Frühenglisch per Immersionsmethode – des Kaisers neue Kleider

Klaus Däßler, Mitglied im Vorstand des „Vereins Deutsche Sprache e.V. (VDS)“

Vorab: Wir vom VDS sind Freunde des Fremdsprachen-Lernens auf der Basis einer gefestigten eigenen Sprache. Gerade in Europa hat dies großen Wert für Freundschaft, kulturellen und ökonomischen Austausch. Wenn jedoch eine selbsternannte „Weltsprache“ mit schlecht verhohlenem Machtanspruch antritt, unsere Muttersprachen, unsere Vielfalt, unsere hohes sprachliches Niveau zu zerstören, dann wehren wir uns.

Zusammenfassung: Umfassendes Englischlernen der gesamten deutschen Jugend ist eine Forderung globalisierender Großfirmen und Unternehmensverbände. Findige Köpfe haben die frühschulische Englisch-Immersion als besonders effektive Methode dafür entdeckt. Sie beruht darauf, grundschulisches Fachwissen nicht mehr auf deutsch, sondern gleich auf englisch darzubieten. Wohlklingende Prognosen, die zwar gesellschaftlicher Erfahrung und dem gesunden Menschenverstand widersprechen, dafür aber im Gewande der „Wissenschaft“ daherkommen, überzeugen die Politiker. Neben lokalen Ansätzen in Chemnitz, Neuruppin, Norderstedt, Stuttgart u.a.m. geht ein Siegeszug von Pilotbestrebungen von Schleswig-Holstein aus, wo es just gelungen ist, Landtagsabgeordnete des Bildungsausschusses in einer Anhörung von den Vorteilen einer vor- und frühschulischen „zweisprachigen“ Erziehung zu überzeugen. Versprochen werden – neben quasi „muttersprachlichen“ Englischkenntnissen – Kostenneutralität, keine Defizite an sonstiger Bildung, im Gegenteil – man staune: Steigerung von Intelligenz, Wissen, Leistungsfähigkeit – abgesehen von politisch korrekten Zugaben wie „Offenheit für andere Kulturen“ – derer wir ja für die US-amerikanische Kultur schon lange einmal dringend bedürfen! Klingt das nicht wie Musik in Politiker-Ohren, zumal nach dem Pisa-Desaster?

Da die beteiligten Personen offenbar ein vitales Interesse an dieser Entwicklung haben, finden sich zahllose Fürsprecher. Kritiker, die täglich mit schulischer Realität konfrontiert sind, oder die systematische Bedrohung unserer eigenen Identität durch diese Methode kritisieren, werden schlicht überhört – sie passen nicht in die Landschaft. Wenn wir nicht aufpassen, ist zu erwarten, daß sich somit die Englisch-Immersionsmethode im Lande verbreiten, daß sie – ähnlich der Rechtschreibreform – ein weiteres sprachliches Trümmerfeld hinterlassen wird – diesmal aber fatal und irreversibel. In der Schweiz ist es Realisten im Schulsystem übrigens gerade noch gelungen, den Vormarsch dieser Bewegung zu beenden.


Definition und Begriffserklärung

Immersion: (lat. immersio, „Eintauchen“) bezeichnet völliges Eintauchen eines Himmelskörpers in den Schatten eines anderen (Astronomie), Überflutungshöchststand des Festlandes durch das Meer (Hydrologie), ein Dauerbad bei Hauterkrankungen (Medizin), eine Flüssigkeit zwischen Mikroskopobjektiv und Objektträger, die das optische Auflösungsvermögen erhöht (Physik), Auflösung räumlicher Grenzen im Film (Kino), Versinken in eine Szene der „virtuellen Realität“ – kurz:
Das vollständige Eintauchen in ein anderes Medium, um sich diesem möglichst effektiv anzunähern.

Frühschulische Immersion: Zentralmethode eines Methodenbündels, mit dem man Kindern eine Fremdsprache „als Muttersprache“ vermitteln will:

Vorschulische Begegnung (spielerisches Beschäftigen mit der Fremdsprache): „Und the dog go mit“, „Ein boy sleep“, „Ein dog mit five Beinen“, „Der boy dress“, „eine sun draußen“.

Frühbeginn: Englisch ab erster Klasse

Immersion und Bilingualität: Erste bis vierte Klasse: etwa 70% des Unterrichtes – in allen Sachkundefächern (Mathe, Heimatkunde, Geschichte usw) – NUR auf englisch, dabei „explosionsartiger Englisch-Entwicklungsschub“ in der 1. Klasse.

Die Vertreter dieser Bewegung nennen wir der Kürze halber „die Immersionisten“.

Zweisprachigkeit/Mehrsprachigkeit: Dieser Begriff bedeutet strenggenommen, daß ein Mensch gleichzeitig zwei / mehrere Muttersprachen habe oder haben könne. Etwa „fordere die EU“ von jedem Bürger Europas „Dreisprachigkeit“. Na denn man los!


Hintergründe

„Deutschland müsse fit gemacht werden für die globale Ökonomie – und deren Sprache sei „die Weltsprache Englisch“ – dieser allgegenwärtige Leitspruch deutscher Firmenchefs, Unternehmerverbände und Politiker führt zur Forderung, alle jungen Deutschen sollten Englisch beherrschen wie die Muttersprache. Längst ginge es nicht mehr darum, ob mehr Fremdsprachen (d.h. Englisch) gelernt werden sollen; nur noch wie am besten. Rasch fortschreitende „Globalisierung und Europäisierung“ von Wirtschaft und Politik lasse uns keine Wahl. Deutsche müßten absolut mobil und flexibel überall in der Welt einsetzbar sein.

Wieso eigentlich? Deutschland ist heute sog. „Export-Weltmeister“, die deutsche Arbeitsproduktivität die höchste der Welt. Da könnte man doch zufrieden sein – mit dieser Nation und ihrer Sprache. Was soll der ganze Zauber? Sind wir Deutschen nicht klug und fleißig genug, daß wir uns nähren, kleiden, bilden, mit Konsumgütern versorgen, unsere Alten betreuen und unsere Kinder erziehen können, daß wir ein kulturvolles Leben im friedlichen Austausch mit unseren Nachbarn führen könnten?

Warum sollen unsere jungen Leute „für die globale Ökonomie fit gemacht werden“, warum dieser Mobilitätsfimmel, mit dem nachweislichen Seiteneffekt, daß diese Menschen die wichtigsten Dinge des Lebens – eine Familie, Kinder, Geborgenheit im Alter, eine Verwurzelung in Nachbarschaft, Gemeinde, Region, der Heimat verlieren?

Geht es etwa darum, daß nicht genug Hilfspersonal vorhanden ist, um deutsche Technik und Organisation systematisch in Billiglohnländer zu verlagern und dort am Laufen zu halten, nachdem es mit einheimischen Führungskräften nicht so klappt? Da muß natürlich der junge Deutsche „die Weltsprache“ beherrschen, damit er potentiell überall einsetzbar ist – auch wenn es am Ende nur einen kleinen Prozentsatz beträfe.

Solche Chancen für ihre Kinder interessieren auch gutwillige, etwas verblendete Eltern – sie denken in diesem Moment nicht an Enkelkinder, die ihnen ein würdiges Alter schenken könnten – viele befürworten diesen „Lebensentwurf“ – und das frühe Englischlernen. Möchte nicht jeder Mensch in der Welt herumkommen? Nanu? – die deutsche Jugend ist doch bereits die reisefreudigste der Welt, voller Freundschaft und Offenheit für andere Kulturen. Wann endlich mal etwas mehr Offenheit für die eigene Sprache und Kultur ?

Die verdächtige Englisch-Ideologie hat in den letzten 10 Jahren, neben anderen Merkwürdigkeiten wie Universitäts- und Firmenenglisch, sowie einer auffälligen Verwahrlosung der Muttersprache im öffentlichen Raum, zum Aufwind für die frühschulische Englisch-Immersionsbewegung geführt.

Unsere Kinder sollen nach diesem Modell in Kindergarten, Vorschule und Grundschule, außer im Deutschunterricht, gar nicht mehr in der Muttersprache, sondern gleich auf englisch unterrichtet und möglichst umfassend betreut werden. Wenn sie schon vorschulisch mit Englisch vertraut seien und damit der Durchbruch zur vollen Sprachkompetenz in der ersten Klasse stattfände, wie nachgewiesen sei, schlüge man „ohne Zusatzaufwand“ zwei Fliegen mit einer Klappe: „gleiche, ja bessere Bildung“, „die gleichen Kosten“ – aber gleichzeitig „englische Muttersprachlichkeit“.

Die stärkste deutsche Immersionistenbewegung geht vom Englischen Seminar der Universität Kiel um Prof. Henning Wode, der Claus-Rixen-Schule Altenholz und dem „Verein für frühe Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen“ aus. Dort hat sich eine starke Interessengruppe von Instituten, Initiativen, Pädagogen, Politikern gebildet, die vom Wohlwollen „der Wirtschaft“ und damit „der Politik“ profitieren. Kein Wunder, daß das alles ein Riesen-Erfolg wird!


Zentrale Fehlkonstruktion:
Falscher sprachlich-situativer Anwendungsbereich
WOHL gibt es Situationen, in denen ein volles Eintauchen in die Fremdsprache beim Vermitteln von Lerninhalten sinnvoll und gerechtfertigt ist. Die Englisch-Immersionisten unterstellen – als Ablenkungsmanöver – ihren Kritikern gern, sie kritisierten diesen – durchaus nützlichen – Ansatz.

• Er gilt etwa, wo das sprachlich-begriffliche System eines Menschen voll ausgereift, gefestigt ist, dieser aber die Aufgabe hat, sich schnell und gründlich in ein nationenspezifisches Fachgebiet einzuarbeiten, etwa italienische Literatur oder das Rechtssystem Frankreichs, oder Geschichte der englischen Seefahrt.

• Er gilt etwa in Ausnahmeregionen und -Situationen mit meist zweisprachigen Familien (Kanada, Elsaß, Tirol, Lausitz, Ostfriesland, Dänemark-Grenzregion usw. – Diplomaten, Piloten, Auslandsingenieure). Aufschlußreich ist, daß Erfolgsmeldungen vorwiegend dort entstehen. Dort bringen Kinder zwei seit Geburt gemeinsam erworbene Sprachen als „Muttersprachen“ mit, die wechselseitig gefördert werden können.

Dort vermitteln muttersprachliche Lehrer, die Immergenten, die Immersionssprache, mit voller Begrifflichkeit. Das gesamte Begriffssystem des Kindes ist bereits mit der Immersionssprache angelegt – der Unterricht vervollkommnet das bereits Angelegte.

Dort werden oft reichhaltige Mittel aufgewendet. Es wird kein Schaden angerichtet.

NICHT gilt er aber bei Kindern in monolingualen, nationalsprachlichen Situationen wie etwa der unseren – oder fast jeder anderen Nation.

• Hier ist das gesamte Begriffssystem des Kindes muttersprachlich gewachsen und bedarf weiterer Vervollkommnung durch muttersprachliche Wissensübermittlung. Plötzlich wird dieser Prozeß jäh unterbrochen; man erzwingt ein völlig anderes Begriffssystem durch die Unmöglichkeit, die „eigenen“ Begriffe weiter zu nutzen und zu qualifizieren. Die hohe frühkindliche Formbarkeit ermutigt Pfuscher, mit groben Werkzeugen im hochsensiblen Uhrwerk herumzustochern.

• Hier gibt es kaum muttersprachliche Englischlehrer; normale Lehrer werden auch unter immensem Aufwand die Fremdsprache nie wie eine Muttersprache beherrschen. Die Immersionisten stopfen diese Lücke durch das halsbrecherische Argument, die deutschen Grundschullehrer könnten muttersprachliches Englisch ja schnell durch „learning by doing“ und Intensivkurse auf der Universität erwerben.

• Hier kann man das Grundschulsystem mittlerweile getrost als Mangelwirtschaft bezeichnen – etwa ein Drittel der deutschen Erstkläßler (von Einwandererkindern ganz zu schweigen) sind nicht in der Lage, muttersprachlich präsentierte Zusammenhänge zu erfassen, geschweige denn wiederzugeben. Das zweite Drittel schafft es mal eben so; jede weitere Verschlechterung der Bedingungen wäre fatal. Ein Grund ist die häusliche Sprachlosigkeit aufgrund ständigen Fernsehens und Windows-Geklickes; die ebendort praktizierte erbärmliche Sprachkultur, zunehmende Illiteralität der Erwachsenen – wo wird noch täglich vorgelesen? – die zunehmende gesellschaftliche Mißachtung einstmals genauer Sprachregeln. So bleiben immer mehr Deutsche bis an ihr Lebensende unfähig, sich auszudrücken, etwa mit klaren Anweisungen einen Weg zu erklären, dem Arzt ihre Beschwerden zu schildern, einen Brief zu schreiben, klare Gedanken zu formen, über sich selbst und ihren Zustand zu reflektieren – also unfrei – jeder symbolisch plakativen Propaganda ausgeliefert, auf dem Wege vom Untertan zum Leibeigenen der Massenpsychose und ihrer Betreiber.


Einschub: Wie wir denken und lernen

Es wird Zeit, kurz über unsere begriffliche Informationsverarbeitung zu sprechen. Oft, auch bei Immersionisten, hört man, wir „dächten auf deutsch oder englisch“.

Das ist falsch. Wir denken, außer beim Formulieren (in-Formel-Bringen), Hören, Lesen überhaupt nicht in einer Sprache, obgleich es uns so vorkommt, da sie die wichtigste Schnittstelle zum Denken ist.

Die Realität besteht im wesentlichen aus nichtsprachlichen Objekten und ihren vielfältigen Beziehungen untereinander – unser Weltmodell ist ebenso eine nichtsprachliche Abbildung derselben – je adäquater, desto intelligenter. Die Zusammenhänge der Welt werden auf Zusammenhänge im Kopf abgebildet. Sprache entstand, weil wir keine Einzelwesen sind und kommunizieren müssen – weil ihr Vorhandensein das Lernen außergewöhnlich beschleunigte. Damit bildeten sich in den Sprachräumen die Muttersprachen heraus, reiche Informationsgebilde, die – mit ihren Thesauri und Kategorien – die sprachraumlokale, gesellschaftliche Realität in all ihren Aspekten besonders gut abbilden und mitteilen können. Viele Forscher halten es bis heute für unmöglich, Muttersprachen maschinell ineinander zu übersetzen – das ist ein Beleg, daß es schlichtweg keine eins-zu-eins-Abbildung verschiedener Muttersprachen und dessen, was dahintersteckt, gibt. Ein deutsches Denkgebäude, entstanden durch Millionen von Kommunikationsakten des heranwachsenden Kindes, ist nun mal kein englisches. Eine so unsymmetrische Sprachkonkurrenz im ungefestigten Alter, wie die frühschulische Englischimmersion, birgt die Gefahr, daß keines mehr existiert.

Unser Bewußtsein, unser Wissen, unser Denken ist in einem Bedeutungsnetz, dem semantischen Netz, organisiert. Frühkindlich wird es, auf der Basis ererbter Grundstruktur, durch die jede Situation begleitenden Worte der Mutter strukturiert und festlgelegt.

Dennoch besitzen viele wichtige Begriffe kein Wort in der Sprache. Nur ein Teil ist „sprachlich koloriert“, d.h. zum Begriff gehört ein Wort oder eine Ganzheit. Wir können uns über nichtsprachliche Begriffe verständigen – zusätzlich zum Umschreiben (siehe Dr. Faustus unten) verfügen wir über viele „Sprachen“ zur Mitteilung von Stimmungen, Gefühlen, Emotionen, Eindrücken, Eingebungen, Tendenzen usw. – allesamt mächtige Subnetze nichtsprachlicher Begriffe. Wir entscheiden – letztlich intuitiv „aus dem Bauch heraus“. Verstehen, wissenschaftlicher Fortschritt beruhen weitgehend auf nichtsprachlicher Intelligenz – dort kommen Höchstleistungen her!

Allein Muttersprache vermag jedoch, den Reichtum komplexer Gefühls- und Wissenswelten sprachlich auf unser Bewußtsein zu übertragen. Etwa in dem wunderbaren Buch „Doktor Faustus“ von Thomas Mann, das ca. 1,5 Millionen Zeichen aus einem Satz von 30 Zeichen mit einem Wortschatz von ca. 10000 Wörtern enthält. Die Kette dieser 1,5 Mio Zeichen schenkt uns ein hochkomplexes semantisches Netz deutscher Befindlichkeit in kritischer Epoche, das diese Eigenschaft natürlich erst dadurch erhält, daß wir bereits tausendfache Bezüge, Bedeutungen jedes der dort verwendeten Wörter kennen. Wo kommen diese bei der Immersion her???

Wie erbärmlich mutet in diesem Zusammenhang die naßforsche Behauptung eines „deutschen Professors“ Seitz von der Frankfurter Universität Viadrina an, man könne Goethe durchaus künftig nur noch auf englisch darbieten!

Thomas Mann selbst war überrascht von seiner erstmalig selbst erkannten, dichten Wissensdarstellung, die allein auf Verwendung der reichen Muttersprache beruhte.
Ende des Einschubes


Folgerungen

Hier blitzt die Wahrheit auf. Die Muttersprache eines normalen Kindes wird in den ersten 10-12 Lebensmonaten angelegt und etwa bis zum 10. Lebensjahr festgelegt. Mit Schuleintritt hat das Kind etwa das Wort „gleich“ schon in vieltausendfachen Bedeutungen erlebt und diese systematisch geordnet, so daß es eine hohe abstrakte (generische) Mächtigkeit und Zugriffseffizienz besitzt.

Nun denken die Immersionisten: Man präsentiere das Zauberwort „equal“ – dann baue die von nun an im Immersions-Matheunterricht englisch gebotene formale Abstraktion, jetzt „equal“ genannt, auf der Begriffswelt des „gleich“ auf, so daß das Kind dem reinsprachlich aufwachsenden Schulkameraden erstens mindestens geistig ebenbürtig bleibt, andererseits aber nebenbei komplett Englisch lernt. Das ist die zentrale, gewagte Annahme der Immersionisten.

Das Gegenteil ist richtig. Das systematische Begriffsgebäude „Gleich“ verfällt, ein neues „Equal“ entsteht, dessen Gehalt bestenfalls auf dem Umfang der Präsentationen des (auch noch beschränkt) englischsprechenden Lehrers und auf wenigen wiedererkannten Versatzstücken des alten „Gleich“ aufbaut. Der harmonische Aufbau des Wissensnetzes geht in die Brüche. Das Kind wird „pidginisiert“.

Der Ansatz, dem Kinde eine Fremdsprache schon im sprachlich-begrifflich ungefestigten Alter aufzuzwingen, muß also die gegenteilige Wirkung hervorrufen – geistige Konfusion – wie wir an einem sehr plakativen Beispiel belegen können:

Oft wird, selbst von Immersionisten, ein Mangel an wissenschaftlichen Langzeitstudien zu diesem Thema beklagt. Warum blenden sie dann die „Mutter aller Immersionen“ – das Deutschlernen, die geistige Entwicklung der Kinder (heute ca. 720 000 Grundschüler) aus Zuwandererfamilien, im besonderen aus Osteuropa und der Türkei aus, die schon seit Jahrzehnten beobachtet und beklagt werden?

Hier herrschen ideale Immersionsbedingungen. Gegenüber dem türkischsprachigen Elternhaus wird in der Vorschule, der Schule muttersprachlich deutsch gesprochen; mehr noch – im gesamten öffentlichen Bereich! Nun müßten laut reinster Eintauch-Lehre die Ausländerkinder in normaler Schulsituation alsbald muttersprachliches Deutsch können – der Durchbruch käme ja in der ersten Klasse – und auch ihre sonstigen schulischen Leistungen müßten zumindest gleichgut wie die der deutschen Kinder sein? Fehlanzeige. Die meisten bleiben – trotz mittlerweile vieler Integrationsprogramme – durchschnittlich 1 bis 2 Noten, wenn man den politischen Korrektheitsbonus abzieht, sogar 2-3 Noten schlechter und somit – bis auf Ausnahmen – beharrlich zu niedrigqualifiziertem Berufsleben verurteilt. Ihre Sprache kann man getrost als Pidgin bezeichnen. Die lustigen Bücher von Michael Freidank über Kanaksprak legen beredt Zeugnis ab. Erst in zweiter oder dritter Generation, mit besser deutschsprechenden Eltern, rücken einige in die Nähe ihrer deutschen Klassenkameraden. Eine wichtige Frage stellt bestürzenderweise niemand – was wird aus dem gebildeten Hochtürkisch bei den Einwandererfamilien?

Eilig behaupten Immersionisten, das sei nicht das Gleiche, das sei nicht genau die gemeinte Immersions-Situation, es gäbe kulturelle Vorbehalte usw. Sie fühlen, daß dieser einfache, allen einsichtige Sachverhalt ihr schönes Gebäude jäh zum Einsturz bringen könnte. Lieber werden sorgsam betreute Pilotenkinder in den USA angeführt.

Kommen dennoch gewisse Erfolge schulischer Englischimmersion in Deutschland zustande? In der Tat – das belegen schon die Europaschulen, aber eben mit muttersprachlich bereits gefestigten Kindern und echten Immergenten.

Stellen wir uns vor, wir hätten kleine, von vornherein überdurchschnittliche Klassen, hochqualifizierte, teils englisch-muttersprachliche Lehrer, allesamt mit sprachübergreifender didaktischer Vernetzung, mit ausreichend Vorbereitungszeit, geeignete (teure) Lehrmittel, gebildete, engagierte Elternhäuser. Stellen wir uns vor, wir arbeiteten in einem vom Ministerium und der Industrie wohlwollend geförderten Projekt zusammen mit Universitätsinstituten. Stellen wir uns vor, wir konzentrierten uns auf die begabteren, bereits in ihrer Muttersprache ausreichend gefestigt Kinder. Was käme da wohl heraus? Aber: Entspricht dies unserer Schulsituation im Lande?

Der Zürcher vergleichende Sprachwissenschaftler Wachter, der offenbar dem Schweizer Immersionsansatz den Todesstoß versetzt hat, weist ebenfalls nach, daß möglichst früher Beginn keinesfalls für Erfolg bürgt. Es sei vielmehr eminent wichtig, daß bereits eine gefestigte Sprache vorliege, um den Lernerfolg bei der zweiten zu sichern. Der Luxus des Frühbeginns habe notwendigerweise die Beschneidung anderer, altersgerechterer Inhalte zur Folge. In höherem Alter würden – gemäß Experimenten – die Schüler die gleichen Fremdspracheninhalte schneller erfassen, so daß das absolut gelernte Pensum bei gleichem Aufwande weit größer sei. Zudem seien die schulischen Rahmenbedingungen für den Erfolg von entscheidender Wichtigkeit. Die frühschulische Immersion sei aufgrund so vieler Besonderheiten und Unwägbarkeiten im Risiko am ehesten mit Russischem Roulette vergleichbar. Das Emmentaler Bauernhaus und die Entwicklung des Frosches wären, wenn der Immersionsansatz gesiegt hätte, auf Englisch behandelt worden. Mit dem fatalen Ergebnis, daß die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit weder Naturkunde noch Alltagsenglisch wirklich beherrscht hätten.

Am Schluß stellt er die interessante Frage, die auch uns täglich bewegt:

„Daß für Frühenglisch Motivation besteht, und zwar bei einheimischen wie fremdsprachigen Kindern samt ihren Eltern, steht außer Frage. Hat man sich aber schon Gedanken dazu gemacht, wie sich die so frühe Überlagerung des Hochdeutschen mit dem Englischen auf die Motivation der Kinder und Eltern, das Deutsche zu pflegen und zu verbessern, auswirken könnte? Die Mißachtung des Deutschen zugunsten des „trendigen Englischen“, (und was für eines Englischen!) ist heute im täglichen Leben schon erschreckend genug.“

Klaus Däßler

Umfangreiche Literaturzitate zu diesem Thema sind beim Verfasser erhältlich.

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlicht nach den „Sprachnachrichten“ des Vereins Deutsche Sprache VDS (www.vds-ev.de)  Nr. 23 (2004-07)