Aus der Seite der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Landesgruppe Bayern.

Der tschechische Politikwissenschaftler Bohumil Dolezal zu den noch immer ungeklärten sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen:

Bohumil Dolezal (Politikwissenschaftler an der Prager Karlsuniversität und früherer Chefberater beim ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Vaclac Klaus) hielt auf einem Symposion der Ackermann-Gemeinde und der Bernard-Bolzano-Stiftung in Iglau ein viel beachtetes Referat, das wir unseren Lesern – leicht gekürzt – zur Kenntnis bringen wollen. Bitte teilen Sie uns Ihre Meinung mit!

Die offizielle These, die jetzt die tschechisch-deutschen Beziehungen und alles, was mit ihnen zusammenhängt, beherrscht, lautet: Die gemeinsame tschechisch-deutsche Erklärung hat alle strittigen Fragen der Vergangenheit abgeschlossen. Die Deklaration habe die gegenwärtige Politik von diesen Fragen befreit: sie seien nur noch tote Objekte für eine historische Obduktion. Die Tschechen und die Deutschen könnten und müßten sich sogar auf die Probleme der gemeinsamen Gegenwart und Zukunft konzentrieren.
Diesen Standpunkt vertreten zur Zeit alle relevanten politischen Gruppierungen in der tschechischen Politik. Dasselbe gilt für die Regierung Schröder, die auf diesem Gebiet den Weg des Kabinetts Kohl fortsetzt. Und diesen Standpunkt dulden auch einige versöhnlichere sudetendeutsche Organisationen, weil sie in diesem Augenblick vielleicht den Eindruck haben, daß ihnen nichts anderes übrig bleibt. Ich kann diesen Standpunkt jedoch nicht teilen.

Die Art und Weise, wie vor drei Jahren die tschechisch-deutsche Erklärung zustandegekommen ist, ist unwürdig: Der Grund ist ein falscher Konsens der beiden Seiten. In einer Grundfrage, nämlich darin, ob im Text der Erklärung die sogenannte Abschiebung („Odsun“) der Sudetendeutschen als ganzes bedauert wird, oder ob es nur um die sogenannten Exzesse geht, die während der Vertreibung geschahen, unterscheidet sich die Interpretation der deutschen und der tschechischen Seite.
Beide Seiten wissen das sehr gut und sehen heuchlerisch darüber hinweg.
Die Opfer dieses unsittlichen Konsenses sind nicht nur die Sudetendeutschen: Die Opfer sind auch – und für mich in erster Reihe – die Tschechen. Wir sollen wieder einmal zur Staffage einer unmoralischen Politikmacherei werden, die uns daran hindert, uns mit den Fehlern und dem Versagen in der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das ist jedoch etwas, was jedes Volk tun muß.
Es ist also nicht gelungen, das größte Problem der tschechisch-deutschen Beziehungen zu lösen. Es wurde nur eingemauert. Das geschah in eifriger Zusammenarbeit von tschechischen Politikern, die sich sonst gegenseitig nicht ertragen können: Dazu gehören Präsident Havel, Parlamentspräsident Klaus (früher Regierungschef), Ministerpräsident Zeman und der frühere Außenminister Zieleniec. Ein ungelöstes Problem bleibt jedoch ein gegenwärtiges Problem. Es ist kein historisches, sondern ein sittliches und politisches Problem. Es ist das Problem der Minderheit, die wir vertreiben konnten. Das heißt jedoch nicht, daß sie nicht mehr als unsere Minderheit existierte.
Der Grund des „Einmauerns“ ist die Furcht, mit eigenem Versagen konfrontiert zu werden. Deshalb haben wir um das Problem eine spanische Wand der ideologischen Selbstrechtfertigung gebaut.
Es gibt drei Hauptthesen der Selbstrechtfertigung.
Erstens: Man müsse eine unangemessene Selbstquälung ablehnen.
Zweitens: Der „Abschub“ sei in seiner Zeit die einzig mögliche und das heißt auch die einzig richtige Lösung gewesen.
Drittens: Die Geschichtswissenschaft sei dazu berufen, der tschechischen Politik Argumente zu liefern für den Schutz der nationalen Interessen.
Ich bin im Gegensatz zu ersten These der Meinung, daß die Selbstquälung eine sehr nützliche und notwendige Angelegenheit ist. Versuchen wir zuerst, sie zu definieren: Die Selbstquälung ist etwas, das im grundsätzlichen Gegensatz steht zur gesunden Selbstkritik, die unseren natürlichen (oder persönlichen oder nationalen) Stolz nicht verletzt, weil sie in allen Streitfällen fähig ist, den im Grunde richtigen Grundsatz von seiner unvollständigen und oft auch falschen Verwirklichung zu unterscheiden. Das gilt für den „Abschub“ wie etwa für die Verwirklichung der Idee des „Sozialismus“ in der Tschechoslowakei nach 1948. Die Selbstquälung bedeutet also im Falle des „Abschubs“ die Feststellung, daß es sich um eine unmenschliche und verbrecherische Aktion gehandelt hat.
Eine so aufgefaßte Selbstquälung ist für das Leben des Einzelnen und der zivilisierten Gesellschaft unerläßlich. Sowohl der Einzelne als auch die Gesellschaft begehen von Zeit zu Zeit Fehler, Irrtümer, Sünden. Darin unterscheiden sich Menschen und Nationen nicht. Sie unterscheiden sich voneinander nur darin, in welchem Maße sie fähig sind, ihre Fehler, Irrtümer und Sünden aus der Welt zu schaffen, damit sie Gegenwart und Zukunft nicht länger vergiften. Die Technik dieser persönlichen und gesellschaftlichen Hygiene heißt tätige Reue und Buße. In diesem Fall verlangt das eine öffentliche und vorbehaltlose Entschuldigung gegenüber jenen, denen wir Schaden zugefügt haben. Dazu gehört das aufrichtige Bestreben um die Milderung der Folgen manches Unrechts (wie es im tschechischen Entschädigungsgesetz heißt). Die Selbstquälung ist ein geläufiges Phänomen des menschlichen Daseins in der Welt. Sie ist – so würde es höchstwahrscheinlich der erste tschechoslowakische Präsident Masaryk formulieren – nicht nur moralisch, sondern auch praktisch. Der Selbstquälung verdanken wir, daß sich die Geschichte in der Gänze vom Schlimmeren zum Besseren bewegt, und daß wir, solange wir leben, Hoffnung haben.
Zur zweiten These: „Damals war die Vertreibung in Ordnung, obwohl sie heute nicht in Ordnung wäre“. Diese Feststellung (nicht nur im Zusammenhang mit dem „Abschub“ der Sudetendeutschen) ist eine Äußerung des völlig unannehmbaren moralischen Nihilismus.
Nicht akzeptabel ist auch die Vorstellung von einer dienenden Geschichtsschreibung. Im ersten Jahrhundert der tschechischen nationalen Wiedergeburt, also im 19. Jahrhundert, hat sich die Vorstellung durchgesetzt, daß die Aufgabe der historischen Wissenschaft darin bestehe, durch treffende Argumente den Anspruch der tschechischen Nation auf die eigene Existenz zu unterstützen. Die gewichtigsten Argumente waren die langen historischen Wurzeln und hervorragende historische Leistungen. Diese Auffassung hat eine gewisse, wenn auch nicht definitive Niederlage erlitten in den Kämpfen um die sogenannten Handschriften – romantische literarische Fälschungen, die teilweise älter sein sollten als das Nibelungenlied; es war Masaryks großes Verdienst, das letztlich anerkannt wurde, daß es sich um Fälschungen handelt. Daraufhin hat sich in der Tschechoslowakei für eine gewisse Zeit lang der Grundsatz durchgesetzt, daß die Wissenschaft nicht nationale Interessen, sondern die Wahrheit durchsetzen solle, und daß eine unvoreingenommene Erkenntnis der Wahrheit sogar im nationalen Interesse sei. Dennoch überlebt bis heute die Vorstellung der dienenden Geschichtsschreibung: Die Vorstellung nämlich, daß die Geschichte der alltäglichen Politik Munition liefern soll, oder sogar, daß das das einzige ist, was sie darf. In der Beziehung zur sudetendeutschen Frage hat sich auf diese Weise ein seltsames historisches Alibi entwickelt. Er wird durch drei charakteristische Ansichten verkörpert.
Die erste These: „Das alles ist gar nicht so schrecklich gewesen, wie unsere Gegner sagen“. Zum Beispiel habe es gar nicht zweihundertfünfzigtausend Tote gegeben, sondern nur zehntausend, vielleicht nur acht, eventuell auch fünftausend, behaupten die gesalbten tschechischen Historikerköpfe mit triumphierender Miene. Daß wegen der dreitausend Opfer des Generals Pinochet die  ganze Welt auf den Kopf gestellt wird, interessiert nicht. Freilich, Pinochet ist keiner von „uns“. Hier geht es selbstverständlich nicht darum, Pinochet zu verteidigen. Ich will darauf aufmerksam machen, daß, wenn man dreitausend Opfer nicht entschuldigen kann, man auch nicht zehn-, acht- oder fünftausend Tote entschuldigen kann. Nur am Rande ist zu  bemerken, daß meiner Ansicht nach die Darstellung, beim „Abschub“ habe es  250 000 Tote gegeben, zwar sehr übertrieben ist, daß es aber jedoch viel mehr Opfer gegeben hat, als es die tschechisch-deutsche Regierungshistorikerkommission nahelegt.
Die zweite These: „Das haben nach Kriegsende doch alle gemacht.“ Alle hätten die Menschenrechte so oder so verletzt.  Das ist ein typischer Beispiel für die Suche nach dem moralischen Alibi: Wenn sich die ganze Welt an einer Unsittlichkeit beteiligt, dann wird die Unsittlichkeit zur moralischen Norm. In Wahrheit haben wir, auch wenn sich die ganze Welt unsittlich benimmt, jedoch kein Recht dazu, uns unsittlich zu benehmen.
Die dritte These besteht in der Konstruierung einer gewissen historischen Kausalität: „Die Grausamkeiten, die wir damals begangen haben, wurden durch noch größere Grausamkeiten der anderen Seite hervorgerufen. Dadurch sind sie begründet und gerechtfertigt.“ Diese Erklärung bedeutet den Durchbruch der physikalischen Gesetze in das Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es ist zweierlei einzuwenden: Erstens sind die Angelegenheiten, die begreiflich und erklärbar sind, nur dadurch noch nicht gerechtfertigt. Daß sich die Geschichte vom Schlimmeren zum Besseren bewegt, und daß die Geschichte einen Sinn hat, hängt auch von der Freiheit des Menschen ab, sich zu entscheiden – davon, daß der Mensch sich aus dem Netz der verschiedenen „Kausalitäten“ befreien kann, etwa vom Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Die Technik, wie dies zu erreichen ist, ist uralt und sehr genau beschrieben: Sie besteht darin, die andere Wange hinzuhalten; auf Stein mit Brot zu antworten, den Feind zu lieben und für ihn zu beten. Das Grundsätzliche ist, zu verzeihen, und zwar aus vielen Gründen. Es ist nicht nur rein moralisch, sondern auch praktisch von Nutzen. Wir wissen, daß wir selbst oft Unrecht tun, ob wir wollen oder nicht.
Zu keinem Verbrechen in der Geschichte kann man nachträglich ein Alibi schaffen. Es ist der Geschichtswissenschaft und der Rechtswissenschaft unwürdig, das zu versuchen.
Unter anderem wegen der Ideologie, die ich eben erwähnt habe, ist die tschechisch-sudetendeutsche Auseinandersetzung blockiert. Es ist notwendig, daß die tschechische Politik nach einer Lösung sucht, aus der tätige Reue über verbrecherische und unsittliche Entscheidungen der Vergangenheit spricht. Zur Zeit ist dazu leider weder eine tschechische Partei noch eine Persönlichkeit von Bedeutung bereit; das gilt auch für die feierlichen Initiativen, die sich auf die Wahrheit und die Liebe berufen wie etwa der „Impuls 99“. Der Grund ist die Angst vor dem Zorn der Öffentlichkeit. Aber die Wahrheit ist mehr als die Öffentlichkeit. Und die Öffentlichkeit ist fähig, dieWahrheit einzusehen. Die Debatte über das sudetendeutsche Problem in der tschechischen Öffentlichkeit ist während der Balgerei um die tschechisch-deutsche Erklärung abgestorben. Vielleicht ist das logisch und begreiflich. Die Argumente auf beiden Seiten (der Befürworter und der Gegner der Versöhnung) sind erschöpft. Man sollte handeln. Deshalb komme ich mit einem Vorschlag:
Es ist notwendig, eine bürgerliche Initiative ins Leben zu rufen, die eine tschechische Entschuldigung bei den Sudetendeutschen formuliert und die diesen Text an den Sudetendeutschen Rat als der legitimen politischen Repräsentation der Sudetendeutschen adressiert. Dem Text soll eine Unterschriftensammlung beigefügt werden. Zugleich ist es notwendig, einen Fond der Versöhnung zu gründen, in dem durch einer öffentlichen Sammlung Mittel zur Entschädigung der vertriebenen Sudetendeutschen gesammelt werden können. Die Bedeutung beider Schritte wird zumindest am Anfang nur symbolisch sein. Aber auch eine symbolische Geste ist in diesem Augenblick wichtig. Sie wäre ein Zeichen des Entgegenkommens und ein Wegweiser in die Zukunft. Außerdem haben wir ja eine Menge Zeit. Wir haben ganze Jahrzehnte Zeit. Ich glaube, daß das tschechische Volk in den kommenden Jahrzehnten fähig sein wird, sich mit diesem schwarzen Fleck in seiner Vergangenheit ehrlich auseinanderzusetzen.