Verletztes Rechtsgut – verletzte Menschlichkeit
Die Beneš-Dekrete und ihre aktuelle europäische Relevanz aus österreichischer Sicht

Es ist noch nicht lange her, daß in Osterreich die sudetendeutsche Frage ein Thema ist. Jüngst legte der erst wenige Jahre alte Czernin Verlag in Wien einen handlichen Band mit dem Titel „Die Beneš-Dekrete“ vor, in dem sich in einer bunten Mischung Wissenschaftler, Politiker und Zeitzeugen aus verschiedenen Ländern zu diesem Komplex äußern. Die Herausgeber, Barbara Coudenhove-Kalergi und Oliver Rathkolb, beide aus Wien, saßen kürzlich im Sudetendeutschen Haus in München auf einem Diskussionspodium.

Barbara Coudenhove-Kalergi, Journalistin, stammt aus Prag, wurde von dort 1945 vertrieben und war in der ersten Hälfte der neunzigerJahre Korrespondentin des österreichischen Fernsehens ORF in ihrer Vaterstadt. Oliver Rathkolb, aus dem nördlichen Waldviertel, also von der böhmisch-mährischen Grenze stammend, ist als Historiker einer der Leiter des Ludwig-Boltzmanns-Instituts für Geschichte und Gesellschaft in Wien und wissenschaftlicher Leiter des dortigen Demokratiezentrums. Wie er sagte, wußte er von der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen und Mähren zuerst nur durch die Ordinationsaufzeichnungen seines Großvaters, der als Arzt im Grenzgebiet auf das Unmittelbarste mit dem Flüchtlingselend zu tun gehabt hatte.

Erst in den neunziger Jahren habe man in Osterreich das sudetendeutsche Problem wirklich zur Kenntnis genommen. Rathkolb nennt unter denen, die das Tabu brachen, Alois Mock, zwischen 1987 und 1995 österreichischer Außenminister, bevor die Freiheitlichen (FPÖ) unter Jörg Haider die Frage für sich entdeckten. Vor dem Hintergrund der ethnischen Säuberungen auf dem Balkan sei den individuellen Menschenrechten in der österreichischen Offentlichkeit eine größere Bedeutung als vordem zugemessen worden. Mit dem Abstieg der FPÖ sei aber, wie Barbara Coudenhove-Kalergi bemerkte, die Auseinandersetzung mit dem sudetendeutschen Thema wieder abgeebbt.

In der Podiumsdiskussion, die von Karl-Erik Franzen vom Collegium Carolinum allzu zaghaft geleitet wurde, ging es um die Frage, wie das sudetendeutsche Problem, gerade angesichts der derzeitigen Prager Intransigenz, einer Lösung zugeführt werden könnte, die der europäischen Wertegemeinschaft gerecht würde. Dabei wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß die menschenrechtswidrigen Beneš-Dekrete von 1945 fallen müßten.

Die beiden Wiener Gäste stimmten mit ihren Diskutanten Franz Neubauer, Staatsminister a. D. und ehemals Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, sowie Erich Sandner, einem aus Böhmen gebürtigen Augsburger SPD-Politiker, auch darin überein, daß von der Tschechischen Republik eine Entschuldigung gegenüber den Sudetendeutschen für das ihnen zugefügte Unrecht zu leisten sei. Es müsse „etwas mehr als eine Geste“ sein, meinte Neubauer. Es werde seitens der Sudetendeutschen „keine überzogenen Forderungen“ geben; man wisse, wie schwer es der tschechische Staat habe.

Während Neubauer das Gespräch der tschechischen Politik mit den Sudetendeutschen, das von Prag nach wie vor verweigert werde, als zur Konfliktlösung unentbehrlich anmahnte, meinte Rathkolb, eine bilaterale Lösung sei kaum möglich. Die Europäische Union (EU) müsse sich der Vertreibungsf rage annehmen – und zwar generell, nicht nur hinsichtlich der Sudetendeutschen, wogegen Sandner die Ansicht vertrat, die Europäisierung der sudetendeutschen Frage werde keinen Erfolg haben, denn um Werte habe sich die EU bisher nicht gekümmert, es sei ihr nur um Wirtschaftsfragen gegangen. Die sudetendeutsche Frage bleibe ein deutsch-tschechisches Problem. Rathkolb hielt dem entgegen, man habe im europäischen Rahmen Aussicht auf Erfolg, wenn man das Vertreibungsthema zum Gegenstand einer Diskussion in der Gesellschaft mache, der auch das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ dienen könne. Denn so werde Druck auf die Tschechische Republik oder auf andere Vertreiberstaaten ausgeübt. Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat müsse auch deshalb als ein europäisches Problem aufgefaßt werden, weil den Westalliierten der Sowjets im Zweiten Weltkrieg hierfür eine zentrale Mitverantwortung zufalle. Demgegenüber betonte Neubauer, daß die staatsrechtliche Verantwortung für die Vertreibung der Sudetendeutschen bei der Tschechoslowakei liege.

Übereinstimmung bestand in der Meinung, daß sich die sudetendeutsche Frage für die Tschechische Republik nach deren Eintritt in die EU nicht von selbst erledigen werde. „Das Ende der Debatte kommt nicht“, sagte Neubauer. Die „Verletzung des Rechtsgutes“, so Sandner, werde, wenn es zu keiner Regelung komme, „über die Generationen hinweg wirksam bleiben“.

Peter Mast (KK)

 

Als neuer tschechischer Präsident
hat Vaclav Klaus in einer Rede zum Gedenken an das Münchner Abkommen von 1939 ungewohnte Töne angeschlagen. Das aus jenen Jahren herrührende „Gefühl erlittenen Unrechts hat im Denken vieler Menschen bis heute überlebt. In der Tschechischen Republik und in Deutschland sollten wir fähig sein, zu sagen: Was geschehen ist, ist geschehen..., aber aus heutiger Sicht handelte es sich um unannehmbare Taten.“ (KK)

Aus der Kulturpolitischen Korrespondenz KK 1165 2003-03-30 Seiten 7 und 8