 außer Kraft gesetzt wurde.

Trotzdem lehnte der Verwaltungsgerichtshof die Klage der Erben ab. Er erhielt dafür den lauten Beifall der politischen Parteien, denen daran gelegen ist, die Rückgabe des Eigentums an adelige Familien zu verhindern. Die Erben klagten aber beim Verfassungsgerichtshof und bekamen nun Recht.

Die Brünner Richter hoben die Entscheidung des Innenministeriums und das Urteil des Verwaltungsgerichts mit der Begründung auf, sie stellten einen Verstoß gegen die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar.

Zudem stünde die Darstellung des Falles durch das Innenministerium „im äußersten Widerspruch“ zu den erhobenen Fakten, die davon zeugten, daß der Fürst ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen sei. Die Aussagen von zehn Zeugen, die dies belegten, seien weder vom Innenministerium noch vom Verwaltungsgerichtshof berücksichtigt worden. Zudem habe das Innenministerium gegen die Verfassung verstoßen, als es mit Hilfe eines aufgehobenen Dekrets neue Rechtsbeziehungen schaffen wollte.

Es sei davon auszugehen, daß der tschechische Nationalausschuß, der dem Fürsten 1946 die provisorische Staatsbürgerschaft ausstellte, über sein Verhalten während der deutschen Besetzung besser Bescheid gewußt habe als das tschechische Innenministerium im Jahre 2002. Ausdrücklich kritisieren die Verfassungsrichter, daß sich das Ministerium auf das Urteil eines Gerichtes aus dem Jahre 1951 bezog, in dem behauptet wurde, Salm habe sich nicht am Kampf zur Befreiung der Tschechoslowakei beteiligt. Dem Innenministerium sei dabei entgangen, daß die Gerichte von 1948 bis 1989 dem totalitären kommunistischen Regime unterstanden, das den Adel als „Klassenfeind“ verfolgte.

Schloß Raitz in Mähren sowie rund 7000 Hektar Land müssen nun den Töchtern des Fürsten Salm-Reifferscheidt, Marie und Ida, zurückgegeben werden. Die Staatsbürgerschaft sei in diesem Fall das einzige Restitutionshindernis gewesen, sagte ihr Anwalt Felix Nevrela. Den Teil ihres Besitzes, der ihnen Anfang der neunziger Jahre bereits zurückgegeben worden war, hatte man ihnen nach dem Entzug der Staatsbürgerschaft durch das Innenministerium zum zweiten Mal konfisziert.

Es war dies der spektakulärste Fall der neuerlichen Anwendung eines Beneš-Dekretes. Er machte deutlich, daß der Behauptung der Regierung in Prag, die Dekrete seien „erloschen“ und würden keine neuen Rechtsbeziehungen mehr begründen, kein Glauben zu schenken war.