Die Selbstmordepidemie in Brüx.
Berichter: Dr. med. Carl Grimm
In der Nacht vom 6. zum 7. Mai 1945 kamen die letzten deutschen Truppen auf dem Rückzug
durch Brüx. Mit dem ersten Tage der Besetzung durch die Rote Armee
begann eine Welle von Plünderungen und Vergewaltigungen und in ihrem Gefolge die
Selbstmordepidemie. Betrunkene Soldaten und Zivilisten drangen in die deutschen Wohnungen
ein, brachen Türen auf, zertrümmerten Möbel, vergewaltigten Frauen, raubten und
schossen. Die Deutschen hofften zuerst auf den Abzug der russischen Truppen, aber nach den
Kampftruppen kamen die Besatzungstruppen und die russischen Kampftruppen kündigten selbst
an, daß sie der Bevölkerung nichts machen, sondern die Besatzungstruppen. Dazu kamen
mehrere Tausend Ostarbeiter, welche in dem Hydrierwerk Maltheuern gearbeitet hatten und
von den Russen bei ihrem Einmarsch befreit wurden. In den Außenbezirken der Stadt nahmen
die Plünderungen und Vergewaltigungen kein Ende, die Frauen kamen keine Nacht zur Ruhe,
sie flohen auf die Dachböden und verbrachten ihre Nächte wie Vögel in den Dachbalken
sitzend. Die freiwillige tschechische Miliz war diesem Treiben gegenüber machtlos, obwohl
sie zuerst einen Widerstand versucht hatte. Damals hofften die verzweifelten Deutschen auf
die Machtübernahme und Schutz durch die Tschechen. Aber nachdem die russischen Truppen
zum größten Teil abgezogen waren und reguläres tschechisches Militär und Staatspolizei
aus Prag die Macht in der Stadt übernommen hatten, erwies sich der tschechische Terror
ärger als der russische und es kam nicht selten vor, daß Deutsche von Russen gegen den
Terror der Tschechen in Schutz genommen wurden. Anfang Juni führte das tschechische
Militär die große Terroraktion durch, wobei der größte Teil der deutschen Männer und
ein Teil der Frauen aus den Wohnungen verhaftet, wie Vieh zusammengetrieben und in
Straflager gesperrt wurde. In den Monaten Juli/August führten der Národní Výbor,
Militär und Polizei zusammen die Evakuierungsaktionen durch, wobei die deutschen Bewohner
ganzer Straßenzüge und Stadtviertel aus den Wohnungen getrieben, in Lager gesperrt und
über die Grenze abgeschoben wurden. Während dieser Terror- und Evakuierungsaktionen
erreichte die Selbstmordepidemie in den Reihen- und Massenselbstmorden ihren Höhepunkt.
In den ersten Tagen des Umsturzes wurde ich von einem betrunkenen tschechischen Milizmann
angehalten, als sich aber herausstellte, daß er mich kannte und mir wohl wollte, schickte
er mich in die Kriminalpolizei zur Registrierung. Durch diesen Zufall wurde ich als
Deutscher Hilfspolizeiarzt der tschechischen Kriminalpolizei, weil man dort gerade einen
Arzt suchte und ich gegenüber auf dem I. Platz wohnte. Meine Aufgabe als Polizeiarzt
bestand in der Totenbeschau der deutschen Selbstmörder und ich habe als solcher in den
Monaten Mai/Juni/Juli einige Hundert Selbstmörder totenbeschaut. So wurde ich Zeuge der
Selbstmordepidemie unter den Deutschen in Brüx. Es war ein grauenhafter Totentanz, die
ungewohnte und massenhafte Totenbeschau erschütterte mich derart, daß ich am Abend
völlig erschöpft war. Den Höhepunkt dieser Massentotenbeschau bildeten die Massen- und
Reihenselbstmorde in den Monaten Juni/Juli, als ich in der Leichenhalle auf dem städt.
Friedhof einmal 16, einmal 21 Selbstmörder in einer Reihe nebeneinander liegen sah.
Persönlich ergriffen mich die Selbstmorde alter Freunde, welche ich unter diesen
tragischen Umständen wiederfand. Meinen Freund Koupa, mit dem ich durch Jahre im Luftbad
auf dem Schloßberg geturnt und gebadet hatte, fand ich in seiner Wohnung in der
Goethestraße mit seiner Freundin gasvergiftet. Meinen Freund Peil, bei dem ich alle meine
Bücher eingekauft hatte, fand ich in einem Haus auf der Josefpromenade mit
aufgeschnittenen Schlagadern und erhängt. Menschlich ergriffen mich am meisten die
Selbstmorde ganzer Familien, wobei mir jedesmal die Feierlichkeit und Gründlichkeit ihrer
Durchführung auffiel. In den ersten Tagen fand ich eine Familie in der Kirchengasse,
Mutter, Tochter und Söhnchen, gasvergiftet. Sie lagen nebeneinander auf dem Fußboden
hingestreckt, mit einer Decke zugedeckt, auf der Decke lag der zusammengeringelte tote
Dackel, die Tochter hatte ein Kreuz und das Bild ihres Liebsten auf der Brust. Die Familie
des Landesschulinspektors Mirschitzka fand ich in einer Scheune auf dem Schloßberg,
Vater, Mutter, drei Kinder und die Großmutter lagen auf dem Erdboden der Scheune in einer
Reihe nebeneinander hingestreckt, alle mit Schläfenschüssen, der Vater mit Mundschuß.
Der Vater hatte zuerst alle anderen mit Schläfenschüssen und zuletzt sich selbst mit
Mundschuß erschossen. Die Familie des Drogisten Kletschka fand ich in ihrer Wohnung in
der Seegasse, die zwei Kinder schwarz gekleidet und in ihren Betten aufgebahrt, Kreuz und
Blumen auf der Brust, die Großmutter ebenfalls schwarz gekleidet und in ihrem Bett
aufgebahrt, Kreuz, Bild und Blumen auf der Brust, der Vater zusammengekrümmt und
abgekehrt, über das Ehebett geworfen, die Mutter der Länge nach im Ehebett hingestreckt,
noch warm und den Revolver in der Hand, alle mit Schläfenschüssen. Die Mutter hatte ihre
Kinder, ihre Mutter, ihren Mann und zuletzt sich selbst mit wohlgezielten
Schläfenschüssen erschossen. In einem Haus in der Seegasse sah ich drei alte
Herrschaften, einen alten Herrn und zwei alte Damen, an drei Fensterkreuzen nebeneinander
hängen, den alten Herrn im schwarzen Gesellschaftsanzug in der Mitte, die alten Damen im
Schwarzseidenen zu beiden Seiten. Ärztlich interessierten mich die verschiedenen
Todesursachen der Selbstmorde, welche mir zu denken gaben. Ich habe in der ganzen Zeit
keinen einzigen Selbstmord durch Aufschneiden der Schlagadern gesehen, vielmehr hatten
alle den Versuch vorher wegen der Schmerzen oder des Blutverlustes aufgegeben. Die
Selbstmorde durch Erschießen blieben in der Minderzahl und traten nur in der ersten Zeit
auf, weil die Deutschen die Waffen abgeben mußten, sodaß sie später keine Schußwaffen
hatten. Auch die Selbstmorde durch Gas blieben in der Minderzahl und traten nur in der
ersten Zeit auf, weil die Tschechen später das Gas absperrten. Die weitaus überwiegende
Mehrzahl bildeten die Selbstmorde durch Erhängen. Dieser Totentanz der Erhängten war
furchtbar. Sie hingen an Baumästen, Dachbalken, Mauerhaken, Fensterkreuzen, Türstöcken,
sie schwebten frei in der Luft, berührten mit den Fußspitzen den Boden, knickten in den
Knien ein und knieten sogar. Das schien mir zuerst unglaublich, man sollte doch meinen,
wenn ein Mensch steht oder kniet, müßte es für ihn ein Leichtes sein, den Kopf aus der
Schlinge zu befreien. Aber er ist tatsächlich nicht mehr dazu im Stande, die Ursache ist
sofortige Ohnmacht, welche durch die Absperrung der Blutzufuhr zum Gehirn eintritt,
während der Erstickungstod durch die Abschnürung der Luftröhre sich erst nachträglich
einstellt. Da die Zahlen der Selbstmorde allgemein fantastisch überschätzt wurden, hielt
ich objektive Unterlagen für geboten und ließ durch einen deutschen Angestellten der
tschechischen Leichenbestattungsanstalt die Zahlen der Selbstmorde für die Monate
Mai/Juni herausziehen. Sie betrugen für jeden Monat 150. Nachdem die Stadt Brüx gegen
30.000 Einwohner hatte, wovon 20.000 Deutsche waren, ergibt eine einfache Rechnung, daß
die 300 Selbstmörder von den 20.000 Deutschen 1½ % ausmachen. Nach diesen Zahlen für
die ersten beiden Monate schätze ich die Zahl der Selbstmörder für Brüx im ganzen auf
600 bis 700, das sind über 3%. Diese Schätzung deckt sich mit den Zahlen, welche mir
später für den ganzen Sudetengau genannt wurden.
Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen. Überlebende kommen zu Wort.
Originalausgabe: Selbstverlag der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung Sudetendeutscher
Interessen, 1951
Einleitung und Bearbeitung von Dr. Wilhelm Turnwald