SONNTAGSZEIT NR. 20 VOM 20. Mai 2001, Seite 2
Frank Thonicke

"Die Deutschen tendieren gen Null"
Der Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid empfiehlt eine bessere Familienförderung

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In beiden Bildern wurden die "Pyramiden" in gleichen Maßstab und auf gleiche Höhe gerückt. ML

KASSEL • Ein Kollege hatte dem Bevölkerungswissenschaftler Prof. Dr. Josef Schmid einen Rat mit auf den Weg nach Kassel gegeben: "Sagen Sie nicht, die Deutschen sterben aus. Sagen Sie es freundlicher." Und so hatte denn der 64-jährige Hochschullehrer aus Bamberg eine ganz besondere Formulierung zum Kolloquium der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Bevölkerungsentwicklung mitgebracht: "Die Deutschen tendieren auf ihrem Territorium gen Null."

In der Tat, die Lage ist ernst. Das zeigt schon ein Blick auf die Grafiken, die so genannte Bevölkerungspyramiden darstellen: Früher sahen sie aus wie ein schönes Dreieck [Siehe die Briefmarke zur 100jährigen gesetzlichen Rentenversicherung!] oder eine ägyptische Pyramide: Unten breit, weil es viele Junge gab, oben spitz, weil nur wenig Alte gezählt wurden. Heute ist der Sockel dünn, dafür gibt es weiter oben einen Wohlstandsbauch, und die vielen Alten sorgen für eine stattliche Krone oben auf der Pyramide.

Wissenschaftlich nennt man das "demografische Implosion". Oder, einfach gesagt: Der Geburtenrückgang führt zu einem Mädchenrückgang, der sich in 25 Jahren als ein Mütterrückgang auswirkt. Die Folge: Es werden noch weniger Kinder geboren.

Schon heute genügt die Zahl der Kinder in Deutschland längst nicht mehr, um eine Generation zu ersetzen. Durchschnittlich bekommen die Frauen 1,3 Kinder. Das heißt, 50 Elternpaare haben nur noch 66 Kinder. Ein Driitel fehlt also, um die Bevölkerung auf dem gleichen Mengen-Niveau zu halten. Übrigens: Noch weniger Kinder als die Deutschen bekommen die Italiener (1,2) und die Spanier (unter 1,2). Prof. Schmid: "Das hat früher keiner für möglich gehalten."

Die Ursachen der Geburtenrückgänge sind vielfältig: Früher funktionierte das soziale Sicherungssystem nur mit vielen Kindern. Dann, Mitte der 60er-Jahre – der Zeit des Wirtschaftswunders, der ersten Italienreisen und des ersten Autos – schien Konsum wichtiger als Kinder zu bekommen. Zudem hielten es viele für klüger, weniger Kinder zu haben, denen es besser gehen sollte.

Und heute? Heute, so Prof. Schmid, sind die jungen Familien die "Lastesel" unseres Systems: Beide Eltern müssen arbeiten und sich in einem immer komplizierteren Arbeitsprozeß bewähren. Sie müssen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, also für die Altersicherung der Vorfahren sorgen. Und außerdem sollen sie noch die heranwachsende Generation großziehen. Prof. Schmid: "Und bei alldem werden sie allein gelassen. Das ist vollkommen unmöglich."

Was also ist zu tun? Einer massenhaften Zuwanderung aus dem Ausland erteilt Prof. Schmid eine klare Absage: Um die Bevölkerung in Deutschland zu erhalten, müßte man jedes Jahr eine Stadt von der Größe Hannovers ansiedeln. "Das funktioniert nicht."

Prof. Schmid empfiehlt stattdessen eine bessere Familienförderung. Diese müsse auf die Geburtenförderung zielen. Der Bamberger Bevölkerungswissenschaftler: "Wer drei Kinder hat, wird nie die Seychellen sehen. Dieser Satz darf künftig nicht mehr gelten."

Kommentar:
Auch ich werde, obwohl ich mit meiner Frau zusammen nur zwei Burschen aufgezogen habe, die Seychellen nur mit dem Finger auf der Landkarte sehen – wenn ich es denn überhaupt will. Diese Randbemerkung hat das Thema vollständig verfehlt.
Außer der Verbesserung der Familienförderung wird es Zeit, das asoziale Verhalten familienloser Menschen zu würdigen: Altersversorgung nicht vom vorherigen Verdienst abhängig machen, sondern vom sozialen Einsatz. Ein Menschenpaar, das drei Kinder aufgezogen und in den Produktionsprozeß gegeben hat, hat damit die halbe Alterssicherung (oberhalb des Sozialhilfeniveaus) geleistet – und das muß endlich gewürdigt werden –, die andere Hälfte könnte nach dem bisherigen Prinzip anhand der eingezahlten Versicherungsprämien berechnet werden.

Große Frage:
Wie und wann werden alle die zur sozialen Leistung herangezogen, die aufgrund ihres Einkommens nicht in die Sozialkassen einzahlen? Auch die hohen Altersrenten und Pensionen der kinderlosen Großverdiener müssen letztendlich von den Kindern der geringerverdienenden Massen erwirtschaftet werden! Wann endlich wird an diesem Zopf geschnitten?
ML 2001-05-22