Die Sage vom Brünner Rade
In einem Torbogen des Brünner Rathauses hängt ein Wagenrad.

Die Sage meldet:
Vor vielen, vielen Jahren wanderte ein Wagnergeselle aus Eisgrub in Südmähren auf der Straße gegen Brünn. Dort hoffte er Arbeit zu finden. Es war ein heißer Sommertag, die Sonne drückte, der Durst war groß. Da hörte er eine Quelle rieseln, und als er sich zu ihr bückte, um seinen Durst zu löschen, gewahrte er im Straßengraben einen Mann, der nach seiner Meinung schlief. Als er aber näher trat, sah er zu seinem Entsetzen, daß der Mann tot war. Rasch entfernte er sich, er wurde aber von zwei zufällig des Weges kommenden Männern bemerkt; auch diese sahen den Toten und glaubten; daß der Geselle der Mörder sei. Sie liefen ihm nach, fesselten ihn, obwohl er seine Unschuld beteuerte, und brachten ihn nach Brünn vor den Rat der Stadt. Der Geselle wurde in den Kotter im rückwärtigen Teile des Rat hauses gesteckt und nach kurzem Prozeß zum Tode verurteilt. Alle Beteuerungen seiner Unschuld waren vergeblich.

Am Abende vor seiner Hinrichtung kam der Priester in seine Zelle, um ihn zu seinem letzten Gange vorzubereiten. Wieder beteuerte der Geselle seine Unschuld und erklärte sich bereit, sich einem Gottesurteile zu unterwerfen. Er wolle sich nach Eisgrub begeben, dort am Morgen einen Baum fällen, ein Rad verfertigen und es vor Abend nach Brünn vor das Rathaus bringen. Der Geistliche unterbreitete die Bitte und den Vorschlag des Verurteilten dem Rate der Stadt, und dieser stimmte zu, da er überzeugt war, daß ein solcher Vorschlag unmöglich durchgeführt werden kann. Am nächsten Tage wurde der Wagnergeselle aus dem Kotter geholt, zwei Büttel mußten ihn nach Eisgrub begleiten, damit er nicht vielleicht entwischen könnte.

Nach seiner Heimkehr fällte er am nächsten Tage am frühen Morgen einen Baum seines Gartens, zersägt ihn, spaltete ihn zu Scheiten und war so fleißig an der Arbeit, daß das Rad in kurzer Zeit fertig war. Rasch trieb er es mit der Hand gegen Brünn, so rasch, daß ihm die beiden Ratsknechte kaum folgen konnten. Es ging schon gegen Abend, als er in der Ferne den Spielberg erblickte. Die Kräfte schienen erlahmen zu wollen. Aber das gute Gewissen gab ihm neue Kraft. Er kam eben die Bäckergasse herauf, als der Torwächter das Brünner Tor schließen wollte. Rasch schlüpfte er noch ein und kam gänzlich erschöpft beim Rathause an, als eben der letzte Strahl der Sonne die Spitze des Rathausturmes vergoldete. Der Rat der Stadt, Schöffen und viel Volk der Stadt war herbeigeeilt und begrüßte den Gesellen, der durch seine Tat bewiesen hatte, daß er unschuldig des Mordes verdächtigt worden war. Die Unschuld hatte ihm übermächtige Kräfte gegeben. Der Wagnergeselle wurde sofort freigelassen, er fand bei einem tüchtigen Meister bald Arbeit. Der wirkliche Mörder wurde kurze Zeit darauf gefangen und seiner gerechten Strafe zugeführt.

Das Rad aber wurde zum ewigen Gedächtnisse im Torbogen des Rathauses aufgehängt.

H.

aus dem Brünner Heimatboten 1950 Heft 2 Seite 9