Gibt es Parallelen zwischen der Tschecholowakei und Palästina?
In beiden Regionen leb(t)en verschiedene Völker auf engem Raum nebeneinander.
Vergleichende Gedanken seien erlaubt!
Beide Staaten wurden mit Gewalt errichtet, in beiden Staaten wurde der Völkerhaß geschürt.
Gibt es mehr Ähnlichkeiten? ML 2000-10-29

Das Ende einer Illusion
Israelis und Palästinenser brauchen einen gemeinsamen Staat

Synagogen und Moscheen brennen in Israel und Palästina. Bürger beider Seiten versuchen, sich umzubringen. Ist hier ein Religionskrieg ausgebrochen? Ist der blutige Konflikt die Folge dessen, daß in Israel Religion und Staat nicht getrennt sind? Wartet die Welt auf einen nahöstlichen Westfälischen Frieden? Ein zweites Kosovo liegt in der Luft.
In der Tat, nicht wenige nehmen an, daß die Probleme im Nahen Osten aus einem unterstellten Junktim zwischen Staat und Religion resultieren. Und womöglich haben sie ja auch Recht. Denn wenn politische Konflikte zu religiösen werden, können sie nicht nur außerordentlich brenzlig werden, sie können explodieren. Über Religion, sagt man, läßt sich nicht streiten. Deswegen die Bereitschaft, für Jerusalem zu sterben, deswegen der Streit über die Souveränität des Tempelbergs, der schließlich zur Lunte wurde, die hier am Ende alles anzünden kann.
Andererseits: vielleicht stimmt diese Sichtweise nicht, vielleicht geht es gar nicht um die Verknüpfung von Staat und Religion, wie so viele meinen. Vielleicht gehen wir nur jener westlichen Legende auf den Leim, wonach die vom Staat dominierte Politik seit gut 350 Jahren erfolgreich daran ging, die Religion von der Staatssphäre zu verbannen. Wäre dem so, müßten sich die jüdischen Israelis und die moslemischen Palästinenser nur ebenfalls darauf verständigen, und die Region würde im Frieden leben.
Doch kaum ein Mißverständnis über den Nahen Osten dürfte schwerer wiegen als dieses, das im Moment sogar die Juden in Deutschland in den Konflikt zieht, die sich plötzlich – als vermeintliche Auslandsposten Israels – palästinensischen Angriffen ausgesetzt sehen. Doch sehr viel mehr spricht dafür, daß die Religion gar nicht das Problem ist, sondern eine enge Auffassung von Ethno-Nationalismus. Hier dürften die wahren Gründe dafür liegen, daß sich die Region am Rande eines gleichzeitigen Bürger-, Guerilla- und konventionellen Krieges befindet.

Auf den Müllberg
Jüdische Israelis, die bis gestern noch kosmopolitisch eingestellt waren und ihre liberale Einstellung dadurch definierten, daß sie die orientalischen Bürger dieses Landes stets mit dem noch nicht gegründeten Palästina vertrösteten, alle diese eben noch weltoffenen Israelis bemalen auf einmal ihre Gesichter mit Kriegsfarben, weil sie offensichtlich (im wahrsten Sinne des Wortes) tödlich gekränkt sind, daß die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft ihre jahrzehntelange Diskriminierung nicht mehr höflich und zivilisiert hinnehmen wollen. Und vor allem wundern sie sich darüber, daß diese Palästinenser sich zwar als israelische Staatsbürger betrachten, doch ihre Solidarität mit der palästinensischen Nation offenbaren.
Nein, diese palästinensischen Staatsbürger Israels wollen nicht nach drüben gehen. Sie wollen hier in ihrer Heimat bleiben – nur eben jenseits des Souveränitätsbereichs von Israel. Juden könnten das verstehen, für jüdische Israelis ist es unsinnig. Doch wenn jüdische Israelis einfach Juden wären und nicht Israelis, könnten sie solche Exilgefühle nachvollziehen.
Aber wer auch immer wen versteht, hier geht es nicht um die Trennung von Staat und Religion. Das moderne Israel hat das Paradox hervorgebracht, aus vielen der hier lebenden Juden Israelis zu machen – was im übrigen einer der Gründe ist, warum das Land für viele Juden außerhalb Israels immer unattraktiver wird –, und gleichzeitig das Land, den Boden, die Überreste der religiösen Denkmäler als jüdisch zu definieren. Die Entjudaisierung der Menschen bei gleichzeitiger Judaisierung des Landes, das ist es, was zu der drohenden ExpIosion führt. Zu den Ironien der Geschichte zählt, daß es nicht die linken Kräfte in Israel waren, die Recht behielten, sondern die rechten.
Die israelische Linke lebt seit Jahrzehnten in der Illusion der nationalstaatlichen Trennung: Juden und Palästinenser in ihrem je eigenen Staat. Grenzkorrekturen hier und dort, aber eine Grenze muß her. Das galt und gilt immer noch als die fortschrittliche Position. Sie hört sich ja auch unerhört aufgeklärt an. Doch seit letzter Woche hat sich dieses Konzept endgültig in Rauch aufgelöst. Die Extremisten auf beiden Seiten hatten dieser Konzeption schon immer widersprochen. Die Region sei eins und untrennbar. Nur sollte sie ethnisch homogen sein – wobei natürlich jede Seite das Primat für sich reklamiert.
Inzwischen ist klar, daß der Spieß umgedreht werden muß. Die Argumente der Extremisten sind ernstzunehmen und gegen sie selbst zu wenden. Die veraltete Konzeption der Zweistaatlichkeit sollte dort landen, wo sie hingehört, auf den Müllberg des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie der Kampf um Jerusalem zeigt, ist ein Westfälischer Frieden für die Region nicht denkbar. Jerusalem kann und soll nicht geteilt werden, doch auf territoriale Souveränität sollte verzichtet werden. Das Exil muß für alle "nach Hause" geholt werden. Die vorgeschlagene Internationalisierung Jerusalems könnte ein erster Schritt dahin sein. Vielleicht käme der Kirche, die ja gerade seit dem Westfälischen Frieden keine territorialen Ambitionen hat, eine wichtige Rolle bei der Kosmopolitisierung Jerusalems zufallen.

Die Region ist eins und untrennbar, weil man auch auf der israelischen Linken die Rechnung ohne den Identitätswandel der israelischen Araber machte. Eine neue Generation von Arabern ist in Israel aufgewachsen. Eine Generation, die durch Israels Nähe zum Westen, durch das beste Erziehungssystem im Nahen Osten, durch Israels demokratische Prinzipien zu einer ethnischen Gruppe heranwuchs, deren Mitglieder nicht mehr bereit sind, Bürger zweiter Klasse zu sein. Sie stellen den zionistischen Legitimationsanspruch Israels als jüdischen Staat in Frage – und haben damit zur Kosmopolitisierung Israels beigetragen.
Abgesehen davon haben die harten Reaktionen der israelischen Polizei in der letzten Woche diesen Prozeß der Abkopplung von der staatstragenden Ideologie nur noch verstärkt. Umgekehrt diente diese Abkehr den Rechten des Landes als weitere Bestätigung dafür, daß die Palästinenser Israels nur eine fünfte Kolonne im Land sind. Und für die israelische Linke ist die Illusion zerbrochen, daß diese Palästinenser sich weiterhin in einem jüdischen Staat zu Hause fühlen können, wenn sie nur formale Rechte erhalten. Der Unabhängigkeitskampf der Palästinenser jenseits der Grenzen Israels hat diesen Kampf in das Landesinnere hineingetragen und wird so schnell nicht mehr von dort verjagt werden. Diese "Exilpalästinenser" werden auf Dauer die Teilung der Region verhindern.
Das Problem ist also nicht die Religion. Religion kann mit und im Exil leben. Jerusalem wird durch Souveränität nicht heiliger. Das Problem ist die Auffassung einer homogenen Nation, die auf einem geschlossenen Territorium leben soll. Von diesem Konzept sollten sich die jüdischen und nicht-jüdischen Israelis verabschieden. Die Lösung kann nur kosmopolitisch sein, eine utopische Lösung, die über das bisherige Vokabular der Politik herausgeht. Bis es dazu kommt, wird weiter geschossen werden.
                                                                           NATAN SZNAIDER

Süddeutsche Zeitung, 12.Oktober 2000. Eingesandt von Gerhard Hanak.
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