Die Sudetendeutschen im NS-Staat
Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938 – 1945).

Buchbesprechung von Friedrich Prinz. Entnommen der FAZ 177 Seite 8 von 2000-08-02

Beginn des Zitats aus der FAZ (Hervorhebungen bei der Abschrift eingefügt, Kursive im Original ML 2000-09-25):

In guten und in bösen Tagen verpflichtet
Die Sudetendeutschen im "Dritten Reich": Starke Ernüchterung folgte auf die Euphorie des Jahres 1938

Volker Zimmermann:
Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945). Veröffentlichung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, Band 9. Zugleich Veröffentlichung des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 16. Klartext Verlag, Essen 1999. 515 Seiten 48,– DM.

Um es gleich vorwegzunehmen: Sich mit diesem Buch eingehend zu beschäftigen, erfordert eine mühevolle, meist triste Lektüre. Dennoch bringt es wichtige Ergebnisse, die das bislang vorherrschende Schwarzweißbild sudetendeutscher Existenz unterm Hakenkreuz in sachlicher Weise und gründlich belegt differenzieren. Es trifft sich gut, daß 1999 auch Ralf Gebel seine gründliche Studie über Konrad Henlein und den "Reichsgau Sudetenland" vorgelegt hat, so daß jetzt zwei wichtige Werke vorliegen, die sich unter verschiedenen Aspekten mit demselben Thema befassen.
Ungeachtet mancher unvermeidbarer Überschneidungen bietet Zimmermann – grosso modo – den differenzierteren "Unterbau" zum Thema, während sich Gebel mehr dem politischen "Überbau", das heißt den konkreten Regierungsmaßnahmen, gewidmet hat. Beiden Bücherdfn darf man solide Quellennähe bescheinigen. Mit Recht weist Zimermann darauf hin, daß nach der kurzen Euphorie der "Befreiung" der Sudetendeutschen im Jahr 1938, die zum Eintritt von mehr als 500 000 Personen in die NSDAP führte, relativ rasch eine starke Ernüchterung über die Realität des NS-Regimes eintrat.
Der in Polizeiberichten immer wieder konstatierte Unmut weiter Bevölkerungskreise führte aber keineswegs zu einem effektiven Widerstand, denn er speiste sich aus sehr verschiedenen Ursachen. Zum einen war es die hohe Zahl und ebenso die durch Herrenmenschen-Ideologie verstärkte Arroganz der reichsdeutschen Beamten, die nun, unter teilweiser Ausschaltung einheimischer Kräfte, an die Stelle der höheren tschechischen Bürokratie getreten waren. Dies ging so weit, daß Konrad Henlein in öffentlichen Reden auf dieses Problem beschwichtigend eingehen mußte, obwohl er selbst und seine Parteifreunde von deser Invasion aus dem "Altreich" betroffen waren. Ebenso wurde die Auflösung traditionsreicher Vereine oder ihre Zwangsintegration in NS-Organisationen mißbilligt, da es sich oft um wichtige kulturelle Einrichtungen handelte. Unterschwellig spielte dabe wohl auch das anders geartete Kulturverständnis aus altösterreichischer Tradition eine Rolle, das die Sudetendeutschen bis 1918 nachhaltig geprägt hatte.
Wichtiger noch war allerdings der soziale Apekt der neuen Herrschaftsverhältnisse. Zwar kam es erwartungsgemäß aufgrund der Aufrüstung Deutschlands zu einem starken Rückgang der hohen Arbeitslosigkeit in den sudetendeutschen Gebieten, aber hohe Preise und vergleichsweise niedrige Löhne sowie schlechte Wohnverhältnisse führten zu einem merklichen Stimmungstief. Darauf mußte die Parteiführung in öffentlichen Reden ebenfalls reagieren. Mit Recht weist der Autor darauf hin, daß solche Mißstimmungen keineswegs zu einem wirklichen Widerstand führten. Konrad Henlein und die Partei suchten solchen negativen Meinungstrends mit dem propagandistischen Argument entgegenzuwirken, daß die Sudetendeutschen dem "Führer" "in guten und in bösen Tagen" verpflichtet seien; wobei letzteres nur allzu rasch eintreten sollte.
Sicherlich trifft es zu, daß sich die nationale Motivation beim Großteil der sudetendeutschen Bevölkerung – ein Erbe des vorausgegangenen "Volkstumskampfes" – auch unter den immer schwieriger werdenden Bedingungen des Krieges "systemstabilisierend" auswirkte, was verständlicherweise bei den Tschechen nicht der Fall sein konnte.Ob dies allerdings ausreicht, für die letzteren einen stärkeren Widerstandswillen zu postulieren, wie dies der Verfasser tut, muß bezweifelt werden. Das wenige, was er am Schluß eher pauschal vorbringt, vermag jedenfalls kaum zu überzeugen. Auch spricht die Lage im sogenannten "Protektorat Böhmen und Mähren", die weitgehend von einem vorsichtigen "Attentismus" des Großteils der Tschechen bestimmt war, gegen diese These. Aber das gehört als Gegenstand genauerer Untersuchung zu einer noch zu schreibenden sachlichen, alle ideologischen Tabus mißachtenden Geschichte der Protektoratszeit jenseits von fixer Verharmlosung wie pathetischer Ressentiments.
Überhaupt sollte man bei Vergleichen nicht die beträchtlichen Zahlen von sudetendeutschen Sozialdemokraten und Kommunisten außer acht lassen, die in deutschen KZs schmachteten oder zu vielen Tausenden ins Exil fliehen mußten. Dadurch war, von der Kirche abgesehen, das wichtigste Widerstandspotential vor Ort nur noch rudimentär vorhanden. Zweifellos war es aber so, daß die aus dem alten Volkstumskampf vor 1938 resultierende Gegnerschaft zwischen Tschechen und Sudetendeutschen dazu beitrug, die Loyalität zum NS-Regime zu stärken, obwohl es andererseits – wie der Verfasser mit Recht bemerkt – sehr unwahrscheinlich ist, "daß die Überzahl der Sudetendeutschen überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus waren". Der Krieg brachte es mit sich, daß sich die mentalen Unterschiede in den Reaktionen der Bevölkerung im "Altreich" unter dem Druck der Verhältnisse weitgehend verwischten; das legt der Verfasser überzeugend dar.
Das Sudetengebiet galt als "Luftschutzkeller des Reiches". Dennoch machte sich nach den Lageberichten des Regierungspräsidenten inKarlsbad und anderer Behörden der Stimmungsumschwung nach der Katastrophe von Stalingrad im "Reichsgau" in gleicher Weise wie überall im Reichsgebiet bemerkbar. Unsicherheit und Furcht vor tschechischer Rache griffen um sich. Dies eskalierte in den letzten Kriegsmonaten, als der Terror des Regimes sich zunehmend gegen die eigene Bevölkerung richtete. Hier erreicht die Darstellung des Autors aufgrund der erstaunlich reichen Quellenlage einen Höhepunkt und ein erschreckendes Finale. Weniger eindrucksvoll sind hingegen die Partien, die sich mit der internen Aueinandersetzungen der Gauleitung mit den Reichsbehörden, mit der SS und mit dem SD beschäftigen. Hier ist – vom Thema her verständlich – die subtile Darstellung derselben Sachverhalte bei Gebel genauer, vor allem, was die Ausschaltung der ehemaligen Mitgleider des "Kameradschaftsbundes" anbetrifft.
Insgesamt jedoch liegt ein wichtiges Buch vor, an dessen Ergebnissen keine Forschung über böhmische oder sudetendeutsche Geschichte vorbeigehen kann. Außerdem bietet Zimmermann eine materialreiche Fallstudie zu den Machstrukturen und den inneren Widersprüchen der NS-Diktatur. Nur am Schluß des Buches berichtet er eher pauschal und kaum überzeugend über den tschechischen Widerstand im Sudetenland.                   Friedrich Prinz.